Tagelang ein- und denselben Song zu hören, wird irgendwann fad. Dachten wir so. Bis wir vor Kurzem, eher zufällig, bei Robert Palmer und „Johnny and Mary“ gelandet sind. Einem Allerweltsding aus den 80ern. Jetzt fühlen wir uns beschenkt. Wie das? Geschichte einer Sommerliebe

#1 „Johnny and Mary“ by Robert Palmer

Robert Palmer, Brite, gut aussehend, weltgewandt, ein Beau der Popgeschichte. Wer sich heute an ihn erinnert, sieht ihn stilvoll gekleidet, umgeben von schönen Frauen, fingerschnippend durch die Videos der MTV-Ära tänzeln („Addicted to Love“). Es war die Zeit seiner größten Erfolge und begonnen hatte sie 1980 mit „Clues“, seinem bis dahin entspanntesten Album, aufgenommen nicht im trüben London, sondern in Nassau auf den Bahamas, with a little help von Chris Franz (Talking Heads) und der New Wave-Ikone Gary Numan. Auf dem Cover sieht man Palmer in Jeans und T-Shirt, mit Over-Ears, in der Brandung stehen, ein bisschen nachdenklich, aber schon auch irgendwie lässig, und genauso hört sich die Platte auch an. Mochten die Zustände daheim in England mit galoppierender Arbeitslosigkeit, wachsender Armut, im aufkommenden kalten Wind des Thatcherism noch so niederschmetternd sein: Zu „Looking for Clues“ konnte man wenigstens tanzen! Und dann waren da noch „Johnny and Mary“ – und die Ahnung, dass es Dinge gibt, die größer sind als man selber, größer als man es für möglich gehalten hätte.

Palmer-Album „Clues“, Single „Johnny und Mary“: Größer als gedacht

#2 „Johnny Et Marie“ by Robert Palmer & Marie Léonor

Liebesgeschichten aus der Sicht eines Beteiligten zu erzählen, ist keine gute Idee. In „Johnny and Mary“ wechselt Palmer deshalb immer wieder mal die Perspektive: „Johnny’s always running around/ Trying to find certainty/ He needs all the world to confirm/ That he ain’t lonely/ Mary counts the walls/ Says she should be used to it.“ Doch so clever sich das anhört, so politisch korrekt es gemeint gewesen sein mag: Es ist sein Text, seine Interpretation, und auf die Dauer, das war klar, käme Palmer damit nicht durch. Dafür war der Song zu gut. Und irgendwann zu populär. Widerspruch war programmiert. Und so erschien kurz nach „Johnny and Mary“ in Frankreich eine (französischsprachige) Coverversion der Sängerin Marie Léonor mit dem Titel „Johnny Et Marie“. Wem es gelang, die beiden Künstler:innen dann auch noch zur Zusammenarbeit zu überreden, wissen wir nicht. Was wir aber wissen, ist: Dass es irgendwann geklappt hat und dass das ein großes Glück gewesen ist. Denn in „Johnny Et Marie“ von Marie Léonor und Robert Palmer passiert, was immer passiert in französischen Produktionen: Die Leute reden miteinander. Sie reden und reden. Das kann man banal finden. Zum Davonlaufen. Aber wie sollen Menschen im Leben und in der Liebe sonst zusammenkommen?

Marie Léonor, Robert Palmer „Johnny Et Marie“: Sprich mit mir!

#3 „Johnny and Mary“ by Bryan Ferry & Todd Terje

Ob es jemals so etwas wie eine Leichtigkeit in der Beziehung von Johnny zu Mary und umgekehrt gegeben hat? Wenn ja, dann ist das hier das Gegenteil: Eine Hommage an die Schwermut. Ein edel in Schwarzweiß getauchtes Melodram. Memoir einer Liebe, in dem die Beteiligten zwar noch um Worte ringen, aber jede:r für sich. Palmers Original, das bei ihm noch etwas Sprunghaftes, Ungestümes hat, klingt hier auch wegen des quälend langsamen Scores des Norwegers Todd Terje erschöpft und müde – als hätten Johnny und Mary alles gegeben und irgendwann doch erkennen müssen, dass sie sich verkämpfen. „Was soll ich sagen, ich lebe allein zur Zeit, und ich gewöhne mich langsam daran“, erzählte Ferry ein paar Monate, nachdem der Clip mit dem „Vogue“-Model Eliza Cummings, 24, auf YouTube hochgeladen worden war, der „Welt“. Und auf die Frage, ob Liebeskummer mit 70 denn immer noch stark sei wie mit 17, schüttelte er nur den Kopf: „Möglicherweise fühlt man ihn im Alter noch schlimmer …!“ „Johnny and Mary“, Ferry’s Version, ist eine sehr persönliche. Der Sänger und Gründer von Roxy Music war zweimal mit deutlich jüngeren Frauen verheiratet. Sein Sohn Isaac aus erster Ehe hat den „Johnny and Mary“-Clip produziert. Alles hier – von der Villa mit Pool und Blick über die Stadt bis zu den Drinks – ist quasi custom made. Aber die Liebe lässt sich nun mal nicht vermessen …

Bonjour Tristesse: Ferry, „Johnny and Mary“

#4 „Johnny and Mary“ by Placebo

Placebo sind: Post-Punk mit Spuren von Glam und Gothic. Sie sind Camp, hyperventilierend und immer kurz vorm Überdrehen, was auch an der Stimme des Sängers Brian Molko liegt. Engel (Robert Stadlober) und Joe (Jana Pallaske) aus Vanessa Jopps mehrfach ausgezeichnetem Film „Engel und Joe“ von 2001 könnten Placebo mögen, weil ihr Leben auf wackeligen Beinen steht und jeden Moment kippen könnte. Content-Creator oh shiit hat vor drei Jahren Sequenzen aus „Engel und Joe“ mit der „Johnny and Mary“-Coverversion von Placebo aus den 1990ern gegengeschnitten und auf die Netzgemeinde losgelassen. Er braucht nicht mehr als 1:21, um die Sturzflut an Gefühlen zu imaginieren, die über dich hereinbricht, wenn du dich verliebst: Gefühle, auf die du nicht gefasst bist, die mit dir machen, was sie wollen, ambivalente Gefühle auch, die schnell ins Gegenteil umschlagen können. Was wir hier sehen, ist kein bourgeoises Idyll. Sondern eine Amour fou: Eine Liebe, die wenig bis gar nichts über sich weiß und die sich dafür auch nicht interessiert. Sie nimmt sich, was sie kriegen kann. Aber sie ist auch sprachlos, hilflos, ratlos. Nichts für Feiglinge!

Placebo, Pallaske, Stadlober: Macht und Ohnmacht der Gefühle

#5 „Johnny and Mary“ by Ellie Meriz

„Wir kriegen die Welt, die wir verdienen“, sagt der eine Cop (Colin Farrell) zum andern (Rachel McAdams) in der zweiten Staffel von „True Detective“. Am Ende wird die ganze Ermittlungsarbeit der beiden umsonst gewesen sein, Korruption und Gier werden siegen, und sie selbst werden einander verlieren. Schicksal? So weit würden wir als Kinder der Aufklärung natürlich nicht gehen. Aber wir haben auch immer noch das Klagelied im Ohr, das sich als wiederkehrendes Motiv durch alle acht Teile der Serie zieht – und in dem Lera Lynn von der Vergeblichkeit menschlichen Strebens singt: „This is my least favourite life“. An Lynn, ihre Stimme, so spooky wie prophetisch, mussten wir denken, als wir Ellie Meriz‘ Version von „Johnny and Mary“ zum ersten Mal gehört und gesehen haben. Meriz, Französin, geboren in Clermont-Ferrand, hat eine Vorliebe für Leonard Cohen und Velvet Underground, was ihrem Indie-Folk insofern gut steht, als die Songs dadurch eine andere Fallhöhe bekommen. Mit der Gibson statt der Akustikgitarre und mit starker Betonung auf dem Erzählerischen wird bei ihr aus „Johnny and Mary“ eine Ballade im klassisch-literarischen Sinn. Man bangt nun mit Johnny und Mary – und hofft, dass sie sich aus eigener Kraft aus dem Schlamassel ziehen.

Sängerin Ellie Meriz, „Johnny and Mary“: Bangen und Hoffen

#6 „Johnny and Mary“ by Kisses

Es herrscht eine Art distanzierter Nähe zwischen den Protagonist:innen in Jesse Kivels und Zinzi Edmundsons Adaption von „Johnny and Mary“. Als Kisses haben die beiden aus Santa Monica, Kalifornien (Kivel) und Providence, Rhode Island (Edmundson) stammenden Musiker:innen zwischen 2010 und 2015 vier Alben aufgenommen, die sich nicht so recht zwischen New Wave, Pop und Rock entscheiden können oder wollen. Ihr Palmer-Cover von 2011 zum Beispiel klingt ein bisschen nach Tears for Fears – mit abgemildertem Pathos und sanft federnden Beats à la Everything but the Girl. Schon einnehmend also. Einerseits. Andererseits aber auch nicht so, dass es uns um jeden Preis, Hals über Kopf, hineinziehen würde in diese Geschichte zweier Menschen, die nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander können. Neu ist hier, dass Johnny und Mary sich offenbar nicht mehr spüren, dass das aber keine:n von ihnen stört oder irritiert. „Johnny and Mary“ von Kisses ist ein gut gelaunter Abgesang. Ihren Clip illustrieren Kivel und Edmundson – very instagrammable! – mit Eindrücken eines Trips nach Rio, wo Kivel sich wie ein Model durchs Hipster-Viertel am Rand der Favela bewegt. Da kann man schon ins Grübeln kommen. Aber vielleicht sind Kisses ja auch nur näher dran an Johnny und Mary: „Mary always hedges her bets/ She never knows what to think/ She says that he still acts like he’s/ Being discovered/ Scared that he’ll be caught/ Without a second thought …“

Kisses: „Johnny and Mary“ in Rio

#7 „Johnny and Mary“ by Mathias Kellner

Wer uns kennt, weiß, dass wir es mit dem „Boarischen“ nicht so haben. Wahrscheinlich ein Gendefekt. Mindestens aber eine „Fetzn“-Allergie, die bevorzugt dann ausbricht, wenn uns dieses Boarische mal wieder (wie so oft) demonstrativ krachledern, mit aufgeblähtem Ego und zehn Wegbieren in der Hand die Welt erklären will. Umgekehrt mögen wir es, wenn eine:r so leise und verschmitzt auftritt wie der Liedermacher Mathias Kellner aus Straubing. Wie Kellner – der eigentlich Schreiner gelernt hat und sein Geld zwischenzeitlich als Gitarrenlehrer verdiente – hier die Geschichte von „Johnny and Mary“ zum intimen Kammerspiel umfunktioniert; wie er all die kleineren und größeren Missverständnisse in der Kommunikation der beiden in Sprache übersetzt, gelingt so anschaulich (vielleicht) tatsächlich nur im Dialekt: „Der Johnny glaubt er wissat wia’s laaft, do es wü koan in’tressiern/ D’Mary moant eam foit jed’n Tog irgend wos ondas ei…“ Judith Holofernes, die mit ihrer Band Wir sind Helden auch eine Coverversion von „Johnny and Mary“ eingesungen hat, wurde dazu mal im Chat gefragt, was das „eigentlich für eine Geschichte ist“, die sie da erzählt. Sie hat versucht, es zu erklären, genau wie Kellner es hier auch probiert. Wenn Johnny und Marie sich schon nicht mehr spüren, sorgt er dafür, dass wir sie spüren – und anfangen, zu verstehen.

Mathias Kellner, „Johnny and Mary“: Anfangen zu verstehen
Zu einem klassischen Abspann gehört, dass man sich bedankt. Lieben Dank also an den Musikblog Bedrooomdisco, der seinem Motto "Spread Love For Good Music" wirklich gerecht wird - und mit einer Besprechung des neuen Albums von Kitty Solaris inkl. des darauf vertretenen Covers von "Johnny and Mary" dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt auf die Idee gekommen sind, in den "Johnny and Mary"-Kosmos abzutauchen. Danke auch an den Algorithmus, der uns ungefragt Perlen wie Ellie Meriz' Version in den Account gespült hat. Derselbe Algorithmus (?) hat dafür gesorgt, dass wir auch vor der eigenen Haustür geschaut und, wie im Fall Mathias Kellner, tatsächlich was dazu gelernt haben. Bleibt noch zu sagen: Es war eine schöne Reise! Von der wir uns sogar vorstellen könnten, sie noch einmal zu machen, dann natürlich mit anderer Destination