Sofia Seidls Porträts und Selbstbildnisse gehören zu den aufregendsten Entdeckungen, die man in der Kunstszene Regensburgs derzeit machen kann. Ihre Malerei ist ein wilder Ritt durch die Kunstgeschichte von den alten Meistern über die Moderne bis zur Street-Art. Ihre zentralen Themen – Identität und Wirklichkeit – gehen uns alle an. Ein Interview

Über die Wirklichkeit, sagt Gerhard Richter, könne er „nichts Deutliches sagen“. Wie findest du das? 

Sofia Seidl: Klingt spannend (lacht)! 

Ist das Understatement, Weisheit, Demut bei Richter? Was meinst du?

Auf jeden Fall auch Demut. Weil natürlich die Wirklichkeit unfassbar groß ist. Alles um uns herum ist auf der einen Seite wirklich. Auf der anderen Seite schauen wir da mit unseren Sinnen drauf. Deswegen ist es schwierig, zu sagen: Das ist wahr und das ist durch meine Wahrnehmung möglicherweise verfälscht. Etwas als wirklich zu erkennen – und dann auch noch Schlüsse daraus zu ziehen, ist ein Grundproblem, das wir als Menschen haben. 

Kurz dachte ich: Vielleicht ist es ja nur die elegante Ausflucht des Jahrhundertkünstlers, der nie besonders scharf drauf war, sich zu erklären.

… und eines Künstlers, der dann irgendwann beschlossen hat, abstrakt zu werden, das darf man ja nicht vergessen! Richter ist diesen Weg vom Figurativen in die absolute Abstraktion gegangen – das allein sagt schon viel. 

Du hast deine erste Solo-Ausstellung „Zweifelhafte Wirklichkeiten“ genannt. Heißt das, dass du der Wirklichkeit misstraust? Oder deinem Blick darauf?

Eher Zweiteres. Ich würde sagen: Die Wirklichkeiten, die ich in meinen Bildern darstelle, sind zweifelhaft, weil ich selbst weiß, dass es nicht unbedingt die Wirklichkeit ist, die ich da zeige – es hat nur manchmal den Anklang, etwa wenn eine Figur durch die Malerei sehr explizit dargestellt ist. Dadurch wirkt es wirklicher als es ist.

Ist es nicht seltsam, dass wir an sowas wie Wirklichkeit überhaupt glauben? Ich meine: Jeder von uns kennt doch das Phänomen, dass Menschen ein- und dieselbe Begebenheit komplett anders beschreiben. 

Stimmt, vor allem privat erlebt man das oft, dass der eine sagt: „Das war so“ und der andere: „Nein, das war ganz anders“. Da zweifelt man dann an der eigenen Wahrnehmung, aber ich glaube, es geht da mehr um den Zweifel am eigenen Gedächtnis und weniger daran, was jetzt Wirklichkeit ist. Man bewegt sich da auch im Spannungsfeld zwischen sozialer Interaktion und der Wirklichkeit, die materiell um uns herum existiert – das sind zwei Dinge, die eigentlich zusammengehören, wo man aber sagen kann, dass das eine zweifelhafter ist als das andere: Was ich anfassen kann, ist ja zumindest schon mal da. Bei Erinnerungen dagegen ist es so, dass sie sich – je öfter wir uns erinnern – immer wieder ein bisschen überschreiben und sich dadurch auch verändern. 

Es könnte auch sein, dass wir in einer Simulation leben, hast du neulich mal gesagt. 

Das ist so ein klassisches Gedankenexperiment: Dass es möglich wäre, dass sich die Menschheit in einer Art kollektivem Schlaf befindet, dass wir zusammen eine Wirklichkeit simulieren oder simuliert bekommen, in der wir unser Leben träumen. Ich glaub’ nicht, dass das wahrscheinlich ist. Aber grundsätzlich ist es so, dass man das durch Nachdenken und auch durch Observieren der uns umgebenden „Wirklichkeit“ nicht herausfinden kann, weil: Wenn wir uns unsere Welt nur vorstellen, dann gibt es keine Möglichkeit, sich das von außen anzuschauen. Und was wir nicht wahrnehmen können, existiert für uns auch nicht. Dann stellt sich erst recht die Frage: Ist es dann eine Wirklichkeit? Oder nicht?

Zweifelst du manchmal – ganz grundsätzlich – am Konzept des Bildnerischen?

Sagen wir so: Ich finde das Bildnerische einfach wahnsinnig spannend! Aber ich finde auch, dass man speziell in der Malerei nicht den Anspruch von Wirklichkeit erheben kann. Andererseits kann man das mittlerweile bei ganz vielen Bildern nicht mehr: Der Anspruch an die Fotografie zum Beispiel war noch vor Jahrzehnten ein ganz anderer als heute – wobei auch da schon immer die Frage war, wie wurde etwas fotografiert, von welchem Betrachterstandpunkt aus, welcher Ausschnitt wurde gewählt etc. Auch das wird ja durch die Entscheidung der Fotograf:innen beeinflusst, welchen Ausschnitt von Wirklichkeit man zeigt und wie das dann die Wirklichkeit wieder verzerrt. Die Malerei war schon viel früher viel freier im Umgang mit dem, was sie darstellen will. Die Fotografie erlebt den Wandel halt jetzt – durch Photoshop, aber auch durch Künstliche Intelligenz. Was dazu führt, dass man Bildern eigentlich gar keinen Glauben mehr schenken kann.

Was macht das mit deiner Kunst? Ist die Entwicklung vom Figürlichen hin zur Auflösung der Form wie in deinem „Immerse“-Zyklus oder auch in „lago“ eine Antwort darauf? Der malerische Versuch, mit Zweifeln umzugehen?

Ich würde sagen, es ist die Antwort auf mehrere Dinge. Man kann das natürlich auf die Verunsicherung durch die „Wirklichkeit“ anwenden. Das ist eine Sache, die mir wichtig ist. Auf der anderen Seite geht es mir aber auch darum, durch malerische Techniken wie etwa die Auflösung der Figur eine Verbindung zum Umraum herzustellen, also eine Verbindung zur Natur und zur Wirklichkeit, die uns umgibt –  wo ich manchmal das Gefühl hab’, dass uns das verloren geht, dass wir uns davon entfernen, indem wir zum Beispiel unsere Umwelt immer mehr zerstören. Da habe ich einfach das Bedürfnis, mit meiner Malerei zu intervenieren und diese Verbindung zwischen Mensch und Natur wiederherzustellen. Dazu kommt, dass auch die Identität des Menschen etwas Flüchtiges ist – und diese Wandelbarkeit lässt sich durch die Auflösung der Figur sehr gut zeigen.

„Immerse II“: „Identität ist etwas Flüchtiges“ © Sofia Seidl

Dein Selbstporträt „Impuissance“ zeigt, wie hilflos und überfordert man sich als Künstler:in fühlen kann: Blaue Farbe läuft in Schlieren über das Bild, es sieht aus, als würde die Leinwand langsam blind. Um welche Ängste geht es da?

Siehst du die mächtigen Brückenelemente hinter der Figur und über ihr? Das beschreibt so mein Gefühl, in einer Welt zu leben, in der die ganzen Strukturen schon existieren – und dass ich weder zu ihrem Erhalt noch zu ihrem Zerfall etwas beitragen kann. Meine Hände sind leer, als Künstlerin wie auch menschliches Wesen, weil das große menschliche Kollektiv bereits alles entschieden hat und weil ich auch auf künftige Entscheidungen kaum Einfluss haben werde. Natürlich kann man sagen: „Hey, wir sind eine Demokratie und jede Stimme zählt!“ Und diese Möglichkeit muss man auf jeden Fall nutzen. Aber was der Einzelne bewirken kann, ist halt doch eher wenig. „Impuissance“ ist übrigens 2020 entstanden, also unter dem Eindruck der Pandemie, wo dieses Grundgefühl von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein allgegenwärtig war. Das ist vielleicht nicht unwichtig. Andererseits, wenn man guckt, was danach kam, passt es auch heute immer noch gut.

„Impuissance“: „Meine Hände sind leer“ © Sofia Seidl

Viele deiner Arbeiten aus den vergangenen Jahren sind Selbstporträts. Warum?

Das hat mehrere Gründe. Ich male gern Leute aus meinem Umfeld, Personen, die ich kenne, Freunde. Und mich male ich auch oft – meistens, weil ich halt grad da bin. Das ist die eine, praktische Seite. Vor allem aber male ich mich, wenn ich will, dass das Bild auch explizit etwas mit mir zu tun hat. Natürlich haben alle Bilder, die ich male, was mit meinem eigenen Selbst zu tun. Aber manchmal will ich das halt stärker zeigen.

Welchen Stellenwert hat das Selbstbildnis in der Kunst?

Naja, es war lange unüblich, dass Künstler sich selbst porträtiert haben. Porträts kennen wir lange nur von den Mächtigen, von weltlichen Herrschern oder Menschen, die eng mit der Kirche verknüpft waren. Albrecht Dürer hat sich als Künstler zum ersten Mal in Frontalansicht dargestellt, was eigentlich das Erkennungsmerkmal für Christusdarstellungen war. Das war ein großer Skandal. Dürers Selbstporträt als Herrscher und Gott hat man damals als blasphemisch empfunden. Heute sieht man das entspannter (lacht). Ich würd’ sagen, dass der Anreiz sich selbst zu porträtieren, immer auch etwas mit der Möglichkeit zu tun hat, sich selbst zu entdecken, über das Äußere einen Einblick auch in das Innere zu bekommen. Das ist, glaube ich, schon so eine Grundtendenz, die Menschen haben, dass sie sich selbst besser kennenlernen wollen.

Sind Künstler:innen geborene Narzissten?

Puh! Sind Menschen im Allgemeinen geborene Narzissten? Ich denk’, Künstler:innen haben halt die Techniken und die Werkzeuge und die Skills, sage ich mal, sich selbst darzustellen. Aber ich glaube, dass jeder Mensch irgendwie selbstbezogen ist und mehr über sich herausfinden möchte. Tatsächlich baut sich da ja gerade mit Instagram und Co. noch einmal ein ganz neues Spannungsfeld auf: Der Wille, sich selbst zu entdecken und zu erkunden, da tiefer reinzugehen, die eigene Identität zu klären, ist eine Sache. Wie man sich präsentieren möchte – und wie viel von dem, was man über sich herausgefunden hat – man der Welt zeigen möchte, die andere.

Was hast du beim Malen über dich gelernt? Und was davon ist „wahr“ im Sinne von gefühlter, erlebter oder (vielleicht) auch nur geträumter Wirklichkeit?

Also, ich hab schon den Anspruch, dass ich irgendwie einen Aspekt im Bild habe, den ich als wahr wahrnehme wie die Machtlosigkeit in „Impuissance“. Ich weiß: Das Gefühl als solches hat zwar nach der Logik der Philosophie keinen Wahrheitswert. Aber dass jemand etwas fühlt, kann wahr sein oder falsch und dieses Körnchen Wahrheit ist es dann auch, das ein Bild inspiriert oder auslöst, dass ich es malen will. Bei „Turmspringen“ zum Beispiel ist der wahre Kern nicht, dass ich da jetzt auf nem Sprungturm stand – ich war nie auf dem Turm (wurde aber tatsächlich allen Ernstes gefragt, ob ich da runtergesprungen bin oder nicht!) Das ist die zweifelhafte Wirklichkeit. Die Wirklichkeit dahinter ist dann, dass ein Entscheidungsprozess stattfindet, dass ich mir überlege, ob ich den Sprung wage oder nicht und wenn ja, wohin – man sieht ja zum Beispiel nicht, wo die Springerin landen würde, das finde ich auch ganz spannend. Ähnlich wie bei „freiheit“.

Inwiefern? 

Bei „freiheit“ habe ich mich von Nietzsche inspirieren lassen. Der hat mithilfe metaphorischer Bilder – eines Kamels, eines Löwen und eines Kindes – eine Theorie der Freiheit aufgestellt. Das Kamel trägt die Last der Erwartungen, die die Gesellschaft an das Kamel als Zug- und Lasttier hat, es nimmt alles auf sich und ist komplett unfrei; dann kommt der Löwe, der sich wild von allen Erwartungen löst, aber noch kein Ziel vor Augen hat; und schließlich das Kind, das komplett frei ist von Erwartungen und Zwängen und frei entscheiden kann, wohin es will. An der Stelle ging’s mir darum, dass ich mich hier eine Stufe über den Löwen stelle von wegen: Okay, ich hab gewisse Erwartungen schon von mir abgeworfen, aber ich weiß noch nicht, wo’s hingehen soll. Das habe ich dann in eine surrealistische Szenerie mit Treppenstufen hinein gebaut und mit einer Ebene, auf die man steigen könnte – wo man aber auch nicht weiß, wohin einen das führt …

Ist dieses Spiel mit dem Risiko der Grund, warum du so ungebremst mit Stilen experimentierst – vom Realismus zum Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit zum Surrealismus zum Postpunk und von da zurück zur Porträtmalerei des 15. Jahrhunderts?

Ich glaub, das ist eher mein Unwille, mich festzulegen. Man hört ja oft und es wird uns auch immer wieder gesagt, dass man als Künstler:in wiedererkennbar sein sollte, seine eigene Marke gewissermaßen. Und auf der einen Seite würde ich sagen, suche ich tatsächlich nach meinem Ding und probier’ ganz unterschiedliche Sachen aus. Aber oft passe ich meine Bildgestaltung auch einfach dem Thema an, schau, wie ich’s am besten rüberbringe – und da ist es dann natürlich schön, dass es diesen Inspirationspool der Kunstgeschichte gibt, wo man sich was herausgreifen kann.

Das klingt so easy und spontan – und hat rein gar nichts mit malerischem Ehrgeiz zu tun?

Ich würd’s jetzt nicht ausschließen (lacht), aber sicher nicht in erster Instanz. Ich glaube, der malerische Ehrgeiz schwingt so und so immer mit, aber nicht unbedingt derart, dass ich sage: Ich nehm mir jetzt den und den Stil und meistere den und dadurch zeige ich irgendwas…

„mit Katze“ statt Hermelin: Seidl goes da Vinci © Sofia Seidl

Eins der Beispiele, wo’s ohne malerischen Ehrgeiz sicher nicht gegangen wäre, ist „mit Katze“ , ein Remake von da Vincis „Dame mit dem Hermelin“. How dare you? 

Das kann ich erklären (lacht)! Die Ursprungsidee dazu war nämlich nicht: Ich male jetzt „Die Dame mit dem Hermelin“ nochmal. Mit mir selbst. Sondern es ging mir um die Katze meiner Eltern, die wir bekommen haben, als ich in der Grundschule war. Die ist jetzt alt und ich dachte, bevor sie irgendwann doch stirbt, würde ich sie gern auf einem Bild verewigen. Weil sie mir wichtig ist. Als ich dann überlegt hab, wie ich’s mache, ist diese „Dame mit dem Hermelin“ in mir aufgeploppt – und der Gedanke war, es von der Blickrichtung und vom Motiv her ähnlich zu halten, aber meinen Stil und meine Figurauffassung mit reinzubringen und das Ganze dadurch in die Jetzt-Zeit zu holen. Ich hab mich auch nicht groß verkleidet, nur ne schwarze Perlenkette angelegt wie die Frau auf dem Bild und ansonsten noch darauf geachtet, dass das Licht von der richtigen Seite kommt. Und den dunklen Hintergrund habe ich übernommen! Eine Herausforderung war, diese Weichheit, die es im Original gibt, nicht 1:1 umzusetzen, weil so extrem sanfte Übergänge mache ich eigentlich nicht. Ich setz lieber Farbton neben Farbton – und wenn sich das dann so ein bisschen durch verschiedene Lasuren überlagert, dann ist das etwas anderes als wenn man es mit Ölfarben ineinander vertreibt.

„mit Katze“ find ich spektakulär in der Umsetzung, „schwelen“ von 2023 würde ich gern politisch lesen wollen … als Geste der Selbstermächtigung, im feministischen Kontext, gemalt im Geist und mit den Mitteln einer noch jungen Moderne des 20. Jahrhunderts. Richtig? Falsch?

Weder, noch! Das ist jetzt tatsächlich ein Bild, wo ich mir inhaltlich nicht so extrem viele Gedanken gemacht hab, tut mir leid, dass ich das zugeben muss (lacht)! Mir ging’s da erst mal um die Farben im Bild, um diesen Kontrast und auch um die Lichtsituation. Wobei, klar: Frau mit Zigarette hat immer was Feministisches. Und dieser Blick so ein bisschen von oben herab – möglich, dass es da unterschwellig einen feministischen Kontext gibt. Aber ich hab’s nicht darauf angelegt. Manchmal entstehen solche Zusammenhänge auch zufällig. Tatsächlich finde ich „schwelen“ sehr cool als Bild.

„schwelen“: „Frau mit Zigarette hat immer was Feministisches“ © Sofia Seidl

Im Vergleich wirken deine im selben Jahr entstandenen „drei Nornen“ auffallend blaß, fast wie Schimären – weil wir Kinder der Aufklärung sind, an ein selbstbestimmtes Leben glauben und weniger an seine Schicksalhaftigkeit?

Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich meinen „drei Nornen“ keinen Schicksalsfaden, keine Spindel und keine Schere in die Hand gegeben habe, mit denen sie in der Sage das Leben der Menschen bemessen – weil mir das einfach zu gruselig erschien, dass man sich da in so einen vorbestimmten Lebensweg hinein begeben soll. Die Blässe kommt davon, dass ich die drei Nornen – Urd (die für die Vergangenheit steht), Verdandi (Gegenwart) und Skuld (Zukunft) – als transparente Lichtgestalten darstellen wollte, die fiktiv sind, die auch keine Körperlichkeit haben wie in den klassischen Malereien solcher Schicksalsgöttinnen, wo die tatsächlich als Menschen porträtiert werden. Für mich ist Zeit und auch der Fluss der Zeit ein abstraktes Konzept. Es vermenschlichen zu wollen, finde ich schwierig. Deshalb habe ich versucht, diese Personifikationen durch die Malerei wiederum stärker zu abstrahieren und ihnen durch die flache Erscheinung was von ihrer Körperlichkeit zu entziehen.

Jetzt haben wir viel kontextualisiert, eins kam dabei aber noch zu kurz: dein lässiges Slackertum, mit dem du die Fallhöhe deiner Bilder gelegentlich unterläufst. Ein expressionistisches Selbstporträt im Stil der beginnenden Moderne heißt dann zum Beispiel: „der Teufel trägt Winterjacke“…

Das ist vielleicht weniger Ironie, mehr so ein Augenzwinkern! Jeder kennt „Der Teufel trägt Prada“, wenigstens den Titel. Und tatsächlich kam der Anstoß dazu nicht von mir. Eine Dozentin hatte diese Teufelsassoziation, als wir das Bild zum ersten Mal besprochen haben – wegen der orange-rot glühenden Farbtöne im Hintergrund und auch wegen der Farben, die in der Figur auftauchen, diese Grünliche im Gesicht, das ja auch schon was Dämonisches hat irgendwie. Ich selbst find’s immer schwierig, Titel für Bilder zu finden. In dem Fall fand ich’s aber tatsächlich lustig. Und man muss das ja auch nicht so extrem Ernst nehmen. Ich glaub’, die Ernsthaftigkeit liegt im Bild. Und ob der Titel dann ernst ist, ist nicht so wichtig. 

Es gibt einige popkulturelle Bezüge in deinen Arbeiten. „DeLIRIUM“ zum Beispiel könnte ich mir gut als Cover für Sonic Youth vorstellen oder fürs nächste Soloalbum von Kim Gordon …

Vielleicht, weil ich da mit Schrift experimentiert hab? So losgelöste Linien wie für die Silhouette der Figur habe ich auch noch nicht verwendet! Die Schrift finde ich selber cool, das hab ich gut hingekriegt (lacht): Die hat jemand original an nem Ort, den ich kenne, in der Toskana, auf eine Mauer gesprayt – auch mit dem witzigen kleinen „e“ in dem ansonsten groß geschriebenen Wort – das wollte ich unbedingt ins Bild mit rein nehmen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch schon entschieden, dass ich mit diesen Linien arbeiten will. Im Endeffekt habe ich dann die Silhouette der Figur einmal als Umrisslinie genommen, gespiegelt und so draufgelegt. Und der Schriftzug DeLIRIUM liegt jetzt vor der Figur statt hinten an der Wand. Dadurch ist in dem Bild so diese Dynamik drin, die du da spürst. Auch durch die knalligen Farben, das Gelb mit dem Pink mit dem Violett mit dem Blau mit dem Grün, entstehen solche popkulturellen Assoziationen sehr schnell. Das Schablonenhafte erinnert auch ein bisschen an Street-Art oder Graffiti. „DeLIRIUM“ ist sicher eines meiner poppigsten Bilder.

„DeLIRIUM“: Knallt! © Sofia Seidl

Ist wahrscheinlich ein Reflex, dass man beim Stichwort Poolbild automatisch an die Obsession des Pop Art-Künstlers David Hockney mit swimming pools denkt. Du hast zuletzt auch einige solcher Bilder gemacht. Aber statt der trägen Grundstimmung à la Hockney spürt man bei dir in „die Surrealistin – S. 186“ oder „nixe“ eine Sehnsucht nach Entgrenzung und Schwerelosigkeit.

Ich find’ auch, bei Hockney hat das alles so was Festgelegtes, fast schon Einsperrendes. Mir dagegen geht es mehr um die Leichtigkeit, auch um das Wasser an sich. Ich bin tatsächlich eine Aquaphile, wenn es das gibt und wenn es so heißt. Gewässer üben auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Ich hab immer Lust, da rein zu gehen und mich mit dem Wasser sozusagen zu verbinden, auch wenn das jetzt komisch klingt – Entgrenzung trifft es vielleicht besser.

„nixe“: Leichtigkeit statt bore out © Sofia Seidl

Leichtigkeit, Entgrenzung: Ist das so eine Art Idealzustand für dich? 

Ja, vielleicht, aber da kommt jetzt eben auch wieder diese zweifelhafte Wirklichkeit mit rein, weil auf der einen Seite habe ich schon das Bedürfnis, so diese Verbindung mit dem Wasser einzugehen oder überhaupt mit der Natur. Aber es kann auf der anderen Seite halt auch gefährlich sein, sich dem Wasser komplett auszuliefern. Wenn man zu viel Salzwasser trinkt, trocknet man aus, was eigentlich total kontraintuitiv ist – allein sich vorzustellen, dass man vom Wassertrinken verdursten kann! Aber vielleicht ist das ja genau der Reiz des Wassers, dass es so verführerisch ist und gleichzeitig, wie ne Nixe, auch gefährlich.

Die Entgrenzung ist das Gegenteil des Gefangenseins in sich selbst, wie du es in „autolimitation“ oder in „im Glashaus“ beschreibst. Kann man sagen: Bilder waren für dich nie das Problem, sondern immer schon Teil der Lösung?

Für mich persönlich sind Bilder auf jeden Fall ein Weg, diese Aspekte des Lebens, Aspekte der Wahrnehmung der Wirklichkeit auszudrücken – also auf der einen Seite so diese Beschränkung und Begrenzung und auf der anderen die Entgrenzung und auch das Gefühl von Freiheit und (teilweise) von Auflösung. Ist vielleicht das Spektrum, was ich bin, das ich da aufmach’.

„lago“: „Gefühl von Freiheit und … Auflösung“ © Sofia Seidl
Künstlerin Seidl: Bin ich? Und wenn ja? © Katharina Tenberge-Holzer
Sofia Seidl, Jahrgang 1996, hat Bildende Kunst und ästhetische Erziehung, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Regensburg studiert. Sie weiß viel, ist von grundsätzlichem Ernst, aber man kann auch viel lachen mit ihr - zum Beispiel, wenn sie es in gespielter Verzweiflung auf ihre Frisur schiebt, dass manche in ihr ein Role Model der gerade (wieder) schwer angesagten Neuen Sachlichkeit sehen. Oder wenn sie einem im Vorübergehen eine Synästhesie attestiert, weil man zu ihren Bildern Sounds von Sleater-Kinney, David Lynch oder Sonic Youth tönen hört. Seidl ist Mitglied im Regensburger KunstvereinGRAZ und im BBK Niederbayern/ Oberpfalz. Sie war Artist in Residence im BauKulturCamp, Caserma Pepe, Lido di Venezia bei der Biennale Urbana 2018. Verantwortete die Konzeption und Gestaltung der Gedenkausstellung "Vergesst uns nicht! 80 Jahre Verschleppung und Ermordung der Regensburger Jüdinnen und Juden", 2022-2023, mit Florian Toperngong. Ihre Ausstellung "Zweifelhafte Wirklichkeiten", ist noch bis 24. März im Kulturraum Vor der Grieb in Regensburg zu sehen