In einem Anflug von sinnlosem politischen Aktivismus haben Friedrich Merz und die Union den seit Bestehen der Bundesrepublik, in über 75 Jahren, eingeübten parlamentarischen Konsens gebrochen, nie mit der extremen Rechten abzustimmen. Wenn das die Blaupause eines möglichen, künftigen Regierungshandelns sein soll, wird es die Gesellschaft zerreißen. Das weiß auch Merz – denn er hat es selber prophezeit

Es waren zwei Entschließungsanträge, von denen klar war, dass sie die noch amtierende Bundesregierung weder binden noch zu irgendetwas verpflichten würden.

Dazu der Entwurf eines Gesetzes, das der Bundesrat vor der Verabschiedung noch hätte beraten müssen, was schon aus Zeitgründen, so kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar, nicht mehr geht – abgesehen davon, dass es für das Gesetz in der Länderkammer sowieso keine Mehrheit gibt.

Eigentlich also hätten Friedrich Merz und die Union sich den ganzen Hustle um irgendwelche Fünf Punkte-Pläne „für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“ und ein „Zustrombegrenzungsgesetz“ schenken können. Aber es ging ja ums Burner-Thema Asyl, mit dem sich die Republik bekanntlich easy anzünden lässt. Also setzte man auf Krawall, verkündete lauthals, jetzt aber wirklich „all in“ zu gehen (Merz), das Parlament abstimmen zu lassen und sich die notwendigen Mehrheiten, im Zweifel, halt bei den Rechten zu holen – um „endlich ins Handeln zu kommen“.

Wie out of control muss man sein? Kanzler Scholz (SPD) sprach von einer Handlung „im Affekt“, doch scary wie das Ganze nun mal lief, war Merz bei erschütternd klarem Verstand, als er beschloss, „nicht nach rechts und links zu gucken“, sondern nur noch „geradeaus“. Er wusste, was er wollte, nämlich sich und die Union nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg als einzig wahre „Law and Order“-Partei inszenieren. Er wollte Wähler:innen abholen. Wo auch immer und koste es, was es wolle.

Allein das Vorhaben, ausnahmslos alle Asylsuchenden ohne gültige Papiere an deutschen Grenzen zurückzuweisen – „auch solche mit Anspruch auf Schutz“ – würde das Ende des verfassungsrechtlich garantierten, individuellen Zugangs zum Flüchtlingsschutz bedeuten und verstieße dazu noch gegen Europarecht. Doch Skrupel kennen Friedrich Merz und Co. gerade keine (mehr). Im Gegenteil. Man müsse den Mut haben, Recht zu brechen, um neues Recht setzen zu können, so die Union – schon die Wortwahl ist entlarvend. Und schockierend.

Kein Unionskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik von Konrad Adenauer über Helmut Kohl bis Angela Merkel hätte bei sowas mitgemacht, so Olaf Scholz. Und keine:r hätte je – wie jetzt der Kandidat Friedrich Merz – auch nur eine logische Sekunde daran gedacht, gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten zu machen. Genau das ist nun, letzten Mittwoch, passiert: Der Bundestag hat den Fünf Punkte-Plan von CDU und CSU zur (weiteren) Verschärfung der Migrationspolitik angenommen, die erforderliche Mehrheit kam nur zustande, weil auch Abgeordnete der AfD mit Ja votierten. Und Friedrich Merz? Nahm das in Kauf.

Es sei ihm „gleichgültig“, wer für seine Anträge stimmt, hat er gesagt – und sich damit sehenden Augen den Rechten ausgeliefert. Das Ergebnis? Ein Tabubruch, von historischer Dimension, mit Folgen, die heute noch nicht abzusehen sind. „Schließen Sie aus, dass Friedrich Merz sich mit den Stimmen der AfD zum Kanzler wählen lassen wird“, fragte Robert Habeck (Die Grünen) den CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in einer Fernseh-Talkshow. Tja. Wer kann das schon sagen? Auch Linnemann nicht, an diesem Abend.

Mehr an politischer Verwerfung in diesem Deutschland, mit seiner Geschichte, am Holocaust-Gedenktag geht nicht. Und Merz kann man nur mit Merz erklären. Wenn überhaupt. Ein Versuch

Dezember 2021 „Wir sind nicht die XYZ-Partei, die mit jedem kann. Wir sind die CDU. Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben“, sagt Friedrich Merz vor seiner Wahl zum CDU-Chef. Für Landesverbände „vor allem im Osten“ gebe es „eine glasklare Ansage“: „Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an“.

20. Juli 2023 – Merz überrascht die CSU-Landesgruppe bei ihrer Klausurtagung in Kloster Andechs mit der Ankündigung, dass seine Partei in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode „mehr ihre eigene Agenda fahren und eigene Vorschläge machen wolle.“ Die CDU, sagt er, wolle zeigen, dass man eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“ sei – und wundert sich, dass keine:r klatscht. Sein Erklärungsversuch, man könne der Herausforderung durch die AfD nur begegnen, indem man eigene Angebote mache, macht nichts besser – er führt nur dazu, dass Merz sich zur weiteren Klarstellung genötigt sieht: „Wir werden das allerdings in einem Ton machen, der angemessen ist, klar in der Sprache, aber trotzdem respektvoll gegenüber anderen Meinungen. Und wir werden unsere Koordinaten dabei nicht aufs Spiel setzen.“ Doch das Kind ist schon in den Brunnen gefallen: „CDU mit Substanz, sonst nix“, tobt Karin Prien, stellvertretende CDU-Vorsitzende, auf X. Und dem Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz schwant schon damals Böses: „Dass die Union im Bund die breite Mitte preisgibt, um rechts draußen irgendwelche ideologischen Verrückt­heiten auszufechten, ist komplett irre.“

23. Juli 2023 – Im ZDF-Sommerinterview sorgt Merz für weitere Irritation: Er stehe zur Brandmauer seiner Partei gegen die AfD, jedoch beziehe sich dieses Tabu einer Zusammenarbeit mit der AfD nur auf gesetzgebende Körperschaften – vom Europa-Parlament bis hin zu den Landtagen. Auf kommunaler Ebene sei die Situation anders: „Wenn in Thüringen ein Landrat und in Sachsen-Anhalt ein Bürgermeister gewählt wird, der der AfD angehört, dann sind das demokratische Wahlen. Das haben wir doch zu akzeptieren! Und natürlich muss in den kommunalen Parlamenten dann auch nach Wegen gesucht werden, wie man gemeinsam die Stadt, das Land, den Landkreis gestaltet.“ Merz räumt ein, dass ihm die anhaltend guten Umfragewerte der AfD Kopfzerbrechen bereiten. Spricht von einer aktuellen Schwäche seiner Partei. Glaubt aber, das Rezept zu kennen, um die AfD „auch wieder kleiner“ zu machen. Nämlich: eine striktere Zuwanderungspolitik.

24. Juli 2023 – Merz kriegt für seine Äußerungen im ZDF massiv Gegenwind – aus der eigenen Partei. Die Vizepräsidentin des Bundestages, Yvonne Magwas, die auch dem CDU-Präsidium angehört, schreibt auf X: „Ob Ortschaftsrat oder Bundestag, rechtsradikal bleibt rechtsradikal. Für Christdemokraten sind Rechtsradikale IMMER Feind!“ Vom Ex-Generalsekretär Ruprecht Polenz über den Regierenden Berliner Bürgermeister Kai Wegner bis zu Serap Güler, Mitglied im Bundesvorstand der CDU, signalisieren Unionspolitiker:innen, dass es Grenzen gibt. „Auch der CDU-Vorsitzende“ sei an die Beschlüsse des CDU-Parteitages gebunden – dieser habe nun mal jegliche politische Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausgeschlossen, so Polenz. „Die AfD kennt nur Dagegen und Spaltung“, twittert Wegner: „Wo soll es da ZUSAMMENarbeit geben?“ Auch Serap Güler zeigt klare Kante: „Keine Zusammenarbeit mit der AfD heißt: keine Zusammenarbeit mit der AfD. Auf keiner Ebene. Ganz einfach. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.“ Und selbst das Echo aus Bayern, von Markus Söder, fällt heftig aus. Der CSU-Chef distanziert sich von Merz‘ Aussagen: „Die CSU lehnt jede Zusammenarbeit mit der AfD ab – egal auf welcher politischen Ebene.“ Die AfD sei demokratiefeindlich, rechtsextrem und spalte die Gesellschaft: „Das ist mit unseren Werten nicht vereinbar.“ Merz rudert daraufhin in den Sozialen Medien zurück: „Um es noch einmal klarzustellen, und ich habe es nie anders gesagt: Die Beschlusslage der CDU gilt. Es wird auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD geben. (FM)“

7. Mai 2024 – In Berlin verabschiedet die CDU ein neues Grundsatzprogramm, das vierte nach 1978, 1994 und 2007. Generalsekretär Carsten Linnemann „ist unfassbar erleichtert“ und das ist kein Wunder, denn Linnemann hatte in den Tagen davor den Kopf hingehalten, als vor allem kirchliche Kreise Sturm liefen gegen das Programm, in dem sich die Christdemokraten von einer ganz hässlichen Seite zeigen – als menschenverachtende, fremdenfeindliche Anti-Migrationspartei, die sich konsequenterweise, so die Kritik, vom „C“ im Namen verabschieden sollte. Rund um den Tagungsort herrscht in diesen Tagen ein ungemütliches Klima. Die Menschenrechtsorganisation Leave No One Behind (LNOB) beamt den Hashtag „CDunchristlich“ an die Fassade. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG) startet einen Appell, den in kürzester Zeit 700 Menschen unterzeichnen. Es dränge sich der Verdacht auf, so die BAG-Vorsitzende und Pfarrerin Dietlind Jochims, dass die CDU das Recht auf Asyl in Europa abschaffen wolle, indem sie die direkte Abschiebung Asylsuchender in „sichere Drittstaaten“ forciert. Jochims erinnert die Delegierten daran, dass das Recht auf Asyl „auch eine Lehre aus dem Nationalsozialismus ist“. Asylsuchende in Europa sollten nie wieder vor verschlossenen Türen stehen oder zurück in Lebensgefahr gedrängt werden. Aufgabe deutscher Politik und insbesondere einer christlichen Partei wie der CDU müsse es sein, „Fluchtursachen zu bekämpfen, nicht die Flüchtlinge“. Der Appell bleibt ungehört.

6. November 2024 – Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entlässt Finanzminister Christian Lindner (FDP). Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP ist Geschichte. Scholz sagt, er wolle sich Mitte Januar einer Vertrauensfrage stellen, die im Fall ihres Scheiterns zu Neuwahlen führen könnte. Bis dahin wolle er mit den Grünen weiter regieren, aber auch das Gespräch mit CDU und CSU suchen, um für wichtige Gesetzesvorhaben parlamentarische Mehrheiten zu bekommen.

13. November 2024 – Friedrich Merz macht SPD und Grünen im Bundestag ein Angebot: „Wir sollten mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, den Grünen, vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, so dass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt. Diese Verabredung möchte ich Ihnen ausdrücklich vorschlagen, meine Damen und Herren. Denn das hätten diese Damen und Herren von rechts außen doch gerne, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen, und sei es mit Ihnen von den beiden Minderheitsfraktionen bei der Bestimmung der Tagesordnung. Wir wollen das nicht. Ich hoffe, Sie sehen das auch so, liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Daran wird man ihn noch erinnern …

27. Dezember 2024: Der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 zufolge gelingt es der AfD zunehmend, den gesellschaftlichen und politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. Und: Sie ist sehr erfolgreich darin, andere Parteien dazu zu verleiten, AfD-Positionen zumindest teilweise zu übernehmen: „Das“, sagt Mitherausgeber Johannes Kiess, Experte für Rechtsextremismus an der Uni Leipzig, „führt dazu, dass die Grenze zwischen einer demokratischen Partei wie der CDU und einer antidemokratischen, klar extremistischen Partei wie der AfD verschwimmt. Dann stellt sich die Frage: Warum arbeitet man nicht zusammen, im Stadtrat, im Kreistag und vielleicht irgendwann auch im Landtag? Diese Brandmauer, das kann ich aus Sachsen berichten, bröckelt jeden Tag ein Stückchen mehr. Die Mehrheitsverhältnisse sind schwierig geworden und wenn die ideologischen Gräben gar nicht mehr so groß erscheinen, ist eine Zusammenarbeit lukrativ. Darauf läuft es derzeit immer weiter hinaus.“ Für Friedrich Merz sind das keine guten Nachrichten. Er hat sich in der Sache schon einmal ein blaues Auge geholt. Aber auch ein paar andere Erkenntnisse der Leipziger Wissenschaftler hören sich nicht wirklich gut an für ihn: „Es ist eine Illusion, dass man Menschen, die jetzt AfD wählen, zurückholt, indem man AfD-Positionen übernimmt“, so Kiess. Denn: „Deren Positionen bei Themen wie Migration und Asyl sind in der Bevölkerung als sehr hart anerkannt. Das wirkt glaubhafter, als wenn andere Parteien AfD-Positionen nachplappern.“

9. Januar 2025 – Julia Klöckner, Ex-Bundesministerin und wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, tappt auf Instagram genau in diese Falle. Sie umwirbt die Klientel der AfD und zwar so (Zitat): „Für das, was Ihr wollt, müsst Ihr nicht AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative in Deutschland: die CDU“. Der Satz erinnert an Friedrich Merz, der die Union 2023 als „Alternative für Deutschland mit Substanz“ verkaufen wollte und die folgende Debatte nur mit Mühe wieder einfangen konnte (s.o.). Klöckner kommt glimpflicher davon – auch weil sie ihrem Post mehr oder minder prompt, unter dem Eindruck des aufziehenden Shitstorms, einen zweiten hinterher schickt, der sich zwar ein bisschen so anhört als hätte die Parteizentrale sie an die kurze Leine genommen, aber seinen Zweck erfüllt: „Recht und Ordnung sind die Grundlage unserer freien und demokratischen Gesellschaft. Dafür stehen wir als CDU – jeden Tag. Wir wehren uns gegen die, die unsere Demokratie in Frage stellen.“ Na, dann …

11. Januar – Friedrich Merz sieht, wie nach dem Wahlsieg der rechtspopulistischen bis rechtsextremen FPÖ in Österreich die dortige bürgerliche Mitte aus ÖVP, SPÖ und NEOS in ihren Koalitionsverhandlungen einfach nicht zusammenfindet. Er kündigt an, dass er im Falle eines Wahlsiegs der Union am 23. Februar einen Politikwechsel durchsetzen will, den mögliche Koalitionspartner mittragen müssten. Wenn dieser Kurswechsel in der Wirtschafts- und Migrationspolitik nicht gelinge, so Merz, werde man 2029 „nicht noch mal über einen beliebigen weiteren Regierungswechsel in Deutschland“ reden: „Dann passiert, was wir in diesen Tagen in Österreich erleben“ – eine Anspielung darauf, dass sich der ultrarechte Herbert Kickl, FPÖ-Chef und Mann mit besten Beziehungen ins Lager der Identitären und rechtsnationalen Burschenschaften, in Anlehnung an Adolf Hitler bereits als „Volkskanzler“ feiern lässt. Merz stellt noch mal klar, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD für ihn unter keinen Umständen in Frage kommt: „Zu glauben, man könne Rechtspopulisten hoffähig machen, zur Räson bringen, zur Vernunft bringen, zum verantwortungsvollen Mitregieren veranlassen … das hat sich in der deutschen Geschichte schon einmal als großer Irrtum erwiesen. Und ich sage es, wie ich es denke: Die nächste Bundestagswahl ist dann 2033. Und einmal 33 reicht für Deutschland.“ Merz stellt Bezüge her, zeigt, dass er im Geschichtsunterricht nicht geschlafen hat, scheint begriffen zu haben: „Wenn wir das machen würden, wenn wir tatsächlich mit der AfD zusammenarbeiten würden, würden wir die Seele der CDU verkaufen. Wir arbeiten nicht mit einer Partei zusammen, die ausländerfeindlich ist, die antisemitisch ist, die Rechtsradikale in ihren Reihen hält, eine Partei, die mit Russland liebäugelt und aus der Nato und Europäischen Union austreten will.“ Dann wird er persönlich: „Ich knüpfe mein Schicksal als Parteivorsitzender der CDU daran.“ Es ist der Satz, an dem man ihn von nun messen darf.

22. Januar – Wenige Wochen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember 2024 mit sechs Toten und 299 Verletzten ersticht ein eigentlich ausreisepflichtiger, weil abgewiesener Asylbewerber aus Afghanistan in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen marokkanischer Herkunft und verletzt ein zweijähriges syrisches Mädchen schwer. Ein Deutscher, der die Kinder schützen und die Tat verhindern will, wird ebenfalls getötet, ein zweiter durch mehrere Messerstiche schwer verletzt. Das Migrationsthema wird zum Wahlkampfthema, Politiker:innen nahezu aller Parteien, die der regierenden Ampel-Koalition nicht oder nicht mehr angehören, aus CDU. CSU, FDP, AfD und BSW, fordern Verschärfungen in der Asylpolitik, lediglich Linken-Chef Jan van Aken kritisiert den Automatismus, dass nun wieder nur über Abschiebung und Asyl geredet wird – und nicht über die psychische Krankheit von Tätern und unseren politischen und gesellschaftlichen Umgang damit. Auch Friedrich Merz interessiert sich nicht die Bohne dafür. Stattdessen gibt er den Trump und kündigt an, er werde im Falle eines Wahlsiegs „anweisen“ (sic!), alle deutschen Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und alle Versuche der illegalen Einreise ausnahmslos zurückzuweisen. Politik per Dekret, durch den starken Mann, der voran geht und führt – haben wir uns das nicht immer schon gewünscht? Merz jedenfalls gefällt sich in dieser Rolle, vergisst völlig, dass er eigentlich (auch) einen Wirtschaftswahlkampf führen wollte und lässt sich von CSU-Einpeitscher Alexander Dobrindt, dem Mann mit dem goldenen Händchen für politischen Misserfolg, aufmunitionieren. Das hat noch nie jemandem gut getan. Auch jetzt gibt es erste, warnende Stimmen, vom Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft für den Bereich der Bundespolizei, Andreas Roßkopf zum Beispiel, der Merz‘ Gedankenspiele von flächendeckenden Kontrollen und Zurückweisungen an deutschen Grenzen für schlicht „nicht durchsetzbar“ hält. Doch Merz lässt sich nicht beirren, ist nicht mehr aufzuhalten.

26. Januar – „Es ist jetzt Zeit, Entscheidungen zu treffen“, sagt er, als er an diesem Tag nach Beratungen der Parteigremien in Berlin vor die Presse tritt. Auch wieder so ein Satz, wie man ihn eher aus schlechten Filmen kennt – mit dem Unterschied, dass das hier Realität ist und nicht Fiction. Man wolle „noch in dieser Woche“ neben zwei Anträgen auch einen Gesetzentwurf zur Migrationspolitik im Bundestag vorlegen und dann auch zur Abstimmung stellen, so Merz. SPD, Grüne und FDP seien eingeladen, den Unionsanträgen zuzustimmen, es läge an ihnen zu verhindern, „dass es Mehrheiten gibt, die keiner von uns will.“ Es dauert ein bisschen. Dann macht es klick und man begreift, dass es Merz und der Union tatsächlich völlig egal ist, wer ihnen an Tag X zur Mehrheit verhilft – und sei es die AfD. Merz formuliert das eleganter, mephistophelischer. Nämlich so: „Was in der Sache richtig ist, wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen.“

28. Januar – Peter Matuschek, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, warnt: „Wenn Friedrich Merz billigend in Kauf nimmt, dass die AfD seinen Anträgen zustimmt und damit auch mitentscheiden kann, dann entsteht zumindest der Eindruck einer Aufwertung der AfD durch die CDU. Für die Union ist das fatal.“

29. Januar – Der Bundestag entscheidet über die Unions-Anträge zur deutlichen Verschärfung der Migrationspolitik („Fünf-Punkte-Plan“) und Inneren Sicherheit. Der zweite fällt durch, der erste wird angenommen, die Mehrheit ist knapp – 348 zu 345 Stimmen bei zehn Enthaltungen -, den Ausschlag geben die „Ja“-Stimmen der AfD. Deren Abgeordnete feiern. Merz weiß nicht recht: Es sieht so aus, als dämmere ihm, was er angerichtet hat, aber in Gedanken ist er schon weiter, bei der Abstimmung über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ am 31. Januar: „Ja, es kann sein“, sagt er, „dass die AfD hier im Bundestag am Freitag erstmalig die Mehrheit für ein notwendiges Gesetz ermöglicht – die Bilder, die wir gegebenenfalls von jubelnden und feixenden AfD-Abgeordneten sehen, die werden unerträglich sein, und der Gedanke daran bereitet mir schon jetzt größtes Unbehagen.“ Aber umkehren? Das Ganze abblasen, wie SPD-Fraktionschef Mützenich es Merz in den letzten Stunden vor der zweiten Abstimmung noch einmal nahelegt? Nicht mit ihm. Merz wirkt jetzt wie in sich verkapselt: „Er wusste, da gibt es einen Augenblick, da kann er ein bisschen Wind machen“, sagt Ex-SPD-Chef Franz Müntefering. Dieser Wind bläst ihm jetzt ins Gesicht. In Berlin und in vielen anderen Städten in Deutschland gehen an diesem Abend Zigtausende Menschen auf die Straße. Die vorschnell tot gesagte Protestkultur „gegen Rechts“ lebt wieder auf. Und fast schon demütigend für Merz sind die Bilder von der Demo vor der Berliner Bundesgeschäftsstelle der CDU, dem Konrad Adenauer – ein Lichtermeer und die Parteimitarbeiter verlassen das Gebäude durch den Hinterausgang.

30. Januar – Autsch! Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich seit ihrem Abschied vom Amt im Dezember 2021 mehr oder weniger komplett aus dem Politbetrieb zurückgezogen hat, sich nicht einmischt, nichts kommentiert und nur mal hier, mal da Fragen zu ihrer im November 2024 erschienenen Autobiografie beantwortet, erklärt Merz‘ Vorgehen für „falsch“. Sein Vorschlag vom 13. November 2024 zur Zusammenarbeit mit SPD und Grünen für den Rest der Legislatur (s.o.) und die damit verbundene Haltung, so Merkel, „waren Ausdruck großer staatspolitischer Verantwortung, die ich vollumfänglich unterstütze. Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen. Stattdessen ist es erforderlich, dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können.“

30. Januar – Auch das noch: Der Publizist und ehemalige Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, tritt aus der CDU aus. In seiner Begründung verweist Friedman darauf, dass die Unionsfraktion im Bundestag mit den Stimmen der AfD einen Antrag zur Verschärfung des Asylrechts durchgesetzt hätte. Diese Entscheidung sei für ihn nicht tragbar, die Abstimmung eine katastrophale Zäsur für die Demokratie der Bundesrepublik und ein „unentschuldbares Machtspiel“. Man könne über das Verhalten der Union im Bundestag sagen, dass es Zufall gewesen sei, oder dass das Ergebnis „billigend in Kauf genommen“ wurde oder es Strategie nennen. Aber, so Friedman, „der Zweck heiligt dieses Mittel nicht“. Die AfD sei eine „Partei des Hasses“, die die Demokratie mit Füßen trete. In den Augen dieser Partei sei die Würde des Menschen antastbar – welche Menschen dies seien, dass wolle diese Partei bestimmen, so Friedman. „Das ist das Gegenmodell dazu, was wir nach Hitler und der Shoah aufbauen wollten.“ Friedmann war 1983 in die CDU eingetreten. In den 1990er-Jahren war er Teil des CDU-Bundesvorstands. Sein Austritt rührt ans Selbstverständnis der Partei. Aber die zeigt, zumindest nach außen, keine Reaktion.

31. Januar – Merz‘ „Zustrombegrenzungsgesetz“ scheitert im Bundestag – 338 Stimmen für das Gesetz von Union, FDP, AfD und BSW bei 349 Gegenstimmen reichen nicht. Der Super-GAU, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Parlaments ein Gesetz mit Hilfe der AfD beschlossen wird, ist abgewendet – unter anderem deshalb, weil zwölf Abgeordnete aus den Reihen der Union nicht an der Abstimmung teilgenommen haben. „Wir haben Kurs gehalten, haben uns nicht einschüchtern lassen“, sagt Friedrich Merz in einer ersten Stellungnahme. Aber es dauert nicht lang und AfD-Chefin Alice Weidel erklärt ihm, wie sie die Dinge sieht: „Friedrich Merz ist als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Die Union ist implodiert. Was wir hier sehen, ist die Demontage des Kanzlerkandidaten.“

Selber schuld.