Er war das enfant terrible des frühen Deutsch-Pop, die Texte seiner Songs („Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Keine Macht für Niemand“) können Viele auswendig, auch wenn sie nicht mehr wissen, von wem sie sind. Der Musiker und Schauspieler Peter Schneider hat Rio Reiser, dem glamourösesten Polit-Popstar, den Deutschland je hatte, jetzt ein schillerndes Diskursstück aus Wort und Musik gewidmet und entdeckt in Rio – ACHTUNG! – den Universalkünstler der Transformation. Ein Interview
Herr Schneider, wie würden Sie jemandem, der heute jung ist, erklären, wer Rio Reiser war?
Peter Schneider: Gute Frage …ich würde sagen: Er war ein Musiker und Texter, der mit deutschen Texten gearbeitet hat und versucht hat, seine Innenwelt in irgendeiner Form in Einklang zu bringen mit der Außenwelt. Einer, der immer auch an eine Utopie geglaubt hat, wie wir Menschen vielleicht zusammenleben können.
Was ist er für Sie? Sie haben ihn, glaube ich, sogar mal ein Vorbild genannt?
Er ist für mich tatsächlich in vielen Dingen, wie er sein Leben gelebt hat – und er hat es sich ja wirklich nicht immer leicht gemacht! – ein großes Vorbild, in anderen auch nicht. Wie er sich „verbrannt“ hat zum Beispiel, würde ich für mich ganz gern vermeiden. Was mir an ihm gefällt, ist, dass er nie wusste, wie’s geht: Er hatte immer die Offenheit, sich im Zweifelsfall am Zweifel festzuhalten, dem nachzuspüren und nicht den leichten Weg zu gehen – also beispielsweise eine Ideologie zu übernehmen, weil man sich mit einer Ideologie im Rücken nun mal sicherer fühlt in der Kunst. Das sind so Sachen, wo er wirklich ein Vorbild ist für mich und da begleitet er mich jetzt seit 35 Jahren! Über die Zeiten konnte ich ihn immer wieder neu kennenlernen – und hab dabei auch viel über mich selbst gelernt.
Vor unserem Gespräch habe ich lang darüber nachgedacht, was das Verbindende zwischen euch sein könnte, denn ganz so einfach ist es ja nicht: Reiser war sehr politisch, er war impulsiv und extrovertiert, eine Persönlichkeit mit stark narzisstischen Anteilen. Sie dagegen erlebe ich (zumindest in Ihren Rollen) als auffallend introvertiert. Auch sonst machen Sie wenig Gewese um sich. Das sind nicht wirklich viele Parallelen …
Ich empfinde Rio gar nicht als extrovertiert, ehrlich gesagt! Extrovertiert war er nur in der Ausübung seiner Kunst. Aber persönlich? Privat? Viele wissen nicht mal, dass er homosexuell war zum Beispiel, weil er das als so normal empfunden hat, dass er gar nicht auf den Gedanken gekommen ist, das zu thematisieren. Weil es ja eigentlich auch egal ist. Das Ziel von Gesellschaft ist doch, dass es keine Rolle spielt, ob jemand homosexuell ist, nonbinär oder was weiß ich. Wichtig ist, dass eine Gesellschaft die Offenheit hat, dass es egal ist, und da fühle ich mich Rio sehr verbunden. Extrovertiert war er in seinem Entäußerungswillen auf der Bühne. Das bin ich auch. Sonst hätte ich auch nicht Schauspieler werden können.
Zwischen Ihnen und Reiser liegen Generationen und Welten. Reiser, Jahrgang 1950, war ein Kind der Bonner Republik. Sie sind 1975 geboren, DDR-sozialisiert und dann ex und hopp hinein katapultiert worden in den kapitalistischen Westen. Das ist schon ganz was Anderes, oder?
Ja, klar, das war eine Riesen-Transformation, die da stattgefunden hat in der Ex-DDR, nach der Wende, und ich war damals in der Pubertät! Das heißt: Ich hab eine Welt in Frage gestellt, die plötzlich nicht mehr existiert hat und hab dann eine Transformation miterleben können, die wahrscheinlich einmalig ist in der Welt – dass ein Land aufgelöst wird und alles, was war, nicht mehr gilt. Autoritäten haben sich aufgelöst. Für meine Eltern oder überhaupt für die Elterngeneration muss sich das angefühlt haben, als ob damit auch eine Lebensvergangenheit ausgelöscht würde, weil alles neu war. Ich dagegen hab das als Riesenchance empfunden, als etwas sehr, sehr Positives, weil mir plötzlich die Welt offen stand und weil ich jung – und alt – genug war, daraus was zu machen und das auch so empfinden zu können. Die Wende war ein Riesengeschenk, wobei der Transformationsprozess selbst aber beschissen gelaufen ist. Nicht für mich. Aber im Großen. Und daran knabbern wir ja bis heute als gemeinsames Land. Als vereintes Land. Und die Schnittstellen zu Rio sind da halt gewesen, dass er Transformationsprozesse immer von sich aus aktiv angegangen ist.
Beispiel?
Zum Beispiel, als er sich irgendwann aus der Intoleranz der Linken in West-Berlin zurückgezogen hat, weil er sich und seine Band Ton, Steine, Scherben von diesem Gesinnungsterror nicht weiter vereinnahmen lassen wollte. Sein Plan war: „Wir müssen die Produktionsmittel besitzen, damit wir unabhängig sind vom System, damit wir wirtschaftlich und politisch unabhängig agieren können.“ Weil er der Einzige aus dem Scherben-Kosmos war, der kreditwürdig war, hat er sich dafür dann bis über beide Ohren verschuldet, einen Bauernhof gekauft, ein Studio dort gebaut, also nach einem durch und durch kapitalistischen Prinzip eigentlich dort gelebt, gekämpft und gearbeitet für eine künstlerische Unabhängigkeit – und das ist ihm dann schwer verübelt worden, als er irgendwann von diesen Schulden nicht mehr runtergekommen ist und den Deal mit Sony gemacht hat mit „König von Deutschland“. Weil er einfach Geld verdienen musste. Das ist so ne Ambivalenz und Ambiguität, die ich total faszinierend finde und wo’s ne Riesen-Schnittstelle auch zu mir selbst gibt und übrigens auch zu anderen, großen Künstlern.
Nämlich?
Bei unserem Abend kommen u.a. Texte von Marina Abramović oder auch Thomas Brasch vor, der sich nach seinem Weggang aus der DDR in die BRD Mitte der 1980er-Jahre auch entscheiden musste, ob er nun mit der Macht kooperiert oder in die private Kunstproduktion geht. Das ist eine Frage, die mich selbst in meinem realen Leben auch immer wieder beschäftigt: Wie kriegt man das hin, dass man wirtschaftlich und politisch unabhängig agieren kann und sich trotzdem in seiner Kunst sichtbar und hörbar entäußern kann? Rio hat das auf eine ganz existenzielle Weise beschäftigt. Er hat immer gesagt: „Da kämpfen zwei Mächte in mir. Die eine sagt: Live fast, die young! Die andere: Mach weiter, mach weiter Rio, werde am besten 100 Jahre alt und sieh zu, dass du Dinge bewegst! Und ich weiß nicht, welche Macht da irgendwann die Oberhand behält.“ Wir wissen’s jetzt. Denn er ist ja viel zu früh, mit 46 Jahren, gestorben …
Wann/wo/wie hat die Geschichte mit Reiser und Ihnen eigentlich angefangen?
Ich glaube, dass es diese Auftritte in der Werner-Seelenbinder-Halle waren, 1988, als Rio auf Einladung der FDJ in Ostberlin gesungen hat. Selbst dort, in diesem System, das ja philosophisch betrachtet vielleicht das bessere und erstrebenswertere ist, wenn es nicht so schlecht umgesetzt worden wäre, hat man ihm ja reingeredet. Man verlangte von ihm, dass er Textpassagen seiner Lieder weg lässt („Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit wird? Ich weiß nur eins und da bin ich sicher: Dieses Land ist es nicht!“). Er hat sie dann aber trotzdem gesungen bzw. sogar vom Publikum singen lassen! Damals, mit 12 oder 13, bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Später, nach der Wende, gab’s natürlich die Möglichkeit, das aufzuarbeiten. Es gab diese Schnittstelle in Chemnitz, da hat er eine Uraufführung gemacht von „Knock out Deutschland“, da ging’s ihm schon schlecht – es gibt dort diesen Fleck im Kapellmeisterzimmer und ich hoffe, den gibt’s bis heute! – wo ihm eine Rotweinflasche umgefallen ist. Das war Mitte der 90er-Jahre. Zu der Zeit hab ich bereits Musik studiert. Da wurde es dann richtig intensiv, weil seine Herangehensweise für mich einfach gepasst hat, als ich anfing, Bühnenmusiken zu schreiben.
Der späte Rio Reiser wirkte oft erschöpft und müde. Politisch hatte er sich mit seinen Scherben innerhalb des Spektrums der Linken von den 68er-Protesten über die Einsätze als Wahlkampf-Lokomotive für SPD (1976) und Grüne (1983) bis hin zur – vorübergehenden – Mitgliedschaft in der PDS verschlissen und letztlich wohl auch verkämpft. War er ein sympathischer Loser?
Ich glaube nicht. Ein Loser ist ja immer auch fremdbestimmt und genau das war er nicht. Er hatte im Gegenteil einen großen Glauben daran, dass man sein Leben und sein Schicksal in der Hand hat und mitbestimmen kann. Das gefällt mir an ihm. Da sind wir uns auch nah.
„Der Traum ist aus“, heißt der Song, über den wir vorhin gesprochen haben, Ihr Rio-Initiationssong sozusagen. Ihre Show heißt nun: „Der Traum ist aus aber…“ Wie darf man das verstehen?
Das hat was mit meinem Glauben zu tun! Es ist ja das Tolle an Rio, dass es immer Hoffnung gibt in seinen Texten. Das heißt: Richtig verstanden kann man diesen Satz von ihm – wenn man ihn aufgreift – als Individuum nicht stehen lassen. Deshalb habe ich da „aber…“ geschrieben, auch wenn ich, wie Rio, nicht weiß, wie’s geht. Aber: Ich glaube daran, dass ich dazu beitragen kann.
Wie sind Sie darauf gekommen, ein Stück über ihn zu schreiben?
Das war, als ich mich mit Thomas Brasch, mit Christoph Schlingensief auch beschäftigt habe und plötzlich merkte, dass sie alle irgendwann vor der Frage standen, wie man sich als Künstler in dieser Gesellschaft überhaupt verorten kann. Ein Beispiel ist die Corona-Zeit, wo man als Künstler unfassbar damit konfrontiert wurde, wie nicht systemrelevant wir eigentlich sind. Ich bin aber der Meinung, eine Gesellschaft braucht ihre Künstler – genauso wie sie ihre Kneipen braucht, ihre Konzerte. Das alles spielte plötzlich keine Rolle mehr. Das war ja eine Branche, die damals komplett abgeschaltet wurde, über Jahre letztlich, und höchstens zwischendurch mal wieder angeschaltet wurde, so dass man sich fragen konnte: „Hey, warum sind jetzt nicht mal die Fließbänder bei BMW oder bei Porsche dran?“ Dass die jetzt mal ne Pause machen. Und wir spielen wieder mal!
Ist es Zufall, dass Sie mit dem Stück gerade jetzt, vor der Bundestagswahl, durch Deutschland touren?
Nee, äh, ja (lacht)! Mein Gefühl war schon, dass es bald Neuwahlen geben könnte, dass diese Regierung sich vielleicht bald auflöst. Aber das ist wirklich Zufall! Mein Wunsch oder die Idee hinter der Tour ist, dass ich an Theater zurückkehre, an denen ich irgendwann gespielt hab vor Jahren, und dass ich dort Menschen treffe, mit denen ich eine tolle Zeit hatte, wo es ein Ergebnis gab, eine gute Zusammenarbeit auch mit Zuschauerinnen und Zuschauern. Wo man etwas zusammen erlebt hat. In Regensburg habe ich bisher nicht gespielt. Aber da ist die Maxi Ratzkowski, die ich aus Zittau kenne, gerade Chefdramaturgin. Das alles ist schön, weil mir das Theater wegen meiner Dreharbeiten fürs Fernsehen schon auch fehlt. Ich war zwar nie fest irgendwo, immer Gast, aber selbst das ist schwierig geworden, weil sich die beiden Branchen – fatalerweise – immer schlechter verstehen. Die Theater stehen unter einem immer größerem Druck zu produzieren und brauchen die Leute dann fest, um fünf Premieren pro Spielzeit spielen zu können. Dann könnte ich aber keine Filme mehr machen und das will ich natürlich auch nicht. Insofern habe ich mein Rio-Stück dann selber produziert und versuche, diese Tour hinzukriegen, die ja auch noch nicht abgeschlossen ist.
Was würde Rio beim Blick auf die aktuelle Verfasstheit der Republik sagen/ machen/ tun?
Ich weiß es nicht. Das ist eine Frage, die man seriös eigentlich nicht beantworten kann. Grundsätzlich hat Rio immer was Verbindendes gehabt. Er wollte nie, dass so ein Riss durch die Gesellschaft geht. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass er angesichts der Verwerfungen und Kulturkämpfe, wie wir sie gerade erleben – den Klimawandel, die Kriege, den fehlenden Frieden – einfach auf Tour gehen würde, um den Menschen zwei oder zweieinhalb Stunden zu geben, in denen sie beieinander sind und es vielleicht sogar schaffen, in irgendeiner Form wieder eine Verbindung herzustellen zueinander. Auch wenn sie politisch nicht einer Meinung sind. Kann sein, dass er sowas machen würde. Unser Stück, das kann ich verraten, ohne jetzt allzu viel zu spoilern, ist jedenfalls so gedacht.
Sie haben sich schon immer gern auf Experimente zur Erkundung des Landes eingelassen – ein Beispiel dafür ist Ihre Arbeit mit Edgar Reitz in „Heimat 3“, Untertitel: „Chronik einer Zeitenwende“. Darin geht es um Deutschland nach dem Fall der Mauer. Wie haben Sie den Dreh 2002/2003 erlebt?
Mit Reitz zu arbeiten, war natürlich eine Meisterschule! Da habe ich so viel mitgenommen: Wie man Filme macht, wie man an Figuren herangeht, wie man auch so ein Drehbuch in Bewegung lässt, indem man erstmal guckt, was die Schauspieler:innen mitbringen, was sie an Talenten haben. Da ist der Edgar ja ganz groß und arbeitet das dann ein. Das war für mich unfassbar prägend als Schauspieler! Es hat meine Sicht auf das, was ich tue, wie ich es tue, wie ich es angehe auch in dieser Offenheit und Uneitelkeit, die der Edgar ja hat, verändert. Und es hatte natürlich auch sehr, sehr viel mit der Lebensrealität zu tun, aus der ich kam. Im Film war ich einer von vier Ossis, der im Hunsrück sein Glück findet und dort auch bleibt. Tatsächlich sind aus meinem Abi-Jahrgang nach der Wende bestimmt drei Viertel in den Westen gegangen, weil’s im Osten keine Arbeit gab oder weil sie sich davon generell mehr erhofften. Viele haben auch ne Sehnsucht zurückzugehen, kriegen’s aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht hin.
Die jüngsten Wahlerfolge der AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben dazu geführt, dass man im Westen mit dem Finger auf den Osten zeigt nach dem Motto: Die schon wieder! Sind halt in der Diktatur groß geworden und können nicht anders! Wie finden Sie das?
Das ist totaler Schwachsinn! So einfach ist die Welt halt leider nicht. Das ist eine viel komplexere Geschichte und um das zu erkennen, genügt ein Blick auf Europa und die Wahlergebnisse in Europa. Gucken Sie nach Österreich! In die Niederlande. Nach Frankreich. Oder Italien. Da wird einem schnell klar: Das Normale und der Durchschnitt sind die Wahlergebnisse im Ostdeutschland, nicht normal sind die Ergebnisse im Westen. Dieser fürchterliche Rechtsruck ist kein Ost/ West-Problem, sondern ein Transformationsthema und dass das bei uns erst jetzt ankommt, liegt daran, dass andere Länder viel früher in große gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme gerutscht sind. Die Folge solcher Krisen ist, dass Menschen sich oft nicht mehr wahrgenommen fühlen, dass sie sich radikalisieren oder zumindest radikal wählen. Westdeutschland hat nur den Vorteil, dass es da über Jahre noch viel, viel besser lief, was die Wirtschaft betrifft, die Löhne, die Möglichkeiten an sich. Ich meine: Wer hatte nach der Wende in Ostdeutschland schon Geld? Wer hat all die Straßenzüge in Leipzig mit den alten Jugendstilhäusern gekauft und saniert? Das waren nicht wir hier ausm Osten. Das war westdeutsches Geld! Natürlich ist es schön, dass die Häuser jetzt alle toll aussehen. Aber sie gehören eben nach wie vor nicht den Menschen, die hier leben. Man darf auch nicht vergessen …
Ja?
…dass der Osten so eine Transformationserfahrung schon mal gemacht hat. Wenn man da nicht ganz behutsam Lösungsvorschläge macht etwa bei der Wende hin zur CO2-Neutralität, wenn man da als Staat keine Lösungen anbietet, wenn man das so möchte, machen die Menschen zu. Weil die haben das schon mal durch. Hier war in jeder Wohnung ein Kachelofen, der mit Kohle geheizt wurde – und dann sollten plötzlich Gasheizungen eingebaut werden. Leisten konnten sich das wieder nur die Leute mit Geld, in der Regel aus Westdeutschland. Dann gibt’s eine Generation im Osten, die sich was aufbauen konnte, Gott sei Dank, Menschen zwischen 50 und 80 sage ich mal, die haben vielleicht ihre Kredite jetzt auch abbezahlt, und dann kommt jemand und sagt nicht, wir bieten euch einen Fernwärmeanschluss an als Staat, sondern: „Ihr müsst!“ Und: „Wir verbieten“. Aber da sind die Menschen im Osten nun mal ganz anders sensibilisiert. Sie haben schon immer ein Misstrauen gegenüber der Macht. Und das hat nichts mit psychischer Deformation zu tun!
In jüngster Zeit sind eine ganze Reihe von Büchern vorwiegend ostdeutscher Autor:innen erschienen, die jedes auf seine Art versuchen, Deutschland den Deutschen zu erklären. Welches Buch aus der Abteilung Hoyer/ Oschmann/ Kowalczuk/ Mau muss man Ihrer Meinung nach gelesen haben, um dieses Land zu verstehen?
Ich bin bei Oschmann und Mau, auch wenn das unlogisch klingt, ich bin bei beiden. Oschmann, der sagt, der Osten sei eine Erfindung des Westens, fasst gut zusammen, was viele Menschen spüren und in irgendeiner Form auch wissen. Zum Beispiel gab es in ganz Deutschland bis vor wenigen Jahren keinen einzigen Universitätsrektor und auch keine Rektorin mit ostdeutscher Sozialisation, jetzt gibt es eine Frau. Oder gucken Sie mal, wie die Staatssekretäre aufgeteilt sind! Ich bin ein Gegner von Quoten, aber hier müsste man vielleicht tatsächlich mal über eine Quote reden. Das Buch von Oschmann ist jetzt keine Literatur, aber er belegt mit Quellenangaben das Gefühl der Unterrepräsentation dieses Teils des Landes, das da angeschlossen wurde. Eine Lösung hat er nicht. Mau sieht die Probleme auch, geht aber anders damit um und liefert in seinem Buch („Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt“) Lösungsansätze, die ich wirklich nicht schlecht finde. Insofern bin ich bei beiden eigentlich. Oschmanns Hypothese ist natürlich provokant, im Grunde aber auch nichts Anderes als wenn ich jetzt sagen würde: Ich fordere in der Filmbranche eine Quote Ost, bei den Produktionsfirmen, auf der Regieebene usw., wobei bei den Schauspielerinnen und Schauspielern zum Beispiel sich das super durchmischt aus irgendeinem Grund, was ich sehr genieße. Aber es gibt nach wie vor ganz wenige ostdeutsche Produktionsfirmen. Es gibt wenige ostdeutsche Regisseurinnen und Regisseure. Und wenn man über Diversität spricht, finde ich’s auch wichtig, dass man das mit einbezieht.
Sie sind in Leipzig geboren, in Zeitz aufgewachsen, haben in Leipzig Musik und Schauspiel, Germanistik und Pädagogik studiert und leben bis heute da. Warum ist die Stadt für Sie der place to be?
Ich bin so’n Schollenmensch, glaube ich, der seine homebase braucht. Mein Bruder lebt hier, Zeitz ist 35 Kilometer weg, da leben meine Eltern, mein Freundeskreis ist hier, meine Familie im weitesten Sinn. Ich hätte natürlich nach dem Studium überall hingehen können, irgendwie habe ich dann aber gedacht, warum. Es ist doch okay! Leipzig liegt so in der Mitte von Deutschland, man kommt gut weg, überall hin, es ist irgendwie nichts weiter als 500 Kilometer entfernt und arbeiten kann ich überall. Die Stadt hat auch ne nette Größe, ist zwar eine Großstadt, aber keine so erdrückende, nicht riesig groß (lacht) und ich hab hier meinen Kiez, meine Freunde und Freundinnen. Es gab nie einen Grund wegzugehen. Vielleicht mach ich das irgendwann mal noch, woanders leben, ich hab da auch ne Sehnsucht. Weil ich’s nie gemacht hab. Weil ich auch eine Verantwortung hatte für die Dinge, die hier stattfinden wie meine Band und so. Vielleicht mach ich’s noch. Aber zur Zeit bin ich eigentlich sehr zufrieden so.
Von allen „Polizeirufen“, die es im Moment in Deutschland gibt, haben Sie sich für den aus Halle entschieden. Ich find das super, weil es da in meiner Welt nach dem Abgang von Charly Hübner in Rostock so eine Leerstelle gibt. Trotzdem oder gerade deshalb die Frage: Warum musste es Halle sein?
Für mich ist das ne Traumzusammenkunft von vier Leuten: Thomas Stuber und Clemens Meyer schreiben das. Stuber führt Regie. Und Peter Kurth und ich sind die Kommissare. Peter kenn ich noch aus Studienzeiten, er hat in Leipzig am Schauspielhaus gearbeitet, war auch Dozent bei uns. Mit Stuber haben wir beide schon gearbeitet. Und Meyer ist eh das Gedächtnis meiner Generation durch „Als wir träumten“, den kenne ich natürlich auch schon sehr lange und sehr gut. Insofern ist einfach diese Konstellation aus den Menschen – und natürlich die Bücher, die Stoffe, die wir da beackern und miteinander umsetzen dürfen – für mich schon was Besonderes. Da stimmt alles! Auch, dass es Halle ist! Ich hab da sehr, sehr viel auch am Theater gearbeitet, war da zu DDR-Zeiten an der Spezíalschule für Musik von der fünften bis zur zehnten Klasse, da gibt’s ne Riesenbeziehung zu Halle und ich finde, Halle geht immer, ungerechter Weise, im Schatten von Leipzig so unter. Oder von Magdeburg. Deshalb freut’s mich total, dass sie jetzt den „Polizeiruf“ haben. Halle ist so ein geschundenes Kind irgendwie, das immer hinten runter fällt. Tatsächlich ist das eine ganz, ganz tolle, interessante, liebenswerte Stadt. Auch die Menschen sind toll da. Und (lacht), dass ich meinen Rio-Abend dort demnächst wieder spiele! Der ist ja schon mal am Neuen Theater in Halle gelaufen und kommt jetzt wieder, im Januar. Auch darauf freue ich mich.
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Rio Reiser war Sänger, Liedtexter, Schauspieler und Aktivist. 1970 gründete er mit anderen die Band Ton Steine Scherben, die zum Sprachrohr der Gegenkultur der 1970er-Jahre wurde. Nach Auflösung der Scherben 1985 veröffentlichte Reiser sechs Soloalben, die seinen ikonenhaften Status ("König von Deutschland") als Songwriter und Musiker bis in den Mainstream hinein festigten. Reiser schrieb zahlreiche Bühnenstücke, war als Schauspieler in Filmen und TV-Serien ("Tatort") zu sehen. Legendär ist sein Headliner-Auftritt vor 100.000 Zuschauern beim Anti-WAAhnsinns-Festival 1986 in Wackersdorf - Peter Schneider ist als Schauspieler, Musiker, Komponist und musikalischer Leiter am Theater tätig (Volksbühne Berlin, HAU Berlin, Schauspiel Leipzig, Chemnitz u.a.) Seit der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz 2002/2003 arbeitet er als Schauspieler verstärkt für Film und Fernsehen. Für die Rolle des jungen, psychisch kranken Mathematikers Martin Blunt in Hans Weingartners "Die Summe meiner einzelnen Teile" war er 2012 für den deutschen Filmpreis (LOLA) in der Kategorie "Beste darstellerische Leistung männliche Hauptrolle" und 2013 für den Preis der deutschen Filmkritik nominiert