Der Sozialethiker und Ordensmann Jörg Alt SJ kämpft mit den Aktvist:innen der Letzten Generation gegen die Klimakatastrophe, für die Schöpfung. Dabei legt er sich nicht nur mit der Politik und den Strafverfolgungsbehörden an – sondern auch mit seiner Kirche. Die etwas andere Weihnachtsgeschichte

0941mag: Herr Alt, an Weihnachten steigt Gottes Sohn zu uns herab, weil er die Menschen mag und ihnen dabei helfen will, mit sich, mit Anderen und mit der Welt in Liebe umzugehen. Richtig?

Jörg Alt: Es gibt verschiedene Interpretationen der Weihnachtsgeschichte, aber für diese habe ich viel Sympathie, denn: Jesus hat im Bemühen um die Menschen keine Konflikte gescheut, im Gegenteil, er hat sie gesucht. Die Menschen waren ihm sogar wichtiger als die Zehn Gebote! Mein Klassiker ist immer die Heilung am Sabbat, wo die Pharisäer die Kranken nach Hause schicken wollen mit der Begründung, sie könnten doch morgen kommen, heute sei Sabbat – aber Jesus hat sich nicht drauf eingelassen. Er hat geheilt. Auch am Sabbat. Und in Kauf genommen, dass die Pharisäer voll Zorn raus gegangen sind und überlegt haben, wie sie ihn umbringen können. 

Muss man nicht angesichts von Gewalt und Krieg, von immer mehr Reichtum in den Händen Weniger und immer größerer Armut weltweit – und auch mit Blick auf die Dynamik, mit der wir den Planeten gerade gegen die Wand fahren – von einer mission impossible Jesu reden?

Also, Jesus hat mit der Krise jetzt gar nichts zu tun! Alles, was Sie aufgezählt haben, ist richtig und alles haben wir zu verantworten. Was wir sehen, sind die Symptome einer tiefer liegenden Krise und vieler Entscheidungen, die wir getroffen haben, um mit einem auf fossilem Wachstum basierenden System Wohlstand zu erzeugen. Kein einziges von den Problemen, die Sie angesprochen haben, kann man nicht darauf zurückführen: So wird Armut erzeugt, so wird Ungleichheit vergrößert, so fahren wir den Planeten gegen die Wand und wenn uns der von Russland entfesselte Krieg eines gelehrt haben sollte, dann eben, wie verrückt abhängig wir von den Staaten sind, die uns diesen Brennstoff für die Welt liefern – und wieder ziehen wir nicht die richtigen Schlüsse daraus. Wir suchen wie ein Junkie an der Nadel, wo wir die Droge jetzt herbekommen. Wir lernen einfach nichts! Aber das hat nichts mit dem Lieben Gott zu tun. Diese Krise haben wir verursacht, die müssen wir lösen. Der Liebe Gott wird’s nicht für uns richten. 

Als Soziologie und Sozialethiker beschäftigen Sie schon lang mit den Themen Globalisierung, Migration, Armut und Klima. Alles hängt mit allem zusammen, sagen Sie, ein fataler Kreislauf, den wir nur im Wege einer gesellschaftlichen Transformation durchbrechen können. Nur: Wo fangen wir da an? Und wo hören wir auf?

Das ist kompliziert und eine kurze Antwort gibt es darauf nicht. Aber anfangen müssen wir auf jeden Fall bei den Wohlstands- und Glücksversprechungen unseres Systems. Seit 40 Jahren wird uns ja eingeredet, dass Konsum, immer neue Güter, Wachstum usw. glücklich machen – und irgendwie haben wir aufgehört, das zu hinterfragen. Es ist verrückt! Wenn man die Menschen fragt: „Was macht dich glücklich?“ kommen zuverlässig Dinge wie Familie, Freunde, intakte Umwelt, Gesundheit, Sicherheit – Sachen, die man nicht kaufen, besitzen oder weg sperren kann. Und die entscheidend davon abhängen, wie wir als Gesellschaft miteinander und mit den (Über-)Lebensgrundlagen umgehen. Doch erst wenn wir die hohlen Glücksversprechungen unseres derzeitigen Systems durchschauen, kriegen wir den Kopf frei und können anfangen, darüber nachzudenken, wie die Alternative aussehen könnte. Wobei die, wie gesagt, nicht vom Himmel fallen wird, sondern wir müssen uns anstrengen, um sie herbeizuführen.

Seit ein paar Jahren engagieren Sie sich schwerpunktmäßig in der Klimagerechtigkeitsbewegung – bei Fridays for Future, Scientists for Future, Scientist Rebellion und, neuerdings, auch bei der heftig umstrittenen Letzten Generation. Wann und warum haben Sie sich „radikalisiert“?

Das Thema war ja nicht neu für mich. Ich beschäftige mich schon seit 1986 mit Fragen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit, hab’ dazu Bücher geschrieben, Vorträge gehalten, Kampagnen durchgeführt, Petitionen, Offene Briefe verfasst, alles was man halt so macht. In der Begegnung mit den Fridays habe ich dann feststellen müssen, dass ich grundlegende Dinge an der Krise noch nicht verstanden hatte. Die Fridays haben mir erklärt, was „Kipppunkte“ sind. Und der nächste Augenöffner war der Hungerstreik der Letzten Generation im August 2021, wo’s ja auch noch mal um die Dringlichkeit der Krise ging. Natürlich habe ich mit den Leuten auch heftig gestritten über diese drei Jahre, die wir dafür angeblich noch haben – ob das wirklich gesichert ist oder Spekulation oder eine Ausnahmemeinung. 2022 hat dann aber auch der Weltklimarat gesagt: Wir haben noch drei Jahre, wenn dann nicht die fossilen Emissionen sinken und wenn sie nicht bis 2030 um gut 43 Prozent reduziert sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Dinge außer Kontrolle geraten. Und das macht eben die Dramatik der Situation aus, die ich mit einer Dramatik in meinen Handlungen zu ändern versuche.

„Diese Krise haben wir verursacht, die müssen wir lösen, der Liebe Gott wird’s nicht für uns richten“: Jörg Alt (Mitte, mit Megaphon) bei einer Straßenblockade der Gruppen Scientists Rebellion, Extinction Rebellion und Letzte Generation in München, Oktober 2022 © IMAGO/ aal.photo

Die Letzte Generation gibt vielen Leuten Rätsel auf – die demonstrative Gewaltlosigkeit des Protests zum Beispiel wird oft als arrogant und provokant empfunden. 

Die Letzte Generation hat konsequent ein Handlungsmodell, das ist die Gewaltlosigkeit. Man lernt in speziellen Trainings, wie man sich deeskalierend, tolerierend, zur Not auch selbst schützend, aber eben nicht selbst verteidigend verhält – weil Selbstverteidigung ja auch schon wieder Gewaltanwendung wäre. Gewaltlosigkeit ist das Merkmal dieses Protests und das auch ganz bewusst, denn die Geschichte sozialer Bewegungen und sozialer Kipppunkte zeigt, dass gewaltfreier Widerstand immer erfolgreicher ist als Bewegungen, die Gewalt anwenden. In dieser Tradition verortet sie sich auch die Letzte Generation. Sie macht viel – mit Farbbeutelaktionen gegen Konzernzentralen, Parteizentralen, Regierungsgebäude, Kunstaktionen, Denkmalaktionen, Pipelines abdrehen etc. – aber immer nur, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Dass sich die Leute hierzulande ausgerechnet von den Straßenblockaden so provoziert fühlen, liegt nicht an der Letzten Generation. Sondern am merkwürdigen Verhältnis des Deutschen zu seinem Auto. 

Gerade bei Straßenblockaden kommt es immer wieder auch zu Übergriffen: Wütende Autofahrer lassen ihren Frust an Aktivist:innen aus. Auch die Polizei ist nicht zimperlich …

Also, da reden wir jetzt über Berlin! Was die Aktionswelle in Bayern im August/ September betrifft, haben wir eigentlich nur gute Erfahrungen mit der Polizei gemacht und auch viel positiven Zuspruch von den Bürger*innen erhalten. Aber, ja: Die Protestformen polarisieren und das ist auch gewollt, weil nett sein bringt uns ja nicht weiter. Die Fridays waren sympathisch, freundlich, jeder Politiker wollte ein Selfie mit ihnen und hat sie gelobt wegen ihres demokratischen Engagements – und hat dann nichts getan. Ähnlich bei den Wissenschaftlern: Die tragen immer neue, alarmierende Erkenntnisse vor, bitten höflich um Aufmerksamkeit, aber letzten Endes hört man doch wieder lieber auf Shell, Esso und Co. Deswegen hat die Letzte Generation gesagt: Okay, wir müssen keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen. Wichtig ist, dass das Thema so in der Öffentlichkeit ist, dass man es nicht ignorieren kann. Das ist gelungen. Nur eben: Die Aggressionen gegen die Aktivist:innen nehmen zu, das stimmt. Doch wie sagte Gandhi: „Erst ignorieren sie dich, dann belächeln sie dich, dann bekämpfen sie dich, dann gewinnst Du.“ Es dürfte klar sein, in welcher Phase wir uns gerade befinden.

Wurden Sie je selbst von der Straße gezerrt, festgenommen, vorübergehend festgesetzt, Stichwort: Präventivhaft?

Wenn ich mich dazu setze, trage ich meistens den Priesterkragen, was schon eine gewisse abschreckende Wirkung hat. Aber natürlich wurde auch ich schon angeschrien und angegangen, einmal hätte ein SUV mich fast umgefahren. Ein Polizist aus NRW wollte mich vom Asphalt losreißen, bis er kapiert hat, dass ich tatsächlich klebe und er mich nicht so leicht von der Straße los bekommt. Ich bin auch erkennungsdienstlich behandelt worden. Ich bin mittlerweile in einem ersten Gerichtsverfahren schuldig gesprochen worden, weitere werden folgen, in denen ich wahrscheinlich auch schuldig gesprochen werde … ich  bin ein verurteilter Straftäter. 

Die Aktivist:innen der Letzten Generation wehren sich nicht, wenn sie beschimpft, geschlagen, bespuckt werden. Sie sitzen da und halten eher noch „die andere Wange hin“, wie es – wo genau – in der Bibel heißt?

Naja, das ist die Bergpredigt: „…wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin!“ 

Müssten, so gesehen, nicht wenigstens die Parteien mit dem „C“ im Namen Sympathie für die Letzte Generation empfinden?

Ach, die Parteien mit dem „C“ im Namen sind sowieso ein großes Rätsel! Ich hab’ ja schon in meinem Buch zur Verantwortung von Christen und Kirchen vorgeschlagen, dass CDU und CSU das „C“ durch ein „K“ ersetzen und sich in Konservativ Demokratische bzw. Konservativ Soziale Union umbenennen sollten, weil viel Christliches sehe ich bei denen nicht. Auch zuletzt im Wahlkampf haben sie das Thema Schöpfungsverantwortung wieder vor sich her getragen, aber wenn man sieht, was an faktischer Politik gemacht wird gerade in Bayern, dann ist da halt eine irrsinnige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Oder: Wenn der CSU die Argumente ausgehen, zücken sie immer wieder das Angstthema Migration. Was soll das? Das ist so an den Fakten vorbei und schafft nachhaltig so viel Angst, Misstrauen und Probleme! Ich weiß wohl, dass es noch Christen in der Union gibt, die versuchen, ihre Inhalte dort unterzubringen. Aber mir scheint, dass auch die immer frustrierter werden.

In Sachen Letzte Generation herrscht eine seltene Einigkeit quer durch die politische Landschaft: Kanzler Scholz (SPD) findet die Formen des Protests „bekloppt“, Justizminister Buschmann (FDP) spricht von „Weimarer Verhältnissen“, die die Aktivist:innen mit ihren Aktionen im öffentlichen Raum heraufbeschwören, für CSU-Mann Dobrindt war immer klar: Die Letzte Generation, das ist die „Klima-RAF“. Ist das nicht merkwürdig?

Nein, denn getroffene Hunde bellen und der Protest der Letzten Generation zielt ja auf die politischen Verantwortungsträger, wenn gesagt wird, dass unsere Regierungen ihre vertraglich-rechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllen und dass man deshalb mit diesem zivilen Widerstand darauf reagiert. Was tun denn unsere Regierungen, um das Pariser Abkommen faktisch umzusetzen, dem Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen, das Klima-Gesetz umzusetzen? Da ist doch das Versagen! Bayern hat nicht mal ein Klimagesetz, das einen ernsthaften und verlässlich planbaren Anspruch auf Umsetzung formuliert. Und die Bundesregierung baut ihr Klimagesetz jetzt so um, dass es den Minister wieder auf legalen Boden bringt, der sich den bisherigen Verpflichtungen mehrfach verweigert hat. Klar, dass die Politik unter diesen Umständen auf Kritik allergisch reagiert. Aber es ist eben genau dieser Rechtsbruch, der den Protest nötig macht. Sobald sich die Regierenden wieder nach Vertrag, Recht und Gesetz verhalten, ist der Protest überflüssig und die Leute gehen nach Hause. 

Kann man sagen, dass die Politik hier mit aller Macht ein Feindbild konstruiert, wo es doch eigentlich darum geht, sich als Gesellschaft unterzuhaken?

Genauso ist es. Es ist das bekannte Sündenbock-Spiel. Und deswegen fand ich es so erfreulich, dass sich während der Protestaktionen im Herbst in Bayern 60 Verfassungsjurist:innen dazu geäußert haben und gesagt haben: „Also liebe Leute, wirklich, die Letzte Generation hat Recht!“ Das Problem sei, dass die Politik ihren Job nicht macht und man solle doch eher gucken, dass die Regierungen wieder auf dem Boden von Recht und Gesetz zurückkehren, als dass man immer weiter versucht, die Letzte Generation in die terroristische Ecke zu drängen.

Vor ziemlich genau einem Jahr, im Dezember 2022, haben Sie sich „wegen Unterstützung einer mutmaßlich kriminellen Vereinigung“ selbst angezeigt. Weil Sie wollen, dass die Gerichte diesen Tatvorwurf entweder hinreichend substanziieren oder übereifrige Staatsanwälte ein für alle Mal stoppen? 

Nun ja, Gerichten kommt da eine wichtige Rolle zu! In unserer Verteidigung vor Gericht berufen wir uns bei Straßenblockaden auf rechtfertigenden Notstand und Notwehr – und da ist es ein kleiner Erfolg meiner Verurteilung vom Mai in München (wegen Nötigung, Anm.d.Red.) gewesen, dass die Richterin gesagt hat, Straßenblockaden seien durchaus „sachangemessen“, also nicht nur symbolisch, weil die Autos ja Teil des Problems sind, um das es uns geht. Also, das sind kleine Schritte, die dazu beitragen, Recht, Gesetz, Bewusstsein und Wahrnehmung zu ändern. Grundsätzlich aber geht es der Letzten Generation bei ihren Aktionen nicht darum, Gerichte und Polizei zu beschäftigen, sondern darum, in der Gesellschaft in die Diskussion, in den Konflikt zu kommen und dadurch die Dinge voranzutreiben.

„Dramatik der Situation, die ich mit einer Dramatik in meinen Handlungen zu ändern versuche“: Polizisten entfernen Jörg Alt von der Straße © IMAGO/ aal.photo

In Ihrem jüngst erschienenen Buch reflektieren Sie u. a. die Ereignisse rund um den Hungerstreik der Letzten Generation 2021, als die Aktivist:innen im Vorfeld der Bundestagswahl Gespräche mit den Kanzlerkandidaten erzwingen wollten. Sie haben das damals nicht nur mitverfolgt, sondern irgendwann auch aktiv eingegriffen.

Ich hatte das Gefühl, dass den Aktivist:innen die Zeit davon läuft und ich habe die Kontakte in die Politik und hab’ deshalb meine Hilfe angeboten, die sie dann auch angenommen haben: „Das ist aber nett, dass du uns helfen willst, vielen Dank! Mach das gerne! Henning, Hungerstreikender“ hieß es in einer Mail vom 5. September. Das war der Anfang meiner Freundschaft mit Henning Jeschke. Lina Eichler, eine gute Freundin und Mitstreikende, kannte ich schon. Wir haben dann öfter telefoniert und am 25. September, dem 27. Tag des Hungerstreiks, habe ich dann von Henning gehört und auch verstanden, dass er bereit ist zu sterben, wenn Olaf Scholz nicht mit ihm spricht. Das hat mich tief erschüttert, weil ich es einfach nicht für möglich gehalten habe. Bis dahin dachte ich, er fängt wieder an zu essen, wenn der Wahlkampf vorbei ist. Gegen 16.30 Uhr bekam ich dann einen Anruf, ob Herr Jeschke noch in der Lage wäre, Anrufe entgegenzunehmen. Um 18 Uhr meldete sich Olaf Scholz bei ihm, mit unterdrückter Nummer …

Sie sind Jesuit, Ordensmann, geweihter katholischer Priester. Warum ergreift die (Amts-)Kirche nicht wie Sie Partei für eine junge Generation, die mit so viel Einsatz und Engagement um den Planeten und damit um die Schöpfung kämpft?

Können Sie diese Frage dem Kardinal Marx stellen? Sie können sich vorstellen, dass ich versuche, in der Kirche um Sympathie und Unterstützung zu werben … aber die deutsche Kirche ist nun mal so, dass sie in Reichtum und Privilegien und Einfluss mit den herrschenden Strukturen so verwoben ist, dass man das nicht nur zum Vorteil verwenden kann, sondern dass es auch ein Hemmschuh ist. Ich denke mal, dass in anderen Ländern die Auseinandersetzung vielleicht anders laufen würde als in Deutschland.

„Die Kirche ist müde“, hat Papst Franziskus im Sommer beim Weltjugendtag in Lissabon gesagt. Jeder halbwegs wohlmeinende Öffentlichkeitsarbeiter hätte ihm den Satz gestrichen, oder? 

Genauso wie den „toten Punkt“ in Kardinal Marx’ Rücktrittsgesuch, ja. Aber was bringt es, wenn wir eine ehrliche Diagnose schönreden? Das ist der Vorwurf, den ich auch an die Politik richte: Es wäre wirklich viel geholfen, wenn ein Herr Söder oder ein Herr Scholz öffentlich zugeben würden, dass wir tatsächlich ein Problem haben und nicht angemessen damit umgehen, wenn sie aufhören würden, den Eindruck zu erwecken, dass alles nicht so schlimm ist und dass man ja genug tun würde. Diese Ehrlichkeit würde auch in der Öffentlichkeit die Diskussion nochmal ganz anders laufen lassen. Meiner Einschätzung nach – und das stelle ich wirklich immer und überall fest – ist es so, dass sich die Menschen nach Ehrlichkeit sehnen. Ich hab’ keine Probleme, Mitarbeiter zu finden, weil die Leute sagen: „Mit dir mache ich das gern!“ Und ich glaube auch nicht, dass Söder oder Scholz die Leute davonlaufen würden, wenn sie sich ehrlich machen. Im Gegenteil. Die Leute wären froh, dass die Dinge endlich beim Namen genannt werden. Gerade in Bayern meckert doch auch schon die Wirtschaft, dass die Energiewende von der Staatsregierung viel zu langsam vorangetrieben wird. Und Bayern ist nicht irgendein Bundesland, sondern die sechstgrößte Ökonomie in Europa! Und von dieser sechstgrößten Ökonomie kann man mehr erwarten, soll man mehr erwarten, und die verdient auch eine Regierung, die dem Land mehr zumutet.

Ihre kritische Diagnose zum Zustand der Kirche in Deutschland spiegelt sich auch in Zahlen wieder: Nie war die Zahl der Austritte so hoch wie 2023. Kann es sein, dass uns mit zentralen christlichen Werten wie Gemeinsinn, Solidarität, dem Einstehen für die Schwächeren gerade auch ein Stückweit die Orientierung abhanden kommt?

Es sind zwei Punkte. Das eine ist, dass die Kirche nach wie vor alles tut, um die Leute zu vergraulen. Die Art und Weise, wie der Missbrauch aufgeklärt wird; die Art und Weise, wie man mit Frauen umgeht, mit Minderheiten; die Art und Weise, wie man die junge Generation hängen lässt. Da wundert’s mich nicht, wenn jemand der Kirche den Rücken kehrt. Aber: Wenn man der Kirche den Rücken kehrt, heißt das, dass die Leute deshalb nicht mehr christlich oder moralisch oder ethisch hoch motiviert und integer sind? Natürlich nicht! Dieses Problem gibt’s ja auch schon, seit es die Kirche gibt. Sind Christen die, die zur Messe gehen? Oder sind es jene, die im Geiste Jesu Christi leben? Und da würde ich schlicht und ergreifend sagen, gibt es außerhalb unglaublich viele Christen, mit denen man viel zusammen machen kann! Ob die Kirche die nächsten hundert Jahre überlebt? Darüber kann man streiten! Aber das Christentum wird auf jeden Fall überleben.

Jörg Alt, Jahrgang 1961, hat Philosophie, Theologie und Soziologie studiert. Forschungen zu Migration, Globalisierung, Armut und das klare Bekenntnis zur Katholischen Soziallehre münden in ein engagiertes Eintreten gegen Kapitalismus und Neoliberalismus. Über die Arbeit mit Geflüchteten, Projektarbeit für mehr (Klima-)Gerechtigkeit in Asien und Afrika findet Alt zum zivilen Widerstand. Als er 2021 im Rahmen der Aktion EssenRettenLebenRetten noch essbare Lebensmittel aus den Mülleimern von Supermärkten holt, verschenkt und sich dann wegen unerlaubten „Containerns“ selbst anzeigt, macht er bundesweit Schlagzeilen. Alt lebt in Nürnberg. Er arbeitet im UKAMA-Zentrum der Jesuiten für sozial-ökonomische Transformation. Sein jüngstes Buch „Die Letzte Generation - Das sind wir alle“ (mit Lina Eichler und Henning Jeschke, 191 S., ca. 18 Euro) ist bei bene! erschienen