Das Feuilleton will einen „Klimaroman“? Leonhard Hieronymi sucht lieber nach den Gräbern bekannter Schriftsteller*innen. Es ist nicht das erste Mal, dass er Erwartungen enttäuscht – und wieder hat es sich gelohnt. Sein Roman „In zwangloser Gesellschaft“ steht auf der Shortlist des Literaturpreises für „Magic, Pop und Ewigkeit“. Ein nicht ganz störungsfreies, weil immer mal wieder unterbrochenes (Handy-)Interview

0941mag: Hallo Leo!

Leonhard Hieronymi: Hi.

Ich bin durch mit deinem Roman. Und doch irgendwie nicht. Er lässt mich nicht so wirklich los. Wie geht’s dir damit?

Ich bin’ ihn nur losgeworden, weil ich gerade das nächste Buch veröffentlicht hab’: „Mostro“. Das kam vor ein paar Wochen raus und ist wieder so eine Reisegeschichte, diesmal mit meinem Freund Christian. Wir waren dafür neun Tage in allen 16 Bundesländern und haben versucht, so viel Pinocchio-Eisbecher wie möglich zu essen.

Pinocchio-Eisbecher?

Die sind eigentlich für Kinder und sehen auf der Eiskarte immer anders aus als gedacht und als sie dann in Wirklichkeit kommen. Dazu haben wir einen Bildband gemacht mit einem Journal und deswegen konnte ich den Roman vergessen. Ein bisschen zumindest. Wobei: Die Reise hab’ ich nicht vergessen. Das war noch so eine schöne Vor-Corona-Reise! Und ein Gejetsette, wo man sich zwei Jahre danach noch an den Kopf fasst: Boah, warum hat man das gemacht? Reisen ist ja eigentlich furchtbar und gar nicht zu ertragen. Schon dass man zum Flughafen muss … also, daran muss ich noch oft denken. Mit dem Thema des Romans dagegen, den Friedhöfen und so weiter, bin ich durch.

„In zwangloser Gesellschaft“ handelt von einem Trip kreuz und quer durch Europa zu den Gräbern bedeutender und weniger bedeutender Schriftsteller*innen. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Also, ich weiß noch, wann ich die Idee hatte. Es ging darum, dass ich für den Korbinian-Verlag ein neues Buch machen wollte und ich hab denen gesagt, ich arbeite eine Liste ab. Ich will 100 Schriftstellerinnen und Schriftsteller an ihren Gräbern besuchen und ich hör’ nicht auf, bis ich das geschafft hab’.

Du hast eine Liste gemacht?

Ich bin ein großer Listen-Fan! Wie Tex Rubinowitz und andere auch. Bei mir geht’s immer um Listen, Listen, Listen. Deswegen bin ich auch gleich am nächsten Tag, in Berlin, direkt aufn Friedhof und hab’ abgehakt, abgehakt, abgehakt. Aber dabei sind dann doch mehr Sachen passiert als gedacht. Und das war der Moment, in dem ich mich vom Listen-Gedanken verabschiedet habe –  weil mir klar geworden ist, dass das was Größeres ist. Ich hatte ja auch schon vorher immer wieder mal Gräber gesucht, nicht: besucht. Das dauert oft ziemlich lang und wenn man’s dann gefunden hat, hat es etwas Befreiendes und Schönes. Wobei: Am Grab selbst hab’ ich selten was gemacht. Da steht man nur und guckt und schaut sich’s an und verneigt sich. Dann geht man wieder.

Der Ich-Erzähler im Buch räumt ein, dass der Gedanke an den Tod in ihm „Furcht auslöst“. Es aber ist mehr das Vergessen, die langsam verblassende Erinnerung an Menschen und ihr Verschwinden, das dich beschäftigt hat, oder?

Ja, genau, der Tod ist viel weniger, ein viel kürzerer Moment als alles davor und danach. Und da war immer die Frage – selbst wenn jemand geschrieben hat und viel geschrieben hat und bekannt war – wie man sich an ihn erinnern kann. Der Hamburger Maler, Grafiker und Satiriker Heino Jaeger ist so ein Beispiel dafür, dass man am Ende oft nicht mal einen Grabstein hat. Das war … ja, nicht erschreckend, aber schon ein bisschen traurig. Einerseits. Andererseits ist es aber auch erleichternd, weil man sieht: Selbst die Großen werden irgendwie verbuddelt und sind nicht mehr auffindbar. Wie der Dichter Ovid. Also muss man sich darum auch keine Gedanken machen.

Das Verschwinden sei der wahre Luxus, heißt es im Buch. Wie meinst du das?

Ja, das ist vielleicht ganz interessant, im Anschluss an das, was ich gerade gesagt hab’, dass Verschwinden was Erleichterndes hat. Spuren zu verwischen wird ja immer schwieriger, seit es das Internet gibt. Ich hab’ erst gestern mit jemandem darüber geredet, dass Wolfgang Herrndorf seine Bilder in der Badewanne aufgelöst hat, in Terpentin, um nichts zu hinterlassen. Oder Terry Pratchett, der diese Scheibenwelt-Romane geschrieben hat und testamentarisch verfügte, dass die Festplatte seines Computers, auf der noch Roman-Fragmente drauf waren, mit einer Dampfwalze überfahren werden sollte. Günther Jauch hat Google viel Geld dafür gezahlt, dass die ein paar seiner Interviews löschen. Aber warum Verschwinden Luxus ist, war die Frage? Es ist erstens Luxus, weil man wahnsinnig viel Energie aufbringen muss, um wirklich zu verschwinden, oder eben Geld. Und zweitens ist das Verschwinden an sich ein Luxus, weil es etwas Meditatives und Reinigendes hat, wenn man weiß, man hinterlässt nichts oder nur wenig Spuren. Man muss auch nicht immer gleich sterben, um zu verschwinden. Aber schon das ist schwierig: Geh mal ohne Handy spazieren! Da telefonieren sie dir gleich hinterher: „Wo bist du?“ „Ich musste mal kurz verschwinden.“ „Ah, iss ja Luxus!“ Also, so hab’ ich’ es mir gedacht.

Friedhofsgänger #1: „… dann verneigt man sich und geht wieder“ / Foto: Ferdinand Hieronymi

Hast du den Roman auch für dich selbst geschrieben? Für den Autor Leonhard Hieronymi?

Ja, das ist dann aber … es hat schon auch was mit dem Verschwinden zu tun, ist aber nicht selbstlos. Denn auf Reisen schreibe ich prinzipiell alles auf, was passiert – aber nicht, um nicht vergessen zu werden, sondern, damit ich es selbst nicht vergesse und davon erzählen kann. Das ist auch so eine Neurose: Die Angst zu vergessen. Gedächtnisschwund infolge von – was weiß ich – zu viel Bier oder so. Deswegen führe ich auch Tagebuch. Ich muss immer alles aufschreiben, auflisten, was ich gesehen oder gehört habe, die Bücher, die ich lese, die Filme, die ich gucke. „In zwangloser Gesellschaft“ hätte auch „In zwanghafter Gesellschaft“ heißen können (lacht).

Gegen das Vergessen anzuschreiben könnte in deinem Fall eh schwierig werden, weil: Unernst steht dem Ruhm im Weg, was du am Grab von Robert Gernhardt ja selbst beklagst. 

Ja, das mit dem Humor ist schwierig. Das habe ich auf der Buchmesse gerade wieder gemerkt. Allerdings: Mein Roman ist gut getarnt. Das heißt: Wenn Leute ihn lesen, die keinen Humor haben, lachen sie auch nicht. Du kannst mit Humor schon ein Publikum finden. Aber das Verständnis bleibt irgendwie aus.

Nicht nur der Unernst, auch jede Form von Obsession gilt bei uns als verdächtig. Zitat: „Inzwischen hat auch Fassbinder mit dem Vergessen zu kämpfen, in Deutschland versucht man ihn (genauso wie andere manische Künstlerinnen und Künstler) aus dem kulturellen Gedächtnis zu verbannen“. Warum, glaubst du, ist das so? 

Ja, das ist ein ganz seltsamer Effekt, dass Humor und Obsession nicht funktionieren. Ich denke, Obsession macht vielen Menschen Angst, vor allem, wenn es um politische Obsessionen geht. Das kann ich verstehen. Warum die Obsession, das Manische und das geistig Kranke in der Kunst verpönt sind, weiß ich nicht. Möglicherweise spielt auch da die Angst eine Rolle, wobei das doch schön ist und meistens ungefährlich. Aber was ich echt nicht verstehe, ist das mit dem Humor. Dass man – schon wenn man nur an den falschen Stellen lacht – wie ein Paria behandelt wird. Keine Ahnung, worüber Armin Laschet damals im Ahrtal gelacht hat. Aber, dass man lachen muss und gleichzeitig was Anderes fühlt, Trauer zum Beispiel, das kennt doch jeder von sich selbst …

Friedhofsgänger #2: Der Preis ist Eis / Foto: privat

Apropos Trauer: Findest du es nicht strange, wie sich Städte mit Friedhöfen inszenieren? Du warst ja auch in München, auf dem Prominentenfriedhof in Bogenhausen, mit seinen Ewigkeitsgräbern für Helmut Dietl, Bernd Eichinger und Co. Wie wirkt das auf dich?

Der Bogenhausener Friedhof hat mich irgendwie ans P1 erinnert. Feiern und Sterben ist in München, glaube ich, generell was Exklusives. Aber es ist schon auch ein schöner Friedhof, vielleicht der schönste der Stadt, sehr klein, eigentlich nur so ein Kirchhof. Als ich da war, waren nur noch ein oder zwei Grabstätten frei. Da kann halt auch nicht jeder hin (lacht).

Genau: Jörg Fauser zum Beispiel liegt far out auf dem Ostfriedhof. Aber Fauser hat ja auch die ersten 20.000 Wörter seines unvollendet gebliebenen letzten Romans nicht Patrick Süskind, sondern Charles Bukowski zum Gegenlesen vorgelegt … und sich damit in München zum Outlaw gemacht?

Mindestens! Mindestens! Fauser war ja für die Literatur, was Fassbinder für den Film gewesen ist. Er hatte auch was Exzessives. Obsessives. Und wie man sehen kann, ist der Effekt derselbe. Zwischen dem gutbürgerlichen, also gesellschaftlich tolerierten Exzess und dem Outlaw-Exzess wurde immer schon fein unterschieden. Wenn man zum Beispiel mit der Politik feiert, ist man sofort wieder dabei und bekommt ein Ehrengrab. Wenn man dagegen Heroin nimmt und mit Bukowski in L.A. feiern geht, fühlen sich der eine oder die andere hier schon ausgeschlossen – und du kriegst keine Ehrenplakette mehr ans Grab.

Am Ende ist Fauser dann ja auch mitten auf der Autobahn aus dem Taxi gestiegen und vor einen LKW gerannt. Glaubst du, dass er verschwinden wollte?

Glaube ich nicht, denn er hatte ja für den nächsten Tag schon einen Massagetermin. Wobei, na gut, das ist kein Grund, um nicht verschwinden zu wollen. Aber man unterschätzt manchmal die Schwermut von Menschen im betrunkenen Zustand. Das ist ja auch etwas, vor dem die Leute Angst haben: Gefühle, die aufkommen, wenn man betrunken ist. Vielleicht kommt’s da zu ner Situation, wo man denkt: „Ah, der Laster! Der kann mir nichts anhaben.“ Oder: „Es wäre schön, wenn ich mich jetzt erlösen könnte von allem!“ Solche Gedanken hat man in dem Zustand vielleicht. Ich würde gern mal die betrunkenen Gedanken anderer haben, um zu sehen, wie das ist.

„In zwangloser Gesellschaft“ ist ein Roman, jedenfalls steht das auf dem Buch so drauf. Man kann das Buch aber auch als Beschreibung eines Ausflugs mit Freund*innen lesen, oder?

Genau, das ist die Doppeldeutigkeit des Titels „In zwangloser Gesellschaft“, dass die Gesellschaft, die ich mir ausgesucht hab’ für diese Reisen, so eine zwanglose ist – und gleichzeitig ist man auf einem Friedhof natürlich in noch zwangloserer Gesellschaft, weil einem gar nichts abverlangt wird, wenn man sich zwischen Toten bewegt. Es sei denn, man geht das Ganze esoterisch an. Oder man beschwört diverse Geister, aber da geht es, glaube ich, immer nur um einzelne, es fliegen nicht immer alle auf einmal auf einen zu. 

Ghostbuster in Sibiu, Rumänien / Foto: Philipp Levinger

Wir waren bei deinen Freund*innen – Leuten wie Maria, die sich im glutheißen Brandenburg tagelang von Mücken zerstechen lässt, nur, weil du unbedingt noch das Grab eines DDR-Kinderbuchautors finden willst. Das macht nicht jede(r) mit, oder?

Ja, das stimmt, aber das ist dann wieder die Obsession! Wenn du die Obsession pflegst und im Freundeskreis vorträgst, dann ist sie leichter verständlich als wenn du sie in Buchform packst und der Kritik zum Fraß vorwirfst. Deswegen haben die auch alle mitgemacht, weil sie wussten was ich vorhabe. Ich hab’s ihnen erklärt. Und am Ende haben sie es mehr als Abenteuer empfunden. Und als lustig. Denn oft ist es ja mitten im Alltag passiert, dass wir gesagt haben: „Komm, wir fahren zum Friedhof, suchen dieses und jenes Grab!“ Das war eine schöne Abwechslung. Und hat nichts Böses …

Nein, im Gegenteil, sogar eine überraschende Leichtigkeit und deshalb mochte ich auch Flexi – wenn er mal eben den Ohlsdorfer Friedhof im Netz von fünf auf drei Sterne downgradet, weil hinter Helmut Schmidts Grab nicht die versprochenen Mentholzigaretten liegen …

Sagst du, aber da ist bei golocal.de eine richtige Diskussion daraus entstanden! Sie haben Flexi unter anderem einen gedanklichen Tiefflieger genannt …

Ana und Leon haben mit dir in Prag nach dem Staub des Golem gesucht, Marius und Pascal am Eingang zur Hölle, in den Ruinen der Totenstadt Tomi am Schwarzen Meer, das Grab des Ovid. Beides ohne Erfolg. Wie hast du die für dein Projekt gewonnen? Und wie habt ihr die Enttäuschung verdaut?

Bei den Reisen ins Ausland war’s natürlich nochmal was Anderes, aber auch da hab’ ich nicht viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Alle vier hatten Lust darauf. Vor Ort, wenn man dann irgendwie verloren gegangen ist auf der Suche, habe ich mir aber schon auch Vorwürfe gemacht. Denn dass man zum Beispiel am Samstag nicht auf einen Jüdischen Friedhof kommt, hätte ich ja vorher wissen können. Da taten mir die anderen dann leid.

Ich hab bei Flexi und Co. sofort an die Rich Kids of Literature denken müssen, das Literaturkollektiv, das du vor ein paar Jahren mitgegründet hast. Falsche Fährte?

Ja, weil die waren tatsächlich kein einziges Mal dabei! Die Clique. Die kommt im Buch auch gar nicht vor. Wir haben uns nicht oft gesehen in den letzten zwei Jahren und die letzte gemeinsame Lesung, die wir hatten, in Hamburg, war Anfang 2019. Wir haben uns quasi aufgelöst. Also, die anderen sagen, wir haben uns nicht aufgelöst. Ich sage, wir haben uns aufgelöst. Außerdem sind wir meiner Meinung nach aus dem Kids-Alter raus. Deshalb ist es auch schwieriger geworden, zu Viert zusammen zu arbeiten, als Kollektiv. Aber noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. 

Wenn wir von den Rich Kids of Literature reden, müssen wir auch über „Ultraromantik“ sprechen. Handelt es sich bei deinem Buch noch um einen ultraromantischen Roman?

Schon! Es ist ja kein Zufall, dass sich die Cover von „Ultraromantik“ und „In zwangloser Gesellschaft“ vom Layout her ähneln – beide Male der schwarze Kasten, einmal mit dem weißen und jetzt mit einem bunten Rahmen drumherum. Es geht im Roman quasi um die Dekonstruktion der ultraromantischen Gedanken. Die kommen darin zwar noch vor:  Elemente des Romantischen, Todessehnsucht usw., was man halt so kennt. Trotzdem ist es sicherlich enttäuschend für Leute, die zu 100 % erwartet haben, was in der „Ultraromantik“ gefordert wurde …

Und doch sagst du, es ist ein ultraromantischer Roman. 

Also, was gefordert wurde und was auch umgesetzt worden ist im Roman, ist die Schnelligkeit. Das habe ich versucht. Ich hab’ versucht, möglichst schnell zu schreiben, das Buch schnell zu machen, mich auch in der Handlung nicht mit Details aufzuhalten. Das ist eines meiner Hauptanliegen, die Geschwindigkeit – was mir oft falsch ausgelegt wird und mir den Vorwurf eingebracht hat, ich kopiere nur das erste futuristische Manifest von Marinetti. Mir geht’s eher um den Gedanken der Akzeleration, es geht ums Beschleunigen und damit um das Überwinden von herkömmlichen Erzählformen. Das ist auch eines der Hauptanliegen der Ultraromantik. Und für mich nach wie vor eines der wichtigsten. 

„Ultraromantik“, das Manifest, ist 2017 erschienen. War es notwendig oder verwegen, sich als junger Autor so zu exponieren?

Ich wollte den Text erst gar nicht als Manifest herausbringen. Das hat der Korbinian Verlag so gemacht wie Hoffmann und Campe jetzt bei „In Zwangloser Gesellschaft“  Roman drunter geschrieben hat. Durch diese verkaufstechnischen Kniffs sind die größten Fragen entstanden – und da komme ich dann als Autor immer in Erklärungsnot. Denn „Ultraromantik“ war von mir eigentlich essayistisch gedacht. Als Spielerei. Es sollte auch lustiger sein als es empfunden wurde, gleichzeitig aber nicht ironisch. Dass es funktioniert hat, ist für mich ein Wunder.

Es geht eben nichts über gute PR … nein, im Ernst: Braucht’s so eine Positionsbestimmung, wenn man heute als Jungautor*in wahrgenommen werden will?

Glaube ich nicht. Vielleicht ist es sogar schlauer, wenn man vorher gar nicht drüber redet. Das ist, glaube ich, bei allem, was man machen kann, die bessere Möglichkeit: Nicht drüber reden! Machen!

Umgekehrt werden gerade jetzt wieder Forderungen an die Gegenwartsliteratur gestellt, wie sie sein soll und um welche Themen sie sich kümmern soll – zum Beispiel um die Klimakrise. Autor*innen vorzuschreiben, worüber sie zu schreiben haben: Hat’s das eigentlich immer schon gegeben oder ist das neu?

Also, seitdem ich schreibe, gibt’s solche Forderungen. Manche fordern mehr Fiktion, manche mehr Utopie. Die einen wollen mehr realistische Texte, die anderen Texte über Klimaschutz und wieder andere Texte über die Finanzwelt. Jeder, was er gern lesen will. Aber ob fiktive Texte zum Thema Klimawandel jetzt wirklich Sinn machen? Da hält man sich doch besser an die Sachliteratur. Oder liest sich den aktuellen Weltklimabericht mal durch. Das macht vielleicht mehr Sinn als ein Roman von … weiß nicht, Juli Zeh? Juli Zeh, Roman über Klimaschutz, also bitte, kann sie gern machen! 

Ich finde ja sowieso, du hast mit deinem Roman eine sehr selbstbewusste und elegante Antwort auf solche Forderungen gegeben. „In zwangloser Gesellschaft“ funktioniert ja auf verschiedenen Ebenen, einige haben wir schon angesprochen, aber man kann den Roman auch als Dystopie lesen. Trockenheit, Dürre, die Warnsignale des Klimawandels, ziehen sich wie wie ein böses Grundrauschen durchs ganze Buch. Und das ist kein Zufall, nehme ich an, sondern es steckt auch eine erzählerische Absicht dahinter? 

Das war ein Motiv, das wollte ich durchziehen … aber, ja, stimmt! Ich hab’ ja einen Klimaroman geschrieben. Klar! Über verdorrte Friedhöfe. Das war im Sommer 2018 und 2019, als der Roman entstand, aber auch wirklich extrem und für mich beängstigend. Das Wetter. Ich schreib’ da gern drüber und red’ auch gern drüber. Einer meiner besten Freunde hat das studiert und forscht dazu. Und ich find’ das sehr interessant und die Entwicklung macht mir Angst.

Das merkt man dem Roman auch an: Man ahnt, dass es irgendwann schwierig werden könnte, Menschen „aus Wasser und Lehm zu erschaffen“, wenn es kein Wasser mehr gibt. Wenn irgendwelche Schwämme die Meere ausgetrunken haben und fiese, unsterbliche Kreaturen wie die Qualle Turritopsis dohrnii selbst noch die letzten Tropfen aus den Boden saugen. Was hast du genommen, bevor du das geschrieben hast? Oder gibt’s das Vieh tatsächlich?

Ich hab’ das in der New York Times gelesen und auch danach ist mir diese Qualle noch ein paar Mal übern Weg gelaufen. Zum Beispiel in einem Text von Enis Maci. Und da dachte ich so: Hab’ ich ihr das erzählt? Hat sie’s mir geklaut? Oder hab’ ich es vorher schon jemandem geklaut? Es war nämlich so: Meine Mitbewohnerin damals ist extra nach Japan geflogen und hat den Wissenschaftler, der zu dem Thema Unsterblichkeit dieser Qualle forscht, gesucht. Die hat den gesucht wie ich meine Friedhöfe und Gräber gesucht hab. Sie hat ihm vor seiner Haustür aufgelauert, stand vor ihm und hat gefragt, ob sie Fotos von ihm machen darf – und wie die Japaner nun mal angeblich so sind, hat er sie aufgenommen in seine Familie für ein paar Tage. Die dachten wahrscheinlich, sie sei ein bisschen verwirrt und man müsse sich um sie kümmern. Sie hat dann aber tatsächlich eine Fotostrecke gemacht zu dem Thema. Und über sie kam ich, wahrscheinlich, auf diese Qualle. Parallel habe ich damals aber auch Italo Calvinos „Cosmicomics“ gelesen und in einem dieser Texte gab es das Motiv, dass eine Qualle oder ein Schwamm die Welt austrinkt … ich hab natürlich die beste Droge genommen, die es gibt: die Literatur (lacht)

Auch wenn wir alle verschwunden sind, muss das nicht das Ende sein. Es gibt ja noch die Theorie der Ewigen Wiederkehr. Im Roman begegnet Nietzsche Stephen King, seine Theorie trifft auf die Untoten vom „Friedhof der Kuscheltiere“ und das vorläufige Schlusswort – an der Stelle – haben die Ramones: „I don’t wanna be buried in a pet cementary, I don’t want to live my live again!“ Der Ultraromatiker Hieronymi – ein Popliterat?

Tja, man ist schnell Popliterat, wenn man Songtexte zitiert oder Bands … aber ich bin ja jetzt auch nominiert für den neu geschaffenen Magic, Pop und Ewigkeits-Preis und das gefällt mir wirklich gut, weil es schon im Titel die Popliteratur weiterdenkt. Normal, im Feuilleton und in der Kritik, klingt das immer so als sei Popliteratur was Schlechtes bzw. etwas, was man nicht weiterdenken kann. Das hab’ ich nie verstanden. Warum muss Popliteratur beerdigt werden? Warum nutzt man nicht die Möglichkeiten des Genres und die Instrumente – eben zum Beispiel die Magie und den Faktor Ewigkeit? Das waren bisher keine Themen der Popliteratur!

Ewigkeit passt im Kontext deines Buchs ja wirklich gut: Man bleibt eingesponnen in den Roman und holt sich Trost, ausgerechnet, am Grab von Hubert Fichte: „Ich war ein Junge, ein Mädchen, eine Pflanze, ein Vogel und ein Fisch, der aus dem Meer gesprungen ist … so ähnlich“. Wie herrlich ist das denn?

Ist doch wahr! Man kann in Gedanken alles sein: Junge, Mädchen, Vogel, Fisch, wenn man schreibt. Aber ich glaube, auch wenn man nicht schreibt, kann man alles sein. Davon handelt mein nächstes Buch: „Trance“. Da geht es um die Frankfurter Techno-Szene Ende der 1980er, Anfang der 1990er-Jahre und ich versuch mich da in diese Szene hinein zu versetzen, obwohl ich sie nicht live mitbekommen hab’, nur am Rande oder ich war zu jung. Trotzdem funktioniert’s. Man kann in Gedanken auch ein Raver aus den 90ern sein! In der Fantasie kann man alles sein. Alles ist gut!

Die Nacht ruft … im nächsten Buch sind wir Raver, verspricht Hieronymi / Foto: Laila Kaletta
Leonhard Hieronymi wurde 1987 in Bad Homburg geboren, studierte Philosophie, Informatik und Europäische Literatur in Berlin, Mainz und Wien und ist  Gründungsmitglied des Literaturkollektivs Rich Kids of Literature. Er schreibt unter anderem für die SZ, Die Zeit, Das Wetter und Metaphormosen. 2017 erschien sein umstrittenes Manifest „Ultraromantik“. Die darin abgedruckte Kurzgeschichte „Formalin“ wurde von der SZ  als „beste deutschsprachige Kurzgeschichte des Jahres“ geadelt. „In Zwangloser Gesellschaft“ ist Hieronymis erster Roman. Im Juni 2020 las er daraus beim Bachmannwettbewerb in Klagenfurt