Deutschland gibt sich gern bunt. Und sozial. Tatsächlich leben wir in einer Klassengesellschaft, in der eine weiße, akademische Mittelschicht den Ton angibt und Rassismus und strukturelle Diskriminierung an der Tagesordnung sind. Sagt Betiel Berhe. Mit der Münchner Autorin fordert eine „neue migrantische Mittelschicht “ ihr Recht. Eine Begegnung 

0941mag: Frau Berhe, es ist in den letzten Jahren Mode geworden über die „Spaltung der Gesellschaft“ in Deutschland zu reden. Was halten Sie davon?

Betiel Berhe: Also, ich find’s traurig und auch super verwirrend zu sehen, wie da von Spaltung gesprochen wird! Als ob das eine Art Ausnahmezustand wäre. Ist es aber nicht.

Sondern?

Immer wenn soziale Bewegungen Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnisse anprangern, wird das in Deutschland als spaltend empfunden. Das finde ich sehr bezeichnend für dieses Land.

Inwiefern?

Weil dabei immer von einer homogenen Masse deutscher Menschen ausgegangen wird! Migrant*innen zum Beispiel sind damit automatisch ausgeschlossen aus diesem „Wir“. Gleichzeitig wird von ihnen verlangt, dass sie sich einordnen, integrieren und nach den Regeln spielen. Wenn dann von diesen Menschen die Forderung kommt, dass die Gesellschaft doch ein Ort des Gut-leben-Könnens für alle sein sollte, wird von Spaltung gesprochen. Aber eigentlich geht’s darum, dass die Ordnung in Frage gestellt wird.

Sie meinen, es ist mehr ein Schattenboxen, was wir da an Debatten erleben?

Naja, man kann aus verschiedenen Perspektiven auf diese so genannte „Spaltung“ gucken. Ich würde aus einer machtkritischen Perspektive darauf schauen.

Das heißt?

Ich glaube, dass die Lindners dieser Welt richtig liegen, wenn sie Angst haben vor dem, was grade passiert. Ich bin da selber im Zwiespalt. Einerseits sind es furchtbare Zeiten, in denen wir leben, weil es ganz vielen Menschen nach der Pandemie, in Zeiten von Krieg, Inflation, Energiewende etc. sehr schlecht geht. Andererseits haben Phasen, in denen eine Krise auf die andere folgt, auch das Potenzial, Menschen zu erreichen und zu bewegen im Sinne von: So kann’s nicht weiter gehen! Der Kapitalismus zum Beispiel war immer schon ungerecht, weil er auf Enteignung und Ausbeutung beruht. Dennoch war Kapitalismuskritik in Deutschland lang kein Thema. Jetzt sagen 60 Prozent der Befragten in Umfragen, dass sie dem Kapitalismus kritisch gegenüberstehen. Ausgelöst von Krisen wie der Klimakrise, die der Kapitalismus produziert – und wie Politik und Gesellschaft damit umgehen – wächst da ein anderes Bewusstsein.

Und?

Die Frage wird sein, ob wir all die Bewegungen zusammenbekommen – Klimabewegung, Refugeebewegungen, Antirassismusbewegung, feministische Bewegungen und andere. Wenn wir es schaffen, da die verbindenden Linien aufzuzeigen, kriegen wir auch einen breiten Konsens darüber, dass wir nicht an kleinen Veränderungen arbeiten müssen, sondern dass wir die große Systemfrage stellen müssen. So gesehen: Ja, es gibt eine Spaltung in der Gesellschaft! Aber ich würde sagen: Es ist gut, dass wir endlich an dem Punkt sind.

Das klingt fast euphorisch – gemessen am Ton, den Sie in Ihrem kürzlich erschienenen Buch anschlagen. („Nie mehr leise“). Sie sprechen darin von Wut, die Sie empfinden. 

Na ja, Ich bin heute Akademikerin und damit Teil einer wie auch immer gearteten Mittelschicht – und bleibe trotzdem in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft immer rassistisch markiert. Mein Blick auf diese Gesellschaft ist also nicht losgelöst von meiner Herkunft, nämlich dass ich ein Arbeiterkind bin, migrantisches Arbeiterkind genauer gesagt. Und wenn man aus dieser Perspektive auf die Gesellschaft schaut, als Schwarzer Mensch, als Arbeiterkind, dann gibt es viele Gründe, unglaublich wütend zu sein.

Woran denken Sie?

Ich denke an dieses ständige „Wir“ und „Ihr“. Diese Gesellschaft wird immer eine rassistische bleiben, wenn wir nicht dran arbeiten. Was mich zum Beispiel extrem wütend macht, ist die Banalisierung rechter Bewegungen seit den 90er-Jahren. Wenn Menschen umgebracht werden, ist natürlich der Skandal groß. Aber selbst da werden Unterschiede gemacht. Wer ist zu Tode gekommen? Wie schlimm ist das und wird es zum Volkstrauertag, wenn etwa in Hanau neun Menschen von einem weißen Rassisten umgebracht worden sind? Nein, das passiert nicht, es wird stattdessen halt weiter Karneval gefeiert. Oder wenn wir auf 2015 schauen: Wie schnell aus so einer kleinen Bewegung besorgter Bürger*innen die komplette Mitte und die komplette politische Klasse nach Rechts gerückt ist – und Menschen, die gekommen sind, nur noch als Bedrohung wahrgenommen wurden. Als ob Migration nicht Teil der menschlichen Geschichte wäre.

Sie sagen, Ihre Wut sei konstruktiv.

Wut über die Verhältnisse heißt für mich: Ich will, dass sich was ändert. Und wenn man’s politisch sieht, ist Wut momentan der Antrieb für ganz viele Menschen, gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu wollen. Man muss diese Wut zulassen. um zu verstehen: Was passiert, ist nicht nur in meinem Kopf oder für mich so. Es fühlt sich nicht nur für mich ungerecht oder falsch an. Sondern diese Wut ist eine, die sehr viele Menschen, die rassistisch markiert sind, spüren und verstehen.

Es geht in „Nie mehr leise“ um Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse in Deutschland. Gibt’s nicht, würden manche sagen. Nicht bei uns!

Das sehen sicher viele so, klar. Genauso wie viele weiße Menschen immer noch behaupten, dass es keinen Rassismus gibt, weil sie ihn selber nicht erleben.

Sie sagen: „Ich bin nicht nur Schwarz und erlebe Rassismus, sondern ich bin gleichzeitig eine Schwarze Frau, die Sexismus ausgesetzt ist, und ein Arbeiter*innenkind, das sich mit Klassismus konfrontiert sieht.“ Wieviele schmerzvolle Erfahrungen muss man gemacht haben, um das für sich im Kopf so klar zu kriegen?

Ich möchte das Thema eigentlich gar nicht so sehr auf der individuellen Ebene verhandeln. Für mich steht die Frage der politischen Relevanz im Vordergrund. Und wenn wir so auf Schmerz schauen, dann würde ich sagen, dass ganz viele Menschen – ich mit eingeschlossen – ganz viel Schmerz erlebt haben beim Aufwachsen in diesem Land. Wenn man zum Beispiel in einem migrantischen Viertel aufgewachsen ist und dann in die („Brennpunkt“-)Schule kommt, wird dir schnell zu verstehen gegeben, dass es eine Hierarchie und eine Ordnung in diesem Land gibt, in der Schwarze Menschen und vor allem Arbeiter*innenkinder ganz unten angesiedelt sind.

Sie hatten angeblich schon als Kind einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

ich komme aus einer sehr politischen Familie, ja. Vor allem mein Vater ist ein sehr politischer Mensch. Für Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Emanzipation einzustehen, gehört zu seiner Grundhaltung.

Wenn nur wenige Arbeiter*innenkinder den Sprung auf eine „Höhere Schule“ schaffen und ein großer Teil der Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor einen Migrationshintergrund hat, kann von Gleichheit und Gerechtigkeit in Deutschland kaum die Rede sein, oder?

Gerade mal jedes fünfte Arbeiter*innenkind schafft es auf eine Realschule oder aufs Gymnasium! 40 Prozent der migrantischen Arbeiter*innen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt …

Unbegreiflich, sagen Sie, sei auch, „wie sich Menschen in systemrelevanten Jobs wie Pflege, Gesundheitsversorgung, Verkauf oder Reinigung kaputt arbeiten und trotzdem kaum über die Runden kommen, während Manager*innen mit „Bullshit Jobs“ und Kapitaleigner*innen den Gewinn abschöpfen und durch die Arbeitskraft jener meist prekär beschäftigten Arbeiter*innen immer reicher werden“. Das versteht, keine*r, oder?

Ich glaube, wir alle – auch die, die drunter leiden – haben das lang als selbstverständlich hingenommen und auch da steckt dieses Schule-Thema mit drin. Also: Es gibt halt die, die die schlechten Jobs haben, die schlecht bezahlt sind, weil sie sich in der Schule nicht angestrengt haben oder angeblich nicht intelligent genug sind. Und es gibt die intelligenten weißen Männer, die einfach ganz natürlich sowohl materiell als auch politisch in dieser wirtschaftlichen Konstellation ganz oben angesiedelt sind, die zu den Kapitalist*innen, Unternehmer*nnen, Manager*nnen gehören, weil – das ist nun mal die Ordnung. Corona hat da wie ein Brennglas gewirkt: Die Menschen mit Bürojobs konnten ihre Arbeit von zu Hause aus erledigen. Der Großteil an Arbeiter*innen dagegen konnte das nicht – und ich habe mir wirklich gewünscht, dass die den Dreck vor unseren Türen nicht mehr abholen kommen! Es gibt in Deutschland ja so dieses Narrativ von Produktivität und Technologie und daher kommt, sozusagen, der Wohlstand. Die Arbeiter*innen/ Dienstleister*innen dagegen werden unsichtbar gemacht. Wenn die mal gesagt hätten: So. Ich bleib’ jetzt zu Hause, weil es ist Corona und es nicht verantwortungsvoll, dass ich meine Arbeit tue – ich glaube, dann hätten wir nochmal ein ganz anderes Verständnis davon, wie wichtig diese Jobs sind, die von Menschen ausgeführt werden, die viel zu schlecht bezahlt werden, in prekären Verhältnissen arbeiten usw. Erst jetzt kommen wir so langsam dahin, dass wir all das in Frage stellen.

Warum erst jetzt und warum „so langsam“?

Naja, denken Sie mal an die Streiks der letzten Zeit! Selbst wenn Arbeiter*innen verstehen, dass es ungerecht ist, wenn etwa die Bahn mit ihnen um die Höhe von Mindestlöhnen feilscht, während gleichzeitig Millionen an Boni an die Bahn-Manager*innen ausschüttet werden, gibt es ja trotzdem Mechanismen, die dieses System aufrecht erhalten. Allein, wie die Wirtschaft in die Politik eingebettet ist, wie selbstverständlich und ungehindert Unternehmer*nnen dort Lobbyarbeit machen können. Da geht es um Macht, die die Kapitalist*innen haben. Aber…

Ja?

Was wir eben auch gesehen haben jetzt, ist, wie die große neoliberale Lüge von „Du musst dich nur anstrengen, dann kommst zu Wohlstand“ quasi vor unseren Augen in sich zusammenkracht. Dass da etwas kippt. Die meisten Menschen wollten ja nie „reich“ werden, sie wollten Teil der Mittelschicht sein: „Dann habe ich mein Reihenhäuschen und mein Auto vor der Tür, kann meinen Kindern irgendwie ein bisschen was ermöglichen und einmal im Jahr vielleicht in Urlaub fahren.“ Das ist so die Vorstellung gewesen, die die Gesellschaft zusammengehalten hat. Arm gibt’s nicht und besonders reich auch nicht, wir sind alle irgendwo in der Mitte – doch dieses Narrativ ist auserzählt. Die reichsten ein Prozent der Oberschicht besitzen mittlerweile 25 Prozent aller Vermögenswerte. Im Vergleich dazu teilt sich die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland gerade mal drei Prozent des Gesamtvermögens. 

Und die Sollbruchstellen in unserer Gesellschaft – verlaufen nun wo?

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das so genau beantworten kann. Zum einen haben wir in der jüngeren Vergangenheit einfach so wenig über unsere Klassengesellschaft gesprochen, nachgedacht und geforscht – das sind 30-50 Jahre gesellschaftlicher Entwicklung, die einfach gar nicht angeschaut und analysiert worden sind. Und dann gibt’s noch diese alten Klassentheorien, auf die wir alle zurückgreifen. Alle wissen plötzlich wieder, wer Karl (Marx) und Rosa (Luxemburg) sind, was ich total super finde, nur dass es die Frage, wie nehmen wir Klasse heute wahr, halt auch nicht beantwortet. Deshalb hab’ ich versucht, sie für mich einzugrenzen: Wie nehm’ ich als Schwarze Person, als Arbeiterkind Klasse wahr? Und im Buch beschreibe ich, wie eine bürgerlich weiße, akademische Mittelschicht praktisch überall in Bildung, Unterhaltung, Medien oder Politik den Ton angibt und wie sich die ganze Gesellschaft in ihrem Streben, in Habitus und Lebensstil nach ihr richtet.

Die weiße, bürgerliche Mitte als herrschende Klasse?

Als Klasse, die nicht als solche benannt werden muss, eine Art unmarkierter Norm sozusagen – im Gegensatz zur migrantischen Mittelschicht, die in einer von Rassismus geprägten (globalen) Ordnung immer auch rassistisch markiert bleibt. Das ist jedenfalls meine Erfahrung, seit ich mein Studium abgeschlossen habe und in die Arbeitswelt gegangen bin. Bis dahin war ich immer in einem total heterogenen, gemischten Kreis von Menschen unterwegs gewesen. Plötzlich aber war alles um mich herum weiß und Mittelschicht und der Umgang – dieses ständige Abgrenzen, das Abwerten von Lebensweisen anderer Menschen – hat mich erst irritiert. Ich dachte: Bin ich unsichtbar? Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich mich in einer Blase befinde und wie so ne Soziologin ständig nur um mich gucke, wie der Selbstwert dieser weißen Mittelschicht sich ständig reproduziert. Und dieses Reproduzieren funktioniert immer nur so, dass nach unten getreten wird, um die eigene Überlegenheit darzustellen. 

Es ist entlarvend, wenn Sie beschreiben, wie diese Mittelschicht aus Angst vor Statusverlust um Distinktion ringt.

Ich mach’ mich tatsächlich so ein bisschen lustig über diese Öko-Bourgeoisie, die den Konsumverzicht propagiert und aus angeblich hoch moralischen Gründen – der Umwelt zuliebe! – nur nachhaltig, bio oder secondhand kauft. Wenn also zum Beispiel ein Teil dieser eher links orientierten, akademischen Mittelschicht in Secondhand-Klamotten und kaputten Turnschuhen rumläuft und diese working class-Ästhetik so für sich arrangiert. In Lesungen werde ich oft gefragt: „Aber du bist doch nicht gegen Secondhand? Oder überhaupt gegen Umweltschutz?“ Die Antwort ist natürlich: Nein! Wie könnte ich auch bei der Position, aus der ich spreche? Denn wenn wir auf Umweltschutzthemen schauen, dann sind es Schwarze Menschen, Frauen, Menschen aus dem Globalen Süden, die am meisten Leid tragen – und verursacht wird es aus dem Globalen Norden! Wie könnte also ausgerechnet ich gegen Umweltschutz sein? Was ich beobachte und beschreibe ist, wie absurd und perfide diese Distinktion funktioniert, dass sozusagen die eine Person, die in abgetragenen Sachen rumläuft, gesellschaftliche Verachtung, Stigmatisierung, Entwürdigung, Entmenschlichung erlebt, weil sie arm ist. Und die andere Person sich genau dadurch in ihrer gesellschaftlichen Stellung erhöhen kann: Weil sie aufgrund ihrer Bildung versteht, dass die Umwelt gerettet werden muss, verzichtet sie auf die neuen Schuhe, die sie sich aufgrund ihres materiellen Wohlstands ohne weiteres leisten könnte. Die Message ist, dass die gesellschaftliche Stellung, die Klassenstellung dieser akademischen Mittelschicht gerechtfertigt ist, weil sie halt so viel intelligenter ist und deshalb schonender mit den Ressourcen umgeht usw. Das Umweltschutzthema wird hier geclaimt, um – jetzt wiederhole ich mich – Überlegenheit zu demonstrieren. Oder denken Sie ans berühmte Lastenfahrrad: Das darf schon mal 3000 oder 5000 Euro kosten und ist damit natürlich ganz klar auch ein Statussymbol. Würde es bei all dem wirklich um die Umwelt gehen, müssten alle so leben (können), wie die reichen Menschen. Dann hätten alle das Gleiche zur Verfügung – also nur so viel wie unser Planet aushält, ohne den Kipppunkt zu erreichen. Damit würden wir in Sachen Umweltschutz in eine komplett andere Richtung gehen. 

Eine wichtige und perfekt funktionierende Schaltstelle, ein System im System unseres Klassismus gewissermaßen, ist für Sie alles, was mit Erziehung, Schule und Bildung zusammenhängt. Richtig? 

Absolut! Manchmal habe ich das Gefühl, über Schule zu sprechen, das wirkt so … banal. Und gleichzeitig gibt es wenige Institutionen in unserer Gesellschaft, die so essenziell sind wie Schule. Deshalb werde ich auch immer emotional, wenn ich über Schule rede. Über Dinge wie diese Studie der Uni Mannheim, wonach angehende Lehrkräfte die haargenau selbe Leistung von Schüler:innen mit unterstellter Migrationsgeschichte statistisch signifikant schlechter bewerten als die von Schüler:innen, denen sie keine Migrationsgeschichte unterstellen. Ich selbst hab’ damals in der Hauptschule nicht wegen meiner guten Noten eine Empfehlung für die Realschule bekommen, also weil es mir zustand, sondern weil ich gelernt hatte, nicht aufzufallen, mich anzupassen, ein „anständiges, nettes Kind“ zu sein. Wenn damals nicht meine alte Religionslehrerin aus der Grundschule zu meinem Klassenlehrer in der Hauptschule gegangen wäre und ein gutes Wort für mich eingelegt hätte, hätt’s nicht geklappt. Wenn ich mir was wünschen dürfte …

Dann?

… wäre das eine Revolution, wo die Eltern zusammen auf die Straße gehen! Allein die Tatsache, dass die Kinder in Bayern in der 4. Klasse aufgeteilt werden – ich glaube, selbst für die privilegierten weißen Kinder der Mittelschicht ist das eine superschwierige Zeit mit superviel Druck. Jedes Elternhaus spürt den Druck, den diese 4. Klasse wegen des Übertritts aufs Gymnasium mit sich bringt. Und wenn das der einzige gemeinsame Nenner ist, könnte man ja sagen: Wollen wir wirklich so ein System? Stattdessen passiert, was mir ein Mädchen, auch eine Person of Colour, bei einer Lesung erzählt hat. Sie hatte eine Empfehlung fürs Gymnasium. Daraufhin sind die ganzen weißen Mittelschichtseltern auf die Barrikaden gegangen, weil sie gesagt haben: Wie kann es sein, dass dieses Ausländerkind bessere Noten hat als mein Kind? Das ist der eigentliche Grund, warum wir keine Veränderung in Schule sehen werden – weil es immer noch diese machtvolle Truppe der weißen Oberschicht und oberen Mittelschicht gibt, die das Gymnasium als Bastion für ihre privilegierten weißen Kinder ansieht und mit allen Mitteln verteidigt. Im Zweifel schicken sie ihre Kinder halt auf teure Privatschulen und kultivieren dort weiter ihr Eliteding.

Das Problem ist, sagen Sie, dass der weißen Mittelschicht jedes Bewusstsein dafür fehlt, „dass ihre Privilegien mit Aufwertung verbunden sind, die anderer Stelle Abwertung und Aberkennungsprozesse bedeuten“. Weiße Menschen müssten lernen, was es heißt, weiß zu sein. Und „die neue migrantische Mittelschicht“ müsse sich hüten, der weißen sozusagen blind nachzueifern. Wie meinen Sie das?

Ich glaube, dass auch die migrantische Mittelschicht, also Leute wie ich, die Verhältnisse stabilisieren. Das ist sehr komplex und sehr schwierig, weil ich einerseits sage – und wie könnte auch nicht? – , dass ich mich über alle Geschichten und alle Biografien von Menschen freue, die so aufgewachsen sind wie ich und nicht am Existenzminimum nagen. Ich will ja keine Verelendung! Ich würde mir wünschen, dass wir alle „Mitte“ sind und es gibt kein arm und reich. Nur so ist es ja nicht. Und das bedeutet, dass gerade migrantische Arbeiterfamilien natürlich versuchen müssen, ihren Kindern über Bildung eine bessere Zukunft zu ermöglichen und dadurch migrantische Mittelschicht zu werden. Wenn man nun aber diese Privilegien hat, ist es, glaube ich, trotzdem noch mal wichtig, nicht zu vergessen, wer man ist und woher man kommt. Die Entfremdung, die stattfindet, weil man sich jetzt an einem anderen Ort befindet und ständig diese Codes bedienen muss, um Teil dieser Klasse zu sein, ist ja nicht nur superanstrengend – die Gefahr ist, dass man dabei den Blick für gesellschaftliche Realitäten verliert. Es gibt zum Beispiel die Überzeugung, die mittlerweile auch in Deutschland common sense ist, so diesen liberalen Antirassismus, dass wir irgendwie nur genug Schwarze Manager haben müssen, genug Menschen of Color, die irgendwie Ärzt*innen sind, Anwält*innen sind und damit ist das Rassismusproblem sozusagen erledigt. Und ich würde sagen: Nein! Natürlich ist es nicht erledigt, weil wir müssen ja die Systemfrage stellen: Was ist mit den restlichen 90 Prozent? Darauf kommt es an. Denn jetzt sind wir in Deutschland zum ersten Mal an dem Punkt, wo sich so etwas wie migrantische Mittelschicht herausbildet – und deren Stärke ist eben genau, dass diese Menschen (wie ich auch) so unterschiedliche Klassenerfahrungen gemacht haben und ganz anders auf diese Gesellschaft schauen. Da steckt ein großes Veränderungspotenzial mit drinnen! Aber man muss die Privilegien, die man hat, auch dafür einsetzen.

Betiel Berhe wurde 1982 als Tochter einer Einwandererfamilie aus Eritrea in Ulm geboren. Sie wuchs in einer Hochhaussiedlung auf, studierte Betriebswirtschaft, ist Ökonomin und Aktivistin und hat 2020 das Münchner Institut für Social Justice & Radical Diversity mit gegründet. Berhe ist in verschiedenen rassismuskritischen Netzwerken aktiv und arbeitet selbst als Antirassismus-Coach, hält Vorträge, gibt Workshops zu den Themen Class, Race, Gender. „Nie mehr leise“ (Aufbau Verlag, 205 S., ca. 22 Euro) ist ihr erstes Buch. Berhe hat drei Kinder und lebt mit ihrer Familie in München