„Monschau“ ist der Roman zur Pandemie, von dem es hieß, dass ihn keiner braucht und keiner liest – jetzt musste innerhalb eines Vierteljahres sechsmal nachgedruckt werden. Aus gutem Grund: Steffen Kopetzky hat aus einer historischen Geschichte über den Ausbruch der Pocken 1962 einen paradigmatischen, politischen, stellenweise märchenhaften Unterhaltungs- und Gesellschaftsroman gemacht. Ein Interview

0941mag: Steffen, Ihr aktueller Roman ist im März erschienen, mitten in der dritten Welle der Corona-Pandemie. Ich nehme an, die Stehparty zur Veröffentlichung bei Rowohlt in Berlin ist ausgefallen?

Ja, klar. Der Roman kam ohne die übliche Buchpremiere heraus. Die war zwar geplant, wurde dann aber ein paar Mal verschoben und schließlich abgesagt. Zwischendurch hatte ich aber mal eine erste Lesung online, die überraschend schön war. So heimelig irgendwie.

Hatten Sie beim Schreiben mal Zweifel, ob „Monschau“ das richtige Buch zur rechten Zeit ist? Ob ein Roman über den Ausbruch der Pocken im Jahr 1962 nicht doch too much sein könnte für potenzielle Leser*innen in diesen Zeiten?

Das Gefühl hatte ich nie. Ich war überzeugt, dass die Geschichte dieser kleinen Epidemie im Monschauer Land ein exzellenter Stoff fürs Hier und Jetzt sein würde, daran hatte ich keine Zweifel. Nur vielleicht an meiner Fähigkeit, ihn zu gestalten. Aber die hat man als Schriftsteller ja immer.

In den Feuilletons wurde früh gewettet, wer den ersten Roman zur Pandemie schreibt – und damit auf die Nase fällt. Beschäftigt einen so was?

Ich hab’ davon gar nichts mitbekommen! Was bei mir ankam – und zwar bereits in einem sehr frühen Stadium, als „Monschau“ noch gar nicht fertig war und im Grunde nur bekannt war, worum es in etwa darin ging – war ein starkes Interesse des Buchhandels und bestimmter Lesergruppen. Das spornt einen natürlich an.

Hat Corona Sie auf die Idee gebracht, über die Pocken in Monschau zu schreiben?

Ja. Ohne Corona hätte ich mich meinem längst beschlossenen anderen Projekt weiter gewidmet, an dem ich gedanklich schon lange saß, einem Roman über die 20er- und 30er-Jahre. Diese Arbeit habe ich dann unterbrochen, weil mir eingefallen ist, dass es in der Biografie einer Figur aus meinem letzten Roman („Propaganda“) auch eine wichtige Episode zur Pocken-Epidemie in Monschau gab.

Mit der Figur meinen Sie Günter Stüttgen? 

Genau. Der Wehrmachtsarzt, der im Zweiten Weltkrieg auch vielen amerikanischen Soldaten das Leben gerettet hat – und später maßgeblichen Anteil daran hatte, dass die Pocken in Monschau zurückgedrängt werden konnten.

Stüttgen hat es wirklich gegeben? 

Ja, er ist später ein weltberühmter Dermatologe geworden, hat sich aber nie groß gebrüstet mit dem, was er während des Krieges geleistet hat. Er hat weder seiner Familie noch seinen Freunden davon erzählt. Erst, als die Amerikaner sich nach dem Krieg bei ihm meldeten und wissen wollten, ob er der „German Doctor“ sei, von dem viele GIs aus dem Hürtgenwald in den so genannten „Combat-Interviews“ erzählten, räumte er ein: Ja, das sei er. Seine Witwe hat mir dann erzählt, dass er während seiner Zeit als Professor für Dermatologie in Düsseldorf noch eine andere „Heldentat“ vollbracht habe, nämlich das mit den Pocken in Monschau.

„Heldentat“?

Darüber bin ich auch gestolpert. Ich konnte mir im Juni 2019, kurz vor Erscheinen von „Propaganda“, nicht vorstellen, welche Heldentat man im Zusammenhang mit den Pocken vollbringen könnte – ich kannte die Pocken ja nur von meiner Impfung als Kind. Ich sah die Turnhalle wieder vor mir, wo ich zusammen mit vielen anderen Kindern den Pockenstempel bekam. Wo war denn da die Heldentat, dachte ich. Aber ich kenne die Pocken halt nur aus der Epoche, als man schon dabei war, sie auszurotten, weltweit koordiniert von der WHO. 1962 dagegen konnte die Krankheit noch überall und jederzeit ausbrechen – eine Situation, wie wir sie jetzt mit Corona wieder erleben. Da hat’s bei mir gefunkt. Ich hab’ gemerkt, dass das ein Stoff ist.

„Monschau“ zeigt, wie ein Virus eine Gesellschaft kirre machen kann. Die Parallelen zur Pandemie von heute sind nicht zu übersehen: Auch in „Monschau“ werden Ärzte und Wissenschaftler schnell von respektierten Autoritäten zu Hassfiguren. Es werden Sündenböcke gesucht. Wirtschaftlicher Profit ist wichtiger als das Leben und die Gesundheit von Menschen.

Ja, man sieht, wie die Dinge instrumentalisiert werden von Leuten, die eigentlich ganz andere Zwecke verfolgen. In „Monschau“ plant der Geschäftsführer eines aufstrebenden Unternehmens eine Intrige. Für die Transformation des bodenständigen Betriebs hin zum Global Player ist diesem Menschen jedes Mittel recht – auch, weil er sich davon einen großen Karriereschritt erhofft.

Dieser Mensch, Richard Seuss, wie er im Roman heißt, gehört zu einer Seilschaft alter Nazis, deren Einfluss bis in die politische Landschaft jener Jahre hinein reicht, mit Kontakten vor allem in die FDP. Ist das historisch haltbar?

Ist es, ja. Recherchehintergrund für mich war hier ein analytisches Sachbuch aus dem Jahr 1962 mit dem Titel: „Gibt es eine rechte Verschwörung?“ Da werden alle Parteien, alle Strömungen untersucht, und es war interessant zu sehen, wie viele Parteien nach dem Krieg mit der expliziten Absicht gegründet worden sind die gigantische Masse ehemaliger NSDAP-Parteimitglieder, die es noch gab, irgendwie zu integrieren. Am Ende sind alle gescheitert, nur die FDP hat’s geschafft und hat sich etablieren können. Das war mir neu.

So tricky, wie Richard Seuss agiert, würde er auch gut zu den Querdenkern von heute passen …

Dieses Phänomen finde ich das eigentlich Spannende an der Geschichte: Wie sich die Muster gleichen, wie auch jetzt in der Corona-Pandemie wieder Ängste geschürt werden von den Leuten dahinter, denen es nicht um das Wohl der Menschen geht, sondern um etwas ganz Anderes – in diesem Fall darum, unseren Staat zu denunzieren und vorzuführen.

Ihr Roman atmet förmlich den Geist der Wirtschaftswunderjahre – bis in kleinste Feinheiten. Zum Beispiel würde sich heute niemand mehr länger als nötig an einer Tankstelle aufhalten, nur weil er findet, dass das Benzin gut riecht. Und auch die Zeiten, in denen man mit einer Schachtel Stuyvesant Eindruck schinden konnte, sind lang vorbei. Haben Sie viel zur damaligen Zeit recherchiert? 

Wie man eine Zeit verdichtet:: Recherchematerial Kopetzkys aus den 60ern / Foto: privat

Ein bisschen! Als jemand, der 1971 geboren ist, habe ich die Zeit des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders ja nicht selbst erlebt. Mein Bruder, der 1962 auf die Welt kam, ist da näher dran. Andererseits haben sich die Dinge damals ja nicht von heute auf morgen geändert, sondern nur sehr langsam. Als ich mit 16 in den Schulferien auf dem Bau gearbeitet habe und der Chef kam vorbei, wurden als Zeichen der Wertschätzung auch immer noch Zigaretten gereicht. Gut, in dem Fall waren’s Ernte 23. Aber ich hab’ in diese Zeiten schon noch hinein geschmeckt und hab’ noch eine Vorstellung von diesen bescheideneren und wirtschaftlich dynamischen Jahren. Ansonsten habe ich natürlich viel gelesen, Filme geschaut, und habe auch versucht, mich der Zeit emotional anzunähern.

Wie das?

Naja, von heute aus betrachtet scheint sie weit weg. Aber vom Ende des Krieges, von der Stunde Null her gesehen, waren es 17 Jahre. Also habe ich versucht, mir vorzustellen, wie das wohl war, 17 Jahre nach einem verheerenden Krieg? Dass da die Gesellschaft wund war, dass es Leute gab, die ihre Verletzungen an Körper und Seele mit sich herumtrugen und so das Weichbild der Zeit geprägt haben. Daran kann selbst ich mich noch erinnern. An der Pforte des Krankenhauses in Pfaffenhofen zum Beispiel, saß ein Mann, dem der Ärmel hochgebunden war, weil er nur noch einen Arm hatte. Ich hatte selbst einen kriegsversehrten, ertaubten Großonkel. Man sah ständig Leute mit Blinden-Abzeichen oder an Krücken. Diese hochgebundenen Ärmel oder Hosenbeine waren omnipräsent, das hat sich mir eingeprägt. Die Gesellschaft war malad. Ausgeheilt war da nicht viel.

Als sich Günter Stüttgen und sein junger Assistenzarzt Nikolaos Spyridakis im Winter 1962 als Nothelfer auf den Weg nach Monschau machen, hat es ordentlich Schnee.  Schnee, der vieles, aber nicht alles schluckt – ein schönes und gespenstisches Bild zugleich, wenn man bedenkt, wie groß die Sehnsucht nach Normalität in der Nachkriegsgesellschaft gewesen ist, nach dem Abschütteln von Schuld und Last der Nazi-Jahre. Wundern Sie sich manchmal, wie schnell die Menschen damals wieder ihren Alltag gelebt haben?

Ja, das ist verblüffend. Aber ich denke: Der Mensch ist so! Adenauer hat diesen Prozess noch beschleunigt, indem er versucht hat, gesellschaftlich möglichst schnell wieder in eine Normalität zu kommen. Die große Verdrängung, die da stattgefunden hat, die Wunden, über die nicht gesprochen wurde, die brachen dann erst 1968 auf, als vor allem junge Leute anfingen, Fragen zu stellen.

Für diesen frischen Wind steht im Roman die Unternehmenserbin Vera Rither. Eine junge Frau neuen Typs, die mit einem Stapel Jazz-Platten aus Paris kommend nicht nur die Verhältnisse in Monschau zum Tanzen bringt, sondern auch Nikolaos Spyridakis. Die Liebesgeschichte der beiden liest sich wie ein Märchen. Hat es Spaß gemacht, das so aufzuschreiben?

Ja, sehr! In dem Stoff stecken ja eigentlich alle Elemente eines klassischen Ritterromans.

Ah ja?

Klar! Die Geschichte spielt in einem abgelegenen Land. Da gibt es eine Burg, in diesem Fall eine Fabrik. Dort ist ein Übel ausgebrochen – das könnte ein Drache sein, eine Hexe, ein Zauberer oder eben die Pocken – und es werden Ritter gerufen, um das Übel zu bekämpfen. Die Ritter sind hier Ärzte und natürlich kommt es irgendwann zur Begegnung eines jungen Ritters mit der Prinzessin. In dem Sinn habe ich den Roman angelegt. Und es war tatsächlich sehr schön, das so aufzuschreiben.

Schlimm, dass ich statt an einen Ritterroman an Johannes Mario Simmel dachte, den Großmeister des deutschen Unterhaltungsromans aus den 60er-Jahren, von dem Sie sich da möglicherweise haben inspirieren lassen? 

Sagen wir so: Anleihen bei einem mit sehr hohem, zuweilen filmischen Tempo geschriebenen Roman à la Simmel sind da. Aber da es in dem Roman ja auch um die Entstehung der Industrie und ihre prägende Bedeutung für die deutsche Gesellschaft geht, gibt es auch viele Verweise auf die Romantik, auf Märchen wie Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“, in dem man genau diese Entwicklung gespiegelt sieht. Auch Goethe ist eine wichtige Referenzfigur. Er war ja der erste, der in seiner Autobiografie über die Pocken geschrieben hat – ein vehementer Verfechter der Impfung übrigens. Zwischen Goethe und Simmel ist also eine recht eigene Mischung an literarischen Reverenzen entstanden.

Apropos Eigenheiten: Hat sich die Wiederkehr von Günter Stüttgen aus „Propaganda“ in „Monschau“ bewährt? Zwei Romane auf diese Art zu verschränken, ist ja nicht ohne Risiko: Wer das eine Buch nicht kennt, dem fehlt die Vorgeschichte des zweiten.

Man kann „Monschau“ lesen, ohne „Propaganda“ zu kennen. Umgekehrt begegnet, wer „Propaganda“ kennt, in „Monschau“ einer vertrauten Figur in derselben Landschaft, nur siebzehn Jahre später, und wird dieses Buch – hoffentlich! – mit noch größerem Vergnügen und Erkenntnisgewinn lesen. Die Möglichkeit, Figuren wieder auftauchen zu lassen bei nicht auserzählten Geschichten, fasziniert mich einerseits selbst. Aber auch von Lesern weiß ich, dass sie das schätzen.

Das heißt: Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir auch Vera und Nikolaos in einem Ihrer nächsten Bücher wieder begegnen?

Absolut nicht, nein! Auch in meinem neuen Roman über die 20er- und 30er-Jahre tauchen ein, zwei Figuren wieder auf und zwar aus „Risiko“. Thema von „Risiko“ war damals ja der 1. Weltkrieg und die Erfindung des Dschihad als politisches Instrument – und das neue Buch schließt daran an.

Beim Lesen Ihrer Romane denke ich oft, ich würde auch gern den Film oder vielleicht die Serie dazu sehen. Tut sich was in dieser Richtung?

Tatsächlich, ja! Bereits zwei Wochen nach Erscheinen von „Monschau“ haben sich mehrere Produktionsfirmen gemeldet, die die Rechte an der Geschichte kaufen wollten, mit einer davon sind wir auch einig geworden.

Bei „Monschau“ wäre auch die Musik zum Buch keine schlechte Idee, oder? Wie viele Stunden Miles Davis, Twist oder 60er-Jahre-Karnevalsschlager haben Sie bei der Arbeit am Roman gehört? 

Ich mag’s, wenn so ein Soundtrack entsteht, der sich mit der Arbeit verbindet. Das hatte ich bisher eigentlich bei jedem Buch. Aber dass die Musik eine tragende, dramaturgische Rolle spielt, war jetzt das erste Mal – und eine echte musikalische Entdeckungsreise. Ich hab’ ja in den 80er-Jahren selbst Schlagzeug gespielt. Jazz, Funk, Rock-Jazz, das war so meine Welt und es war vor allem Miles Davis, den wir damals alle wahnsinnig bewundert haben. Davis hatte zu dem Zeitpunkt gerade den Rock Jazz etabliert. Jetzt zu sehen, dass er auch schon in den frühen 60ern ein Pionier war und auch gesellschaftspolitisch viel bewegt hat, dass er ein bewusster, wacher, großartiger Künstler war, der damals schon Respekt eingefordert hat, das fand ich schon sehr toll, muss ich sagen! Und meine Bewunderung für sein Genie ist noch mal um Einiges gewachsen.

Wird der Autor an der Stelle zum Kurator?

Ein bisschen ist das so, ja! Ich meine: Heute haben die Leser Wikipedia, Youtube und zig andere Möglichkeiten, zu Hause alles nachzulesen, sich anzuhören und anzuschauen und selbst zu recherchieren. Der Autor eines historischen Stoffes wird so tatsächlich auch zu einem Reiseführer, der den Besuchern seiner Welt hilft, sich tief in eine Epoche hinein zu arbeiten.

Der Schriftsteller Steffen Kopetzky, geboren 1971, hat in München, Paris und Berlin Philosophie und Romanistik studiert. Er gilt als "stilbewusster Autor, der elegant und mit großer Leichtigkeit zu schreiben vermag" (Deutschlandradio). "Monschau", erschienen bei Rowohlt, ist sein bislang siebter Roman. Der Vorgänger-Titel "Propaganda" (2019) war für den Bayerischen Buchpreis, "Risiko" (2015) für den Deutschen Buchpreis nominiert. Kopetzky lebt mit seiner Familie in Pfaffenhofen/ Ilm, wo er auch aufgewachsen ist.