Wenn Remigration der Wahlkampfschlager der Rechten ist, was bedeutet es dann, wenn der Sozialdemokrat Olaf Scholz sagt, wir müssten „endlich anfangen, im großen Stil abzuschieben“? Kann man noch Union wählen, wenn Friedrich Merz in weniger kontrollierten Momenten eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD „auf kommunaler Ebene“ nicht ausschließt? Bestseller-Autor Timur Vermes („Er ist wieder da“) sagt, er kriegt die Krise, wenn er sieht, wie sich bürgerliche Milieus in Deutschland den Rechten andienen. Ein Interview

Als wir kurz nach Erscheinen Ihres ersten Romans („Er ist wieder da“), mal zusammen gesprochen haben, weiß ich noch, dass ich mich über Ihre Chuzpe gewundert habe. Ich dachte: Wie muss man gestrickt sein, um sich so ein Buch überhaupt zu trauen?

Timur Vermes: Naja, erstmal habe ich das Buch ja nur für mich geschrieben, weil nicht klar war, ob irgendjemand es veröffentlichen würde. Insofern hatte ich nicht gleich die Schere im Kopf. Ich hatte keine Berührungsängste und keinen Rechtfertigungsdruck. Der Punkt war eigentlich nur: Macht’s mir Spaß oder nicht – und wenn’s mir keinen Spaß macht, höre ich damit wieder auf. Es hat dann aber Spaß gemacht!

Mit Hitler?

Ich weiß, es gibt diese Mechanismen, die einem sagen: Das geht nicht, das kann man nicht machen und das auch nicht. Nur wenn man die Leute dann fragt: Warum nicht? Aus welchem Grund? Dann fällt das relativ schnell in sich zusammen. Bestimmte Dinge kann man sehr wohl machen: Wenn ich ein Buch habe, in dem Hitler in der ersten Person spricht, kann ich den alles sagen lassen, was er wirklich gesagt hätte – weil ich ihn eben nicht verharmlosen will. Deshalb muss ich auch in seinem Duktus und in seiner Denke bleiben. Der Fehler wäre, du entfernst dich von ihm und biegst ihn dir zurecht, wie du ihn brauchst Das gilt nicht. Das würde man dir zu Recht um die Ohren hauen.

Ich weiß noch, wie ich erschrocken bin, als Sie erzählt haben, dass Sie während des Schreibprozesses im Grunde 24/7 damit beschäftigt waren, sich in Hitler hinein zu versetzen: Ob und wie er sich mit dem Deutschland der Gegenwart arrangieren würde, wer und was ihm gefallen könnte, was auf der Stelle ausgemerzt gehört …

Ja, so denkt der halt und so hab’ ich’s aufgeschrieben. Aber das heißt ja nicht, dass ich toll finde, was er sagt! Ich kann mir bestimmte Dinge vorstellen, die in seinem Kopf so zusammengehen, aber deswegen kapern die mich ja nicht. Oder hätten Sie das befürchtet? Und wenn ja: Welche Ängste haben wir denn davor? Die Hauptangst, die wir haben – die viele haben, hoffe ich mal! – ist, dass das wiederkommt. Aber doch nicht aufgrund von Magie. Sondern weil es plötzlich Leuten schlüssig erscheint.

„Er ist wieder da“ von 2012 und der Nachfolger „Die Hungrigen und die Satten“ von 2018, in dem sich eine halbe Million Flüchtlinge aus Afrika auf den Weg nach Deutschland machen, bündeln gewissermaßen die German Angst unserer Tage – nämlich wie ein Zuviel an Zuwanderung rechten bis rechtsextremen Parteien zur Macht verhelfen könnte. Sind Sie sowas wie eine moderne Kassandra?

Nein. Bei „Er ist wieder“ denke ich war’s Zufall, dass ein Phänomen aufgedeckt wurde – um das sich aber keiner gekümmert hat. Wenn zwei Millionen Leute ein Buch kaufen, in dem Hitler in der ersten Person spricht, und der Großteil findet’s lustig und hätte gern noch einen zweiten Teil, könnte man ja mal fragen, woher das kommt. Ich meine: Wir haben hier im Prinzip einen Versuch mit Millionen Teilnehmern. Aber das hat niemanden interessiert. Nie wollte auch nur ein Journalist wissen: Was geht eigentlich in diesen Lesern vor? Ich bin kein Soziologe. Aber das ist klassischer Medienstoff! Habe ich damals gesagt, sage ich gern nochmal: „Fifty Shades Grey“ war der Aufreger von der „SZ“ bis zum Boulevard nach dem Motto: „Huch, was geht denn da in unseren Frauen vor? Wollen die geschlagen werden oder was?“ Nichts davon bei „Er ist wieder da“ …

„Die Hungrigen und die Satten“ ist fast noch beängstigender als das Hitler-Buch!

Das Migrationsproblem kann man halt nicht verdrängen. Und auch nicht ignorieren. Wer Nachrichten schaut, sieht, was in der Welt vor sich geht, welche Panik wir haben, dass es niemanden gibt, der dieses Problem sinnvoll, nachhaltig, konstruktiv angeht. 2015 ist alles nochmal gut gegangen. Aber die nächste Flüchtlingskatastrophe kommt bestimmt! Und wer freut sich drüber? Die Rechten! Um das vorherzusagen, muss man kein Prophet sein. Und mir war auch schon beim Schreiben des Buches klar: Bis ich fertig bin, kriegt die Politik das Problem nicht gelöst.

Ich dachte, wir müssen nur „endlich anfangen, im großen Stil abzuschieben“?

Genau (lacht)! Um wieviele Menschen geht es da? 600? Nein, durch die Bank ist allen klar, dass niemand bereit ist zu sagen: „Wir nehmen das jetzt mal ordentlich in die Hand und zwar nicht das Abschieben, sondern das Integrieren!“ Es gibt da diesen Vorschlag in meinem Buch: Wir holen die Menschen hierher. Du gehst pro Jahr als Land oder Kommune an deine Leistungsgrenze, sorgst für Arbeitsplätze, eine Schulungsindustrie, und schon ist das Problem nur noch halb so großund du verdienst sogar noch dran: Steuern, Rente, Wohlstand. Was macht das Problem denn so groß? Dass Aufnahmekapazitäten zurückgefahren wurden und deshalb nun leider schon wieder die Turnhallen voll sind.Tja, kein Wunder! Wenn aber jeder Bürgermeister weiß: Ich krieg’ bald 500 Flüchtlinge oder 1000, da gehe ich zu dem und dem Amt, die warten da schon auf mich und stellen die Kapazitäten bereit plus Hilfskräfte, Deutschlehrer usw., dann ist es plötzlich kein Problem mehr. Und der Sportclub kann wieder in seine Turnhalle!

Millionen Deutsche sind zuletzt für eine bunte Gesellschaft, gegen die Remigrationspläne von Neonazis und AfD auf die Straße gegangen. Umfragen zeigen, dass die Überfremdungsnarrative der Rechten in der Bevölkerung nicht verfangen – trotzdem geht die Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen, zurück. Was ist da los?

Das frage ich mich auch! Warum klappt das so gut mit den Demos gegen Rechts und so schlecht mit der Umsetzung in demokratische Ergebnisse? Der Punkt ist, glaube ich, dass sich etwas geändert hat, nämlich dass die Verteilungskämpfe angefangen haben! Wir stellen fest, dass das Modell der Welt, das so lang so wunderbar funktioniert hat – für uns! -, so nicht mehr funktionieren wird. Die Zeiten sind vorbei, in denen man die Leute mit Geld trösten konnte. Das Geld wird knapp, die Gleichung Demokratie = Wohlstand = Hurra! geht nicht mehr auf. Mit anderen Worten: Man muss jetzt Demokrat sein, obwohl es sich nicht mehr so offensichtlich lohnt. Und dann sind da noch die, die behaupten: „Du kannst reich bleiben, indem du jetzt einfach die Zäune hochziehst und so tust als würde um dich herum nichts passieren. Hock dich auf deinen Geldschatz und verteidige ihn, dann bleibt alles wie es war!“ Der Gedanke hat natürlich etwas Verführerisches …

Man muss sich auch verführen lassen!

Naja, wie begeistert sind die Leute denn davon, dass sie demnächst vielleicht nicht mehr so oft in den Urlaub fliegen sollen? Wie begeistert sind wir alten weißen Männer zu erkennen, dass wir unsere Privilegien wahrscheinlich abgeben müssen? Blöderweise? Natürlich können wir sagen, wir haben die relativ lang gehabt, das war schön – auch, als man noch nicht so alt war! Aber was machen die jungen, künftigen alten weißen Männer, die feststellen, dass sie diese Privilegien alle nicht mehr kriegen werden? Das ist für die keine schöne Mitteilung! Und die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Ich glaube, dass wir uns als Gesellschaft momentan in einer Situation befinden, wie man sie aus der Trauerbewältigung kennt. So dieses Muster: Shock-Anger-Denial-Acceptance. Und viele sind gerade in der Denial-Phase. 

Wie kommen wir da raus? 

Die Shock-Anger-These hat Vorteile. Die Betroffenen bestreiten es zwar, aber tatsächlich sind sie bereits in der Verarbeitung des Traumas.

Und die Rechten halten in der Zwischenzeit schön still? 

Der Punkt ist: Es geht nicht nur darum, dass wir uns alle zusammenfinden müssen für die Demokratie, wer ist dafür, wer ist dagegen? Genauso wichtig ist, dass wir einander als Demokraten nicht ständig diskreditieren. Da muss ich auch als Union sagen: „Okay, das mit dem Klima, das wird schon so einige Folgen haben, da kann ich die Grünen nicht ständig als verbohrte Ideologen und Verbotspartei abwatschen.“ Es muss klar sein, dass bestimmte Dinge wahr sind und andere nicht. Ich verstehe, dass es für Union nicht einfach ist, wenn die Rechten die ganzen Heilversprechen okkupieren, indem sie den Klimawandel komplett leugnen – während die Realität leider mehr zum Markenkern der Grünen passt. Aber: Shit happens! Da brauchst du eben gute Ideen!

Die Soziologin Katharina Warda aus Sachsen hat die Ost-CDU genau darauf abgeklopft, mit alarmierendem Ergebnis. Die Partei, so Warda, „versucht mit Parolen aus der Rassismus-Grube der AfD Wähler abzujagen, was nicht gelingt. Andererseits verschiebt sie dadurch Themen und Stimmung nach rechts und sorgt für ein Klima, in dem es leichtfällt, rechts zu wählen.“

Der Klassiker! Nazis sind schlimm. Aber die Schlimmsten sind die „Ermächtiger“.

Sie meinen, es wäre nicht das erste Mal, dass Konservative die Architektur einer deutschen Demokratie zum Einsturz bringen?

Das ist das Einmaleins der Geschichte, 1933 ff. reloaded, aber spielen wir’s doch mal durch! Angenommen, die AfD würde tatsächlich bei den anstehenden Wahlen in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen in einem der Länder bei 30 Prozent plusminus landen, braucht sie jemanden, der ihr zur Macht verhilft. Das könnten die Nasen von der FDP in Thüringen sein, wo dieser Herr Kemmerich sich ja schon mal mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen wollte. Und sonst? Die Grünen werden’s nicht sein, die SPD wird’s nicht sein, Die Linke ist inzwischen zu klein. Bleiben nur die Konservativen!

Wie’s dann weiterginge, haben Sie CDU-Chef Friedrich Merz in einem Offenen Brief schon mal beschrieben: „Ihre Parteifreunde wollten die AfD einhegen und absichern, und wenn sie irgendwie unkontrollierbar würde, dann würde man die Reißleine ziehen. Ein wasserdichter Plan, selbstverständlich. Bis auf die Sache mit der Unkontrollierbarkeit:  Wer hätte gedacht, dass sie bedeutet, dass man etwas nicht mehr kontrollieren kann?“

Ich weiß nicht, was sich die CDU denkt, wenn sie andauernd nach rechts schielt: Wohl sowas wie „Das ist Fleisch von unserem Fleisch, das ist im Grunde unsere Sorte, im Grunde sind die gar nicht so? Wenn die erst an der Macht sind, kriegen sie sich schon ein?“ Diese Leute rechnen einfach nicht damit, dass Nazis sich die Macht holen, um sie zu behalten. Und dann alles beseitigen, was irgendwie stört – auch die Leute, die ihnen die Hand reichen.

Irgendeine Art Feedback von Merz bisher?

Nein. Null. 

Man hört jetzt oft, man müsse die AfD „argumentativ widerlegen“. Was halten Sie davon?

Nichts! Wie kämen wir denn dazu? Wann hat das denn das letzte Mal funktioniert? Mit welchen Argumenten wurden denn die Nazis widerlegt? Wenn wir diskutiert hätten: Noch 1944 hätte sich nichts geändert! Letzten Endes haben die Sieger diesen Staat abgeschaltet, die Partei verboten und anschließend mit den Nazi-Unterstützern, die noch da waren, weitergemacht. Die durften das Wirtschaftswunder mitgenießen und dann waren sie ruhig. Schön! Das reicht mir! Mehr erwarte ich von Mitläufern nicht. Die müssen nicht überzeugt werden. Wegen mir müssen die nicht gendern und auch nicht vegan leben. Es reicht völlig, wenn sie die Vorteile mitnehmen und nicht den ganzen Laden an die Wand fahren. 

Im Moment sieht’s so aus als hätten wir begriffen, dass nicht die Demokratie uns schützt, sondern dass wir die Demokratie schützen müssen. Ist das nicht ein ermutigendes Signal?

Diese Demonstrationen gegen Rechts sind ein super Signal! In jeder Hinsicht. Sie zeigen zum Beispiel auch, wo es für die demokratischen Parteien Stimmen zu holen gäbe. Nur dass die’s halt nicht kapieren oder kapieren wollen. Ich war in München auf der Demo, die dann wegen Überfüllung abgebrochen wurde. Wunderbar! Vier Tage später sehe ich vorm Residenztheater eine Parade von wirklich sämtlichen Irren, den Impfgegnern, den Pegida-Hanswursten, den Putin-Freunden. Ein dünnes Häuflein von vielleicht 500 Leuten – ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man als Partei auf die Idee kommen kann, diese verstrahlten Randgruppen sind meine Zukunft. Da sahne ich doch lieber mit vollen Händen bei den Anderen ab! Aber, was stelle ich fest?

Ja?

Die Union hat’s immer noch nicht begriffen. Es ist unglaublich: Auf der Straße zeigt sich, wie viele Leute du tatsächlich bewegen kannst. Aber die Parteien glotzen weiter stur ins Internet und darauf, wer wo einen Shitstorm organisiert. Ja, wenn du diesen Shitstorm auf die Straße holst, dann sind das diese 500 Leute mit dem Schild! Und ich denk’ mir: Wie könnt ihr das nicht sehen? Aber ich sehe ja auch, dass eine FDP die ganze Zeit dabei ist, sich von vier auf drei Prozent zu arbeiten, um dann festzustellen: „Hm, das funktioniert noch nicht so richtig. Ich glaube, wir machen das, was wir bisher falsch machen, noch nicht konsequent genug!“ Okay, wenn das deren Schlussfolgerung ist, wundert’s mich auch nicht, dass die noch immer glauben, sie müssen die von den Rechten hoch gekochten Probleme für besonders wichtig halten!

Im Brief an Friedrich Merz klingen Sie oft sarkastisch, ein Satz fällt ziemlich oft: „Hat man ja nicht ahnen können …“ Gerade wirken Sie eher zornig auf mich. Sind Sie’s?

Das wollen Sie nicht wissen …

Doch!

Mir geht’s grad wie Max Liebermann: „Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen möchte.“

Timur Vermes, Jahrgang 1967, gebürtiger Nürnberger, studierte in Erlangen Geschichte und Politik. Er arbeitete als Journalist („AZ“, „Kölner Express“) und Ghostwriter. Seine Hitler-Satire „Er ist wieder da“ machte ihn 2012 schlagartig bekannt. Das Buch wurde in über 40 Sprachen übersetzt, eine seiner Lesereisen führte ihn 2016 auch nach Israel und zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Vermes hat zwei politische Romane geschrieben („Er ist wieder da“ „Die Hungrigen und die Satten“). Zuletzt erschienen von ihm der Thriller „U“ (Piper) und ein „Comicverführer“ (Harper Collins). Vermes lebt und schreibt in München