Das Video zur Single „My Love Mine all Mine“ der US-Sängerin Mitski von ihrem im September erschienenen, neuen Album war das Stück Musik, an das wir uns in den finstersten Stunden des Jahres 2023 geklammert haben. Zeit, Danke zu sagen!

Ein leerer Raum mit hoch aufragenden Wänden, aus Beton, erhellt nur von einem schmalen Streifen Licht. Ein Nichts aus Abwesenheit – Abwesenheit von Leben, Menschen, Beziehungen, Gefühlen. Kalt und verschlossen. Hier möchte man nicht sein. So möchte man nicht sein: Ohne Wärme. Ohne Empathie. Hier kann man nicht (über)leben.

Schon die ersten Bilder in Mitskis „My Love Mine all Mine“ gehen unter die Haut, sind von existenzieller Dringlichkeit.

Man fragt sich, wo wir hier sind: Ist das real? Ist es ein böser Traum?

Dann öffnet sich eine gigantische Stahltür: Erst einen Spalt. Dann noch einen. Jemand, ein rettender Engel, barfuß, bleich, geisterhaft, versucht – und schafft es irgendwie – die tonnenschwere Tür aufzudrücken: nach und nach, Schritt für Schritt …

Mitski! Wer sonst.

Sie holt dich aus deinem inneren Gefängnis, sorgt dafür, dass du wieder atmen kannst, dass du anfängst zu glauben, dass es ein Ende des Tunnels gibt. Wer ist die Frau?

I’m a black hole where people dump their feelings“, sagt Mitski Miyawaki, 33, US-Amerikanerin mit japanischen Wurzeln, von sich selbst. Kritiker gehen noch einen Schritt weiter, sie sind überzeugt. Wer sich auf Mitski-Songs einlässt, braucht keine Therapeut:in mehr.

Dafür, wie sie den Zustand der Welt sieht und wie es ums Menschsein bestellt ist, hat Mitski in „My Love Mine all Mine“ ein berührendes Bild gefunden: Sie nimmt ein rohes Ei, schiebt es unter ein Stuhlbein und stellt den Stuhl dann darauf ab. So fragil wie die Schale ums Ei ist unsere Existenz, wir sind nicht die Titanen – auch nicht die, die sich dafür halten – die wie Atlas die Last der Welt auf ihren Schultern tragen könnten.

Wir scheitern schon am Zumutbaren.

„The Land Is Inhospitable and So Are We“ heißt Mitskis jüngstes Album, Nummer sieben seit 2012, schon der Titel eine ebenso zutreffende wie alarmierende Einschätzung der Welt im Drinnen und Draußen, im Kleinen wie im Großen.

Die Katastrophen unserer Tage, Gewalt, Hass und Zerstörung im Nahen Osten, der Krieg in der Ukraine, unsere Ignoranz in Klimafragen, die Kälte unserer Migrationspolitik, Rassismus, Antisemitismus … sind nicht: Schicksal. Sie sind menschengemacht.

Wir sind das Problem. Und Mitski wäre nicht die Künstlerin die sie ist, wenn sie uns damit allein lassen würde. Sie gibt, was sie hat, weil sie glaubt, dass es hilft, Liebe, Solidarität, Empathie:„My Love Mine all Mine“.

Ihr Drängen, die Unbedingtheit, kann all jene nicht überraschen, die ihr seit über zehn Jahren von den Anfangstagen als Solo-Performerin bis zu den millionenfach geklickten (Streaming-)Veröffentlichungen auf TikTok, YouTube etc. folgen – und dabei Zeug:innen eines wechselvollen künstlerischen und persönlichen Entwicklungsprozesses geworden sind.

Mitski hat Komposition studiert und danach in einer Metalband gesungen. Keine ihrer Platten ist wie die andere, Fragile Pianomusik steht neben schroffen Gitarrenklängen, auf Postpunk folgt Synth-Pop. Stilistisch ist bei ihr auf nichts Verlass, mehr schon aufs Erzählerische. Mitski-Songs und Lyrics erzählen oft von Einsamkeit – und dass man ihr das abnimmt, hat viel mit ihrer eigenen Geschichte zu tun.

Als Tochter eines Diplomaten war ihr Leben schon früh von ständigen Reisen geprägt, längerfristige, echte und belastbare Beziehungen aufzubauen, war unter diesen Umständen kaum möglich. Stattdessen sind es vor allem Verlusterfahrungen, die sie immer wieder macht und daran hat sich im Grunde nicht viel geändert. Sie habe erst lernen müssen, wie sie sich schützt, sagt sie, das war ein Prozess und er ist noch lang nicht abgeschlossen.

Bei ihren Live-Auftritten zum Beispiel kann sie sehr zugewandt sein – sie mag die intimen Momente, sucht die Nähe zum Publikum, spielt bewusst in kleineren Venues wie zuletzt im Herbst in den Berliner Babylon Kinos. Und trotzdem ist ihr Leben voller Déjà-vus: “Every day, the audience is different. You love them that day, but then you can’t form attachments to anyone there, because you go to the next show.“

Das Flüchtige, Unverbindliche ist für sie zur Konstante geworden, sie kämpft dagegen an, auch in ihrer Musik, von der es heißt, dass sie beunruhigend sein kann, aber auch „uplifting“, immer mitfühlend, manchmal auch befreiend. Als Beziehungsspezialistin, die sie mit den Jahren geworden ist, geht es Mitski nie nur um sich selbst, sondern immer auch um den oder die Anderen – wie dich und mich.

Im Betonkerker aus „My Love Mine all Mine“ baut Mitski aus alten Bistrostühlen eine Art Himmelsleiter, den Blick nach oben gerichtet: „Moon, a hole of light/ Through the big top tent up high/ Here before and after me/ Shinin‘ down on me/ Moon, tell me if I could/ Send up my heart to you?“ Wer ihr dabei zuschaut, wie sie immer weiter, die Gesetze der Schwerkraft ignorierend, himmelwärts steigt, begreift irgendwann, dass es hier um etwas Metaphysisches geht: „So, when I die, which I must do/ Could it shine down here with you?“

Sie sehe das so, sagt Mitski in einem ihrer Interviews zum Erscheinen des neuen Albums und speziell zu diesem Song, dass mit dem Tod alles Materielle vergeht und nur Gefühle von Liebe bleiben. Manchmal fühle es sich so an, als wäre das Leben ohne Hoffnung, ohne Seele, ohne Liebe einfacher: „Ich aber würde mir wünschen, ich könnte all die Liebe, die ich habe, nach meinem Tod zurücklassen, damit ich das Gute, die gute Liebe, die ich geschaffen habe, auf andere Menschen ausstrahlen kann.“

Wer da „Kitsch“ sagt, hat nichts begriffen.

Die Karriere von Mitski Miyawaki, kurz: Mitski, war kein Selbstläufer. Es dauerte über ein halbes Jahrzehnt von der Veröffentlichung ihrer ersten beiden Alben Lush (2012) und Retired from Sad, New Career in Business (2013), die sie während ihres Studiums am Musikkonservatorium der State University of New York produzierte und als Download im Selbstverlag herausbrachte, bis zum ersten, wirklich durchschlagenden Erfolg mit Be the Cowboy, das 2018 erschien - und von Pitchfork und dem New York Times Magazine zum Besten Album des Jahres gewählt wurde. Mitski, 33, spielte im Vorprogramm der Pixies, Sängerin Lorde nahm sie mit auf ihre Melodrama-Welttournee. My Love Mine all Mine und die anderen Songs ihres aktuellen Albums hat die Wahl-New Yorkerin in Nashville und Los Angeles aufgenommen. Sie glänzen nicht nur durch perfektes Songwriting, sondern auch durch ausgefallene, teils orchestrale Arrangements, die an den Classic Pop mit Country-Vibes der späten 1960er-/70er-Jahre erinnern. Barack Obama, der gerade seine 2023er-Playlist veröffentlicht hat, zählt My Love Mine all Mine neben Titeln etwa von Big Thief, Beyoncé und Kendrick Lamar zu seinen Lieblingssongs des Jahres