Friedrich Merz weint in einer Münchner Synagoge. Auch Michel Friedman zeigt seine Wunde – und teilt als Gast der SPD-Bundestagsfraktion am 7. Oktober, dem zweiten Jahrestag des Hamas-Massakers in Israel, seine Furcht vor wachsendem Antisemitismus und die Sorge um den Fortbestand der Demokratie in Deutschland. Erleben wir gerade die Anfänge einer neuen Nachdenklichkeit im politischen Diskurs? Eine Momentaufnahme
Friedman hatte, bevor er am Dienstag zusammen mit SPD-Fraktionschef Matthias Miersch in Berlin vor die Presse trat, zunächst intern mit den Parlamentarier:innen gesprochen – und ihnen dabei, so Miersch, „auch ins Gewissen geredet“. Der Publizist und Ex-Politiker, der jahrzehntelang der CDU angehörte und der Partei schließlich wegen ihrer Anbiederungsversuche an die AfD den Rücken kehrte, warnte dabei laut Miersch nicht nur vor dem neuen Antisemitismus im Land, sondern rief dazu auf, „die Demokratie zu verteidigen“, denn sie sei aktuell „massiv in Gefahr“. Danach ging es zum Pressetermin:
Matthias Miersch: Wir haben heute den 7. Oktober – und sehen, dass der Antisemitismus in diesem Land wieder spürbar ist. Das heißt für uns, dass wir jede Form von Antisemitismus in diesem Land bekämpfen und nicht akzeptieren …
Michel Friedmann: … und ich verspreche alles zu tun, damit wir Sozialdemokraten in unserer Mitte haben, die auch überleben werden. Denn genau darum geht es! Es geht entweder um die Frage, ob gilt, worauf wir uns geeinigt haben im Grundgesetz: Dass die Würde des Menschen unantastbar ist – also, dass jeder jemand ist. Jeder ist jemand! Oder ob wir wieder darüber diskutieren, dass einige niemand sind, wie die Partei des Hasses es formuliert. Eine antidemokratische Partei. Da gibt es viele Rechtsfragen und politische Fragen.. Aber ich stelle eine sehr banale, ich bin nicht besonders intelligent. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es in Artikel eins Grundgesetz. Die sagen: Die Würde einiger Menschen ist antastbar – und damit stehen sie nicht mehr auf dem Boden von Artikel eins Grundgesetz! Aber mein Problem ist insgesamt, dass wir über die Demokratie reden sollten. Und dass wir erleben, wie eine demokratiefeindliche Partei immer mehr Stimmen bekommt – und man sich die Frage stellen muss, wo hört man und wo sieht man eigentlich die leidenschaftlichen 75 Prozent der Demokraten und Demokratinnen?
Wenn die wach wären, wäre es wohl schlimm genug. Aber hätte ich Angst um die Demokratie und vor ihrem Ende? Nein! Das Problem ist, dass viele von diesen Demokraten und Demokratinnen gelangweilte Demokraten sind. Oder unsichere: Kleines Ja, großes Aber. Nur wie kann man ein kleines Ja haben, wenn die Alternative zur Freiheit die Unfreiheit ist? Wie kann man eine geschwächte Haltung zu dieser Demokratie haben bei all ihren Fehlern?
Wenn du hier Herrn Merz oder Herrn Klingbeil kritisierst, dann geht man anschließend gemütlich essen oder was auch immer. Ich bin aus einer Partei ausgetreten – Sie sehen mich als sehr fröhlichen Menschen! Glauben Sie, das ist in Russland möglich? Glauben Sie, das ist heute in Ungarn möglich? Alle Kolleginnen und Kollegen, ich bin ja auch Journalist und Publizist: Wie würden wir heute in Ungarn leben? Alle diese illiberalen Demokratien, was für ein furchtbares Wort, es gibt sie nicht! Die Demokratie ist nicht illiberal! Und wir müssen uns die Frage stellen, wann verhandeln wir endlich den Angriff auf die Demokratie – und mit „Wir“ meine ich alle die, die sich als Demokratinnen und Demokraten bezeichnen. Da ist doch ein großes Problem sichtbar.
Und auch das will ich sagen. Hass ist keine Meinung. Hass ist Gewalt. Hass ist Gewalt und Hass ist hungrig und wird nie satt. Aber wir, die wir sagen, wir sind Demokraten und Demokratinnen, wo sind unsere leuchtenden Augen? Momentan leuchten vor allem die Augen der Antidemokraten. Und da müssen wir uns bewusst sein, dass die größte Demokratie der westlichen Welt – und das ist die große Gefahr für uns! – neuerdings ein Repräsentant der Zerstörung der Demokratie ist. Donald Trump ist ein Zerstörer der Demokratie. Denn die Demokratie basiert auf wissenden, mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Wenn aber die Lüge die Realität ersetzt, wenn ein amerikanischer Präsident, apropos Hass, nach einer Trauerrede der Witwe eines von Terroristen ermordeten Menschen sagt, ich hasse meine Feinde und ich zerstöre sie, dann sind das Angriffe, die zum Beispiel 15-, 18-, 20-Jährige hören, und das ist demokratisch?
Ich möchte deswegen nochmal betonen und mich bedanken, dass wir heute miteinander reden konnten. Weil ich glaube, dass unsere Situation sehr ernst ist. Ich habe eine Frage gestellt und die stelle ich jetzt nochmal hier öffentlich: Können Sie mir garantieren, dass in fünf bis zehn Jahren dieses Land noch ein demokratisches Land wird? Können Sie mir das garantieren? Alleine, dass man diese Frage stellt – es ist das erste Mal in meinem Leben, und ich bin 1956 geboren, 1966 nach Deutschland gekommen, ich kenne alle Original-Nazis und, und, und … – aber allein, dass ich diese Frage stellen muss und ich weiß nicht, wie Sie sie jetzt innerlich beantworten, zeigt, dass wir in einer sehr dramatischen Situation sind. Denn wir haben zwei Säulen, wenn wir über Menschen reden. Das ist der Frieden und das ist die Freiheit. Das ist die Aufklärung, das ist die Emanzipation. Können Sie mir, kann ich Ihnen garantieren, dass wir in fünf bis zehn Jahren in einem Deutschland leben, das demokratisch ist?
Wir werden es garantieren können, wenn die Menschen, die sich Demokraten und Demokratinnen nennen, mit leuchtenden Augen dafür werben, und zwar nicht bei AfD-Wählerinnen allein, sondern primär bei uns selbst. So viel Unsicherheit, kleines Ja, großes Aber … umgekehrt müsste es sein! So. Und jetzt können wir über das Jüdische in diesem Thema reden.
Der Antisemitismus, der Judenhass ist so groß wie noch nie. Er ist Alltag. Er begleitet die Kinder, er begleitet ihre Eltern und ihre Großeltern. Die Gewalt ist strukturell vom Rechtsextremismus die größte, weil sie in den Strukturen bereits den Weg durch die Institutionen gegangen sind. Aber ehrlich gesagt, man muss es aussprechen, der Linksextremismus und der Islamismus ist mittlerweile zu einer gewalttätigen Realität jüdischen Lebens geworden. Und ich will das deutlich sagen: Wenn Juden in einem Land nicht mehr sicher sind, sind alle nicht mehr sicher!
Jüdisches Leben hat eine sehr, sehr schlechte Lebensqualität. Angst, nein Furcht – weil philosophisch beschreibt ja das Wort Furcht die konkrete Situation – ist berechtigt. Wir wissen, wie viele öffentliche Anschläge verhindert wurden. Aber wir wissen nicht, wie viele geplante Anschläge gar nicht erst öffentlich geworden sind. Nehmen Sie die letzten zwei Wochen: Hier in Deutschland eine Terrororganisation der Hamas. In Großbritannien hat sie leider zugeschlagen. Wissen Sie, was das mit mir macht? Wissen Sie, was dieser 7. Oktober in Berlin mit mir gemacht hat, als man schrie: „Tod den Juden! Nicht: „Tod den Israelis“? Und wir sind keine Stellvertreter für wen auch immer! Und ich verbitte es mir, dass ich dauernd angesprochen werde, ich soll erst mal ein Beglaubigungsschreiben abgeben, dass ich mich von Netanjahus Regierung distanziere, damit ich in einen Raum rein kann. Erstaunlicherweise – und ich bin jemand, der dagegen kämpfen würde – fragt man zu Recht keine Muslime und arabischen Menschen, sie sollen sich von der Hamas distanzieren. Aber wir Juden sollen uns zuerst einmal distanzieren, damit wir in den Raum können. Was für eine Unverschämtheit, mich überhaupt dazu zu fragen!
Ich bin deutscher Staatsbürger. Und an diesem Punkt, an dem Judenhass, gibt es ein Thermometer, das viel mehr anzeigt, als die Gefahr für Juden oder Jüdinnen. Wenn dieses Thermometer auf die Intensivstation führt, dann ist es schon sehr schwer. Und es führt auf die Intensivstation. Und warum? Weil wir nicht mehr beantworten können, ist die Demokratie in fünf bis zehn Jahren gesichert. Und damit geht es nicht um den jüdischen Menschen Michel Friedman, sondern es geht um den Bürger und Menschen Michel Friedman. Oder um Herrn Miersch. Oder um Sie! Wollen wir demokratisch leben, ja oder nein? Demokratie zwingt, wenn wir Ja sagen, uns etwas mehr zu tun, als wir bisher getan haben. Tun wir es nicht, soll bitte keiner sagen, er habe es nicht gewusst! Keiner kann sich die Hände in Unschuld waschen. Denn heute wissen wir als Zeugen unserer Zeit alles. Und deswegen bin ich sehr dankbar, dass wir heute darüber gesprochen haben.
Der 7. Oktober war noch einmal ein Kulminationspunkt, wo sich hier eine linksextremistische und islamistische, radikalisierte Bevölkerung zusammengetan haben und dachten, jetzt kann man es endlich sagen. Man kann es immer noch nicht sagen. Meine letzte Bemerkung … : Ich möchte, dass Sie sich mit mir als Mensch identifizieren und nicht mit mir als Juden solidarisieren. Ich bin nämlich ein Mensch. Und jeder ist jemand. Und ich möchte nie mehr erleben, dass es in meinem Land Menschen gibt, die bestimmen, ob ein Mensch ein Mensch ist.
Aber es passiert. Wieder. Vor unseren Augen.
Und ich bin erstaunt über die Gelassenheit. Diese Gelassenheit. Ich bin erstaunt über die Gelassenheit, weil wir in anderen Ländern sehen, wie das zerbröselt. Und wir sind auch gerade am zerbröseln. Ich bin erstaunt über die Gelassenheit von so vielen Menschen, als ob es nur über die Oberfläche ginge, die wir verhandeln. Wir sind in einem Zeitraum, in dem es um das Fundament geht. Und ich möchte eigentlich, so wie heute, einfach sagen, was ich sagen will. Ohne Angst. Hier wieder rausgehen. Einige kritisieren es. Andere finden es gut. Andere finden es bescheuert. Ja. Na und? Ich kann’s sagen ohne Angst und Furcht.
Wie lange noch? Danke!
Michel Friedman, geboren 1956 in Paris, ist Rechtsanwalt, Philosoph, Publizist und Moderator. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine, von 2001 bis 2003 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Er engagiert sich gegen Rechtsradikalismus und für die Integration Geflüchteter, moderiert u. a. die Sendung „Auf ein Wort“ bei der Deutschen Welle sowie die Veranstaltungsreihen „Friedman im Gespräch“ im Berliner Ensemble und „Denken ohne Geländer“ im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Friedman ist Herausgeber des jüdisch-liberalen Magazins Aufbau. Seine Bücher wie "Mensch - Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten", "Judenhass - über den 7. Oktober 2023" und "Fremd", erschienen im Berlin Verlag, sind Bestseller