Es rappelt in der Kiste bei der eigentlich schon tot gesagten Linken. Dass die Partei auf den letzten Metern vor der Bundestagswahl auf einmal Richtung sieben Prozent marschiert – oder acht oder neun? – und dass vor allem junge Wähler:innen auf Die Linke setzen, liegt in erster Linie an Heidi Reichinnek. Eine Hommage in 6 Clips
# The fast and the furious
Mal ehrlich: Wer liest schon Wahlprogramme? Und warum? Die Linke zum Beispiel träumt seit ewigen Zeiten vom Austritt aus der NATO. Und jetzt? Sieht es so aus, als ob die NATO aus uns austritt, wenn wir die Zeichen aus Washington richtig deuten. Da kommt kein Wahlprogramm mit. Vielleicht sollte man deshalb auch öfter mal laut denken wie Jan van Aken in einer der letzten Wahlrunden – ist ja nicht ganz unwichtig, was da im Bündnis gerade los ist. Der Linken-Chef stellte also die Frage, ob es okay ist und wie man damit umgehen soll, dass ein NATO-Mitglied, in diesem Fall die Türkei, in Syrien Krieg gegen die Kurden führt – dieselben Kurden, die eben noch an der Seite des NATO-Mitglieds USA geholfen haben, den IS zu erledigen. Gute Frage! Einerseits. Andererseits erwarten die Leute im Wahlkampf vor allem Antworten. Ein Fall für Heidi Reichinnek! Keine.r liefert so schnell wie sie: Die neue Geheimwaffe der Linken ist ein Impro-Wunder und kann – wie hier – in handgestoppten 25 Sekunden erklären, warum es eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland braucht, nämlich: Weil die bisherige die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht – und weil sie dazu noch mit dem Kleingeld der Schwächsten (Bürgergeld!) Unternehmen und Großkonzerne pampern möchte, damit die in Deutschland investieren, Arbeitsplätze schaffen und so für neuen Wohlstand sorgen (siehe: Wahlprogramm der Union). Echt jetzt? Denjenigen, der den Parteien der politischen Mitte diesen Trickle-Down-Floh ins Ohr gesetzt hat, würden wir gern erwischen! Aber weil das sowieso nicht passiert und weil wir eh lieber positiv denken, hören wir mal rein, was Heidi Reichinnek als Soforthilfe in petto hat, um die soziale Schieflage hierzulande auszugleichen:
# Role Model
Wenn man sich kurz nochmal vor Augen führt, wie die Internationale männlicher cis-Chauvis und Hater sich daran abgearbeitet hat, dass für die bundesdeutsche Außenpolitik in den letzten drei Jahren mit der Grünen Annalena Baerbock eine Frau verantwortlich war, dann könnte man für Heidi Reichinnek das Schlimmste fürchten – und das liegt nicht daran, dass sie ernsthaft Chancen auf so ein Amt hätte (wenn sie es denn als leidenschaftliche Sozialpolitikerin überhaupt wollte). Es ist einfach nur so, dass mit Reichinnek 2021 eine junge Feministin und Antifaschistin die Bühne des Bundestags betrat, die so unbeeindruckt, furchtlos und furios agiert, dass sie denen, die – vom Redner:innen-Pult aus gesehen – auf der rechten Seite des Parlaments sitzen wie der AfD nicht nur auf die Nerven geht, sondern als gefährlich gilt. Die als neue „tiktok-Queen“ der Berliner Republik gefeierte 36-Jährige hat es als eine der wenigen Politiker:innen geschafft, der AfD nicht nur im Plenum, sondern auch in den Sozialen Medien etwas entgegen zu setzen. Unionspolitiker:innen reagieren – noch – mit Übersprungshandlungen (tief ins Handy versenken, demonstrativ auf die eigenen Schuhe starren) auf sie. Aber.: Das wird auf die Dauer nicht reichen. Sie sollten besser zuhören. Zum Beispiel dann, wenn Reichinnek – wie in der „Selbsthilfegruppe Wegen-der-AfD-zwanghaft-über-Gendern-reden-zu-müssen“ im Juni 2023 – zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Hier erklärt sie den Rechten, warum Genderverbote perfide sind und worum es beim Gendern wirklich geht (um Inklusion nämlich). Aber auch die rechte Mitte kriegt ihr Fett weg:
# Die Iden des Merz, part 1
Wenn eintritt, wonach es im Moment aussieht, nämlich dass Friedrich Merz und die Union nach dieser Wahl zwei andere Parteien brauchen, um regieren zu können, und dass es sich bei diesen Parteien um SPD und Grüne handelt, dann bedeutet das – aus Sicht von Merz – nichts Gutes. Als selbsternannter deutscher Mini-Trump, der sich vorgenommen hatte, „vom ersten Tag an“ durch zu regieren, wird er Kompromisse machen müssen (was viele immer noch für einen brauchbaren Gedanken, wenn nicht gar für die idealtypische Ausformung des demokratischen Meinungsbildungsprozesses halten). Wir müssen uns also nicht sorgen. Im Gegenteil: Hier wird jemand, der in allen Umfragen vor der Wahl nie den Sprung über die 30 Prozent schaffte – und einen Stimmenanteil „in der zweiten Hälfte der 30er“ lediglich herbei zu reden versuchte – auf Normalmaß gestutzt. Auch Mitleid mit Merz muss keine:r haben. Denn a) hat er sich selbst in diese Situation gebracht und b) sind wir in der Frage klar bei Heidi Reichinnek. Die Spitzenkandidatin der Linken hat die hunderttausendfache Empörung über Merz‘ Deal mit der AfD in der Migrationspolitik in drei Reden im Plenum antizipiert. Und: Sie hat das so klar, so unmissverständlich, so echt und so authentisch gemacht, dass man ihr den aufgebrachten Ton nicht nur verzeiht. Sondern dankbar ist dafür. Es begann mit der Kritik am so genannten „Fünf Punkte Plan“ der Union „für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“, in einer (ersten) Rede am 29. Januar:
# Die Iden des Merz, part 2
Der 29. Januar 2025 war ein historischer Tag, weil zum ersten Mal in der Geschichte der BRD und des Bundestags, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Naziterrors in Deutschland, wieder eine Partei der bürgerlichen Mitte mit rechten Kräften paktierte – und das am Holocaust-Gedenktag. Viel mehr an Geschichtsblindheit und Kaltherzigkeit ist nicht vorstellbar, erst recht, wenn man bedenkt, wofür Friedrich Merz und die Union hier jeden moralischen Anstand und jede politische Verantwortung über Bord geworfen haben: zwei sinn- und nutzlose Entschließungsanträge, von denen einer, ebenjener „Fünf Punkte-Plan“, mit den Stimmen der AfD verabschiedet wurde. Tagelang wurde dieser Tabubruch in den Medien rauf und runter gespielt, es fehlte nicht an Provokateuren und Kolumnist:innen, die sich beeilten, so etwas komplett normal zu finden. Heidi Reichinnek aber hielt diese Rede (s.u.), die in den Sozialen Medien millionenfach geteilt wurde – und dazu führte, dass ihre um den Wiedereinzug in den Bundestag kämpfende Partei ein sensationelles Comeback erlebte. Wahlveranstaltungen der Linken, für die sich bis dahin nur noch ein paar Unentwegte interessierten, wurden plötzlich überrannt, Mitgliedsausweise gingen aus und mussten nachgedruckt werden, 20.000 Neueintritte vor allem von jungen Leuten, die sich von jetzt auf gleich in den Haustür-Wahlkampf stürzten und halfen, wo sie konnten, sorgten für Schwung. Alles wirkte plötzlich munter, locker, leicht. Wo eben noch Endzeitstimmung herrschte, sieht auf einmal alles nach Aufbruch aus. So schnell wird man in der Politik selten belohnt.
# Die Iden des Merz, part 3
Am 31. Januar scheitert Friedrich Merz‘ „Zustrombegrenzungsgesetz“ (mit strengeren Regeln für den Familiennachzug bei subsidiär Schutzbedürftigen) im Bundestag – nicht, weil er sich angesichts des massiven Protests der Zivilgesellschaft oder wegen des guten Zuredens und des offenen Widerstand von SPD, Grünen und Linken im Bundestag dazu durchgerungen hätte, die Zusammenarbeit mit der AfD zu beenden. Sondern weil ihm Abgeordnete der eigenen Fraktion und Teile der FDP in der entscheidenden Abstimmung die Gefolgschaft verweigern. Merz ist blamiert, viele andere aber wie Heidi Reichinnek müssen den Schock dieser Tage erst verdauen. Dazu gehört, wie Merz reagierte, als mit dem Publizisten und ehemaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, der auch mal Mitglied des CDU-Bundesvorstands gewesen ist, ein Partei-Urgestein seinen Austritt erklärte – nämlich gar nicht. Im Kandidatenduell von ARD und ZDF am 9. Februar verwies er – ohne den Namen Friedman auch nur zu erwähnen – stattdessen auf eine Vielzahl von Neueintritten. Auch, dass im Nachgang zur Kungelei der Union mit der AfD mit Albrecht Weinberg ein Holocaust-Überlebender sein Bundesverdienstkreuz zurückgab, war Merz kein Sterbenswörtchen wert. Heidi Reichinnek erklärte dafür stellvertretend für immer mehr Menschen im Land, was sie davon hält:
# Denke ich an Deutschland …
Zu glauben, Heidi Reichinnek und die Linke hätten sich in Friedrich Merz und das Migrationsthema verbissen, wie das hier nun möglicherweise den Anschein hat, wäre trotzdem verkehrt. Anders als SPD und Grüne, die dieser Taktik von Union und AfD so gründlich auf den Leim gegangen sind, dass ganze Landesvorstände der Grünen Jugend sich von den Grünen verabschiedeten und auch viele Genoss:innen in der SPD ihre Partei schlicht nicht wieder erkennen, hat die Linke das nicht getan. Sie hat sich stattdessen auf die soziale(n) Frage(n) fokussiert und diese als Herzensangelegenheit – glaubwürdig – nach vorne geschoben. Was sich in Deutschland ändern muss, hat Reichinnek in der folgenden Rede beschrieben. Aber jetzt gehen wir ganz schnell wählen!
Heidi Reichinnek, 36, geboren und aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, hat Nahoststudien und Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert. Sie hat u.a. als Sprach- und Kulturfachkraft in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete gearbeitet und dort Deutsch unterrichtet. 2015 kam sie zur Linken, über die niedersächsische Landesliste gelang ihr 2021 der Sprung in den Bundestag, wo sie im Moment als kinder- und jugendpolitische Sprecherin ihrer Partei firmiert. Reichinnek bezeichnet sich selbst als Sozialistin, Feministin und Antifaschistin, an ihrem linken Arm hat sie sich ein Tattoo von Rosa Luxemburg stechen lassen - eine der großen Frauenfiguren der Weimarer Zeit, an der sie sich selber politisch orientiert, wie sie sagt