Dominik Graf verfilmt Erich Kästners „Fabian oder der Gang vor die Hunde“, Frank Castorf macht am Berliner Ensemble ein vierstündiges Multimedia-Spektakel daraus. Warum der Roman aus dem Jahr 1931 plötzlich wieder aktuell ist, was sein Held uns zu sagen hat – und welche Tragik sich hinter dem Erfolg von Buch und Autor verbirgt. Kästner-Biograf Sven Hanuschek im Gespräch.

0941mag: Fabian im Kino, Fabian auf der Bühne! Erich Kästners Roman und sein Held erleben gerade eine Renaissance. Haben Sie eine Erklärung?

Sven Hanuschek: Möglicherweise hat es etwas mit der neuen Version zu tun, die ich 2013 herausgegeben habe …

… der ersten nicht veränderten und nicht gekürzten Ausgabe des Buches auf der Basis eines Typoskripts, das Sie damals im Deutschen Literaturarchiv in Marbach gefunden haben.

Es ist derselbe Roman! Nur fühlt es sich beim Lesen anders an – als wäre die Patina abgewischt. Der Text wirkt jetzt viel frischer und frecher. Das könnte ein Grund gewesen sein, warum sich der Filmemacher Dominik Graf oder auch der Theaterregisseur Frank Castorf am Berliner Ensemble den Stoff noch einmal vorgenommen haben. Ein anderer ist sicher die sehr spezielle Figur des Fabian.

Inwiefern?

Naja, der ist offensichtlich ziemlich orientierungslos, tut aber so, als wäre er es nicht. Das scheint eine ganz charmante Mischung zu sein, die vielen Leuten gefällt. Oder von der sie das Gefühl haben, dass sie sie etwas angeht.

Für Hauptdarsteller Tom Schilling aus Grafs Film ist Fabian ein total heutiger Typ: Leuten „die wie er durch die Zeit taumeln, die eher zuschauen und mit so einem Fatalismus und leicht angeekelt auf die überhitzte Gesellschaft schauen“, begegne man gerade auf Schritt und Tritt.

Fabian lässt sich treiben. Das stimmt. Aber er nimmt auch viel auf, beobachtet viel und kommentiert das dann in einer Mischung aus Moralismus und Skeptizismus. Er hat schon eine Position. Er guckt auch nicht nur zu, sondern hilft auch mal, im Kleinen, Leuten, die ihm auf seinem Weg begegnen. Es ist nicht so, dass er nichts täte. Er tut nur zu wenig. Und er wird sich auch über sich selbst nicht klar – das ist uns allen ja auch nicht unvertraut. 

Aber Fabian kriegt dafür die Höchststrafe: Er wird von seinem Autor ertränkt.

Er will einen Jungen aus dem Wasser ziehen, kommt also in dem Moment um, als er sich zum ersten Mal zum Handeln entschließt. Das ist natürlich kein Zufall.

Sondern?

Die Botschaft heißt: „Lernt schwimmen!“ Hört auf, euch treiben zu lassen, betätigt euch, engagiert euch politisch! Der am stärksten durchgeformte Teil des Romans ist nicht von ungefähr eine Sequenz, in der Fabian von einem Bürgerkrieg träumt, in sehr krassen Bildern. Während auf den Straßen Berlins nach den Reichstagswahlen von 1930 die Gewalt eskaliert und Kommunisten und Nationalsozialisten sich Straßenschlachten liefern, träumt der Held bei Kästner davon, dass es doch möglich sein muss, sich anders zu verständigen. Er will, dass diese Extremismen verurteilt werden, unternimmt aber nichts. 

Dafür ist er an anderen Fronten quasi im Dauereinsatz – zum Beispiel in den Betten und Bordellen von Berlin.

Der Sittenroman-Aspekt war Kästner mindestens so wichtig wie die politischen Implikationen seines Buchs, das ja auch „Saustall“ oder „Sodom und Gomorrha“ geheißen hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre, oder „Der Gang vor die Hunde“ – nicht „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ wie bei Erscheinen. Dieser Titel kam vom Verlag. Politische Fragen werden im Roman in den Gesprächen zwischen Fabian und seinem Freund Labude nur gelegentlich mal angetippt. Dagegen ist er in Sachen Sexualität ziemlich explizit und vorne dran für seine Zeit.

Der Roman ist eine Art Babylon „die Hure“ Berlin zwischen Buchdeckeln – und komplett anders als alles, was man vom Lyriker und Kinderbuchautor (!) Kästner bis dahin kannte. Welcher Teufel hat ihn da geritten?

Er wollte ein satirisches Buch schreiben. Die Verhältnisse im Berlin der 1920er-Jahre, der berühmte Tanz auf dem Vulkan, am Abgrund, sollten kritisch vorgeführt werden. Aber wenn man der Figur des Fabian folgt, merkt man schnell, dass sie auch stolz drauf ist, dass sie das alles weiß und kennt, dass sie die Dinge beim Namen nennen kann und dass sie, was sie verurteilt, selbst ja durchaus mitmacht. Dieses Zwiespältige ist nicht ohne Komik. Und ich weiß gar nicht, wie sehr Kästner diese Ambivalenzen überhaupt klar waren – oder ob er der Logik seiner Figur einfach irgendwann erlegen ist.

Fakt ist: Der so harmlos, brav und bieder wirkende Erich Kästner war in Wirklichkeit ein Filou, oder?

Kästner hatte immer Affären, manchmal auch drei oder vier gleichzeitig. Meistens waren das Schauspielerinnen, die er als Drehbuchautor aus dem Filmumfeld kannte. Seine langjährige Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, eine Journalistin, hat in der Drehbuchabteilung der UFA gearbeitet. Es waren auch ganz junge Frauen dabei wie Margot Schönlank, eine Studentin, die ihn als Autor seit Schülertagen verehrte und mit der er ein Verhältnis anfing. Aus der Literaturszene nach 1933 verkehrte er mit kaum jemandem – was insofern bemerkenswert ist, weil man ja eigentlich erwartet, dass er sich zum Beispiel mit Irmgard Keun („Das kunstseidene Mädchen“) gut hätte verstehen müssen.

Dominik Graf hat seinen Film als Liebesgeschichte inszeniert. Ist das banal, trivial oder eine interessante, neue Sicht auf den Roman?

Ich hab’ den Film noch nicht gesehen, denke aber, dass der Roman das schon hergibt. Von den Handlungsabläufen ist das ein Strang, der sehr konsequent durchgeschrieben ist. Und ein Moment wie der, als Fabian und Cornelia, der arbeitslose Werbetexter und die hoffnungsfrohe, junge Juristin, in der Pension zusammenfinden, in der sie zufällig beide wohnen – dieses Aufscheinen von Glück, auch jenseits von Sexualität – der ist ja ziemlich einzigartig fast übermütig. Das gibt es sonst nicht, im ganzen Roman nicht, denn wirklich glücklich sind die ja nicht, die es da miteinander treiben. In diesem Moment aber, wo das alles aussetzt und anders ist, darf man glauben, dass es so was wie eine andere Möglichkeit gibt. Im Privaten. Und dass eben nicht alles zwangsläufig vor die Hunde gehen muss.

Dass Fabian sein Glück am Ende nicht findet, hat auch mit dem verkniffenen Frauenbild zu tun, das sein Autor ihm verpasst…

Das Frauenbild des Romans ist sehr zwiespältig, und man hat auch da wieder diese Ambivalenzen: Die neue Frau, die emanzipiert ist, die selbstständig ist und sein will, die Dinge tut, die bis dahin Männern vorbehalten waren und die man dafür auch bewundert. Auf der anderen Seite macht Kästner mit jeder Seite klar, wie sehr sich seine Männerfiguren von diesen Frauen überfordert fühlen.

Beispiel?

Irene Moll, diese sexuell notorische, überlästige Anwaltsfrau, die ein Damenbordell gründen und Fabian dort unbedingt dabei haben will. Fabian trifft sie regelmäßig. Aber es ist ziemlich klar, dass er sie fürchterlich findet. Oder eben Cornelia, die eine große, berufliche Chance ergreift, auch wenn der Weg nur über das Bett eines Filmproduzenten führt. In der „Lernt schwimmen“-Metaphorik des Romans machen beide Frauen alles richtig. Sie bleiben oben, gehen nicht unter. Nur schwimmen sie halt auf eine Art und Weise, die Fabian verwerflich findet – und sein Autor höchstwahrscheinlich auch. Obwohl er sich dazu nie geäußert hat.

Seit wann beschäftigen Sie sich schon mit Erich Kästner?

Professionell seit Mitte, Ende der 90er-Jahre. Angefangen hat es mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte des deutschen PEN-Clubs. Kästner war da für mich die wichtigste Figur. Er war zehn Jahre lang Präsident gewesen. Bei meinen Recherchen ist mir dann aufgefallen, dass bei den Biografien, die es von ihm gab, einiges im Argen lag – er hatte da zum Teil selbst mitgeschrieben und es gab praktisch nichts, was er nicht abgesegnet und mit publiziert hätte. Mir fehlte da ein etwas distanzierterer Blick. Deshalb – und weil ich die Legende vom Katzen- und Kinderonkel endlich abräumen wollte – hab’ ich schließlich selbst eine Kästner-Biografie geschrieben. Davor war das nicht möglich, weil Luiselotte Enderle auf dem Nachlass saß und die Legenden fortschreiben wollte.

Welchen Stellenwert hat der „Fabian“ im Gesamtwerk Kästners – und warum hat er nie mehr etwas Vergleichbares zu Wege gebracht?  

Was die Prosa betrifft, ist dieses Buch sein Hauptwerk. Das war auch so gedacht und es wäre, denke ich, auch so weitergegangen, wenn nicht die Nazis und der Krieg dazwischengekommen wären. Kästners Konzept war: „Ich bleib’ in Deutschland und schreib’ einen ‚Fabian 2‘, den Sittenroman des Dritten Reiches aus der Sicht des Zeitzeugen.“

Was ist passiert?

Spätestens angesichts der Shoah muss ihm klar geworden sein, dass sein satirisches Konzept und damit auch dieser Lebensentwurf gescheitert waren. Seine Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit vor 1945, das so genannte „Blaue Buch“, wie auch die stark überarbeitete Version „Notabene 45“, die 1961 erschien, enden beide mit dem Augenzeugenbericht eines KZ-Überlebenden, der ihm alles über die Abläufe in der Vernichtungslagern erzählt. Damit lässt Kästner seinen Leser stehen. Er wusste, was er noch konnte. Und was nicht mehr ging. Und natürlich steckt da eine Tragik drin.

Frank Castorf nennt den „Fabian“ ein „Buch voller Epigramme“. Haben Sie noch eins für uns zum Schluss?

Also, ich finde Kästner als Stilisten ja unterschätzt – bei ihm kommt alles so leicht daher, leichtfüßig, und doch kommt man gerade beim „Fabian“ aus dem Interpretieren nicht heraus. Insofern fand ich’s besonders charmant, wie er selbst die Anforderungen beschreibt, die er an sich und sein Schreiben stellt: Das müsse „wirken wie hingespuckt“, hat er einmal gesagt. Mehr Tiefstapelei geht fast nicht.

Prof. Dr. Sven Hanuschek, geboren 1964, gilt als international führender Kästner-Experte und hat unter anderem den Erzählungsband "Der Herr aus Glas" sowie Kästners geheimes Kriegstagebuch "Das Blaue Buch"(alle Atrium) neu herausgegeben. Der Germanist und Publizist lebt in München. Er ist Geschäftsführender Referent am Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität.