Montag, 9 pm EST in Chicago/ Illinois. Dienstag, drei Uhr morgens, in Deutschland: Es ist der Slot von Representative Alexandria Ocasio-Cortez, kurz: AOC, beim Nominierungsparteitag der US-Demokraten für die Präsidentschaftswahlen im November. Ein Auftritt, den alle gesehen haben sollten, deren Herz links schlägt – und zwar aus (mindestens) drei Gründen

AOC beim DNC (Democratic National Convention): Gesicht des linken Amerika

Erstens: Wissen, wofür man kämpft und warum!

Ist es Zufall, dass die Woche hierzulande mit der Ankündigung des Führungsduos der Linken, Janine Wissler und Martin Schirdewan, begann, beim Parteitag im Oktober nicht mehr kandidieren zu wollen? Die Partei nicht mehr länger führen zu wollen? Für einen Relaunch, wie er nach der Abspaltung von Sarah Wagenknechts BSW, nach dem desaströsen Abschneiden der Linken bei der Europawahl und vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg mit der Drohkulisse rechter Mehrheiten für Die Linke wohl existenziell wäre, fehlten beiden offenbar nicht nur die Ideen. Sondern wegen interner Grabenkämpfe auch der Glaube und die Kraft. Wer die Geschichte linker Bewegungen in Deutschland kennt, könnte verzweifeln, so bedrückend ist dieses Déjà-vu, dieses Sich-Zerlegen immer dann, wenn es darauf ankommt, in kritischen Zeiten für die Demokratie. AOC dagegen? Weiß, was sie will. Sie nennt es demokratischen Sozialismus – und meint damit nicht die Worthülse aus dem Seminar für Politische Theorie. Die Latina mit puerto-ricanischen Wurzeln, geboren im New Yorker Stadtteil Bronx, ist eine demokratische Sozialistin by knowledge and experience, die weiß, was das Zusammenleben in einer Gesellschaft am meisten vergiftet. Nämlich: Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit. In jeder Hinsicht. Ob race, class oder gender. Dagegen kämpft sie. Für diesen Kampf brennt sie. Das spürt man sehr schnell.

Zweitens: Themen besetzen und adressieren!

Donald Trump findet sich schöner als Kamala Harris? AOC geht lieber gleich all-in, sagt, was für sie die entscheidende Frage in diesem Wahlkampf ist – nämlich, ob es wirklich Sinn und Zweck von Politik sein kann, dass die Reichen immer noch reicher und die Armen immer ärmer werden: „You cannot love your country, if you only fight for the wealthy and big business. To love this country is to fight for it’s people. All people“, sagt AOC und zielt damit (natürlich) auf Trump, den sie als gewissenlosen Egomanen und enthemmten Kapitalisten beschreibt, der vor allem eins will – sich selbst und seinen Freunden die Taschen voll zu machen: “Donald Trump would sell this country for a dollar, if it meant lining his own pockets and greasing the palms of his Wall Street friends.” Was das für die bedeutet, die nicht profitieren, weiß AOC. Gegengeschnitten mit ihrer eigenen, zeitweisen Lebensrealität – dass ihre Familie nach dem unerwarteten Krebstod des Vaters nicht wusste, woher sie das Geld für die aufgelaufenen Rechnungen nehmen sollte; dass sie selbst noch vor sechs Jahren als Bedienung in einem Schnellrestaurant arbeitete, um die Mutter zu unterstützen; dass sie damals wie viele andere um ihre Existenz ringende Menschen in den USA noch nicht mal krankenversichert war – ergibt sich das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die eine andere Art von Leadership braucht als Trump und die Republikaner sie im Angebot haben. Dass die sie gerade wieder als „Kellnerin“ dissen? Dass man ihr sagt, sie solle dahin gehen, wo sie herkommt? Zeigt nur, was auf dem Spiel steht, so AOC: „Ever since i’ve been elected, Republicans attacked me by saying i should go back to bartending. Happy of! Because there is nothing wrong with work for a living!“ AOC kämpft für die Kassiererin im Supermarkt, für den Fabrikarbeiter, für die everyday americans. Es geht um Empathie, sagt sie, um die Würde der Menschen. Um „Respekt“, wie Deutschlands SPD-Kanzler Olaf Scholz das in seinem Wahlkampf nannte (bevor sich seine Ampel das Geld für die Konsolidierung ihres Haushalts ausgerechnet von den Schwächsten holte, beim Bürgergeld kürzte und die Kindergrundsicherung schon vor Inkrafttreten des Gesetzes wieder entsorgte). AOC ist da nicht bang: „We have a chance to elect a president (Kamala Harris, Anm.d.Red.), who is for the middle class, because she is from the middle class: If you are a senior and you have to go work, because your retirement didn’t stretch enough – Kamala is for you! If you are an immigrant family, starting your american story – Kamala is for you!“ Mit dieser Präsidentin, signalisiert AOC den euphorisierten Demokraten im United Center von Chicago, macht sich die Partei, macht sich das Land auf den Weg „nach vorn, nicht zurück!“, mit dem Recht auf Abtreibung und einem starken Fokus auf den Bürgerrechten, mit einer entschlossenen Klimapolitik hin zu mehr grünen Unternehmen und dem unermüdlichen Eintreten für einen Waffenstillstand in Gaza und dafür, die noch lebenden israelischen Geiseln nach Hause zu holen, Es klingt wie die Quadratur des Kreises. Aber, hell yeah, das ist der Ton, den wir hören wollen, die Entschlossenheit, die von nun an diesen Wahlkampf prägen sollte, heißt es auf X, wo AOC’s Account in diesem Moment fast explodiert. Ihre Botschaft ist angekommen!

Drittens: Dissens aushalten!

AOC hat am Montagabend in Chicago nicht nur einen guten Job gemacht. Sie ist dabei auch immer wieder über ihren Schatten gesprungen. Und da hat sie, liebe Linke, nochmal einen Punkt! Zum amtierenden Präsidenten Joe Biden zum Beispiel hat AOC ja ein durchaus ambivalentes Verhältnis. Zwar war sie es, die vehement Partei für ihn ergriff, als sich nach dem missglückten TV-Duell mit Donald Trump die Stimmen bei den Demokraten mehrten, die für einen Rückzug des 81-Jährigen aus dem Wahlkampf plädierten. Es gebe kein Grund, diesen Kampf „jetzt schon verloren zu geben“, erklärte sie Mitte Juli, Abgeordnete, die das tun, „sollten ihr Mandat zurückgeben“. Bei anderer Gelegenheit aber kritisierte sie Biden, etwa für seine Unberechenbarkeit in der Klimapolitik, und forderte von ihm ein klares und abschließendes Bekenntnis zur Abkehr von fossilen Brennstoffen. Auch die Ukrainepolitik des Präsidenten passte ihr nicht. So verurteile sie zwar den Angriffskrieg Putins und auch die US-Hilfe für die Ukraine sei okay, Im Übrigen aber sei es an der Zeit, „energische diplomatische Anstrengungen zur Unterstützung einer Verhandlungslösung und eines Waffenstillstands zu unternehmen“ und „direkte Gespräche mit Russland zu führen“, heißt es in einem Brief ans Weiße Haus vom Herbst 2022, den 30 Abgeordnete der Demokraten, unter ihnen AOC, unterschrieben. Es knarzte oder schepperte immer wieder mal zwischen Biden und dem linken Flügel der Partei – wie im übrigen auch zwischen den Leftwings und Kamala Harris. Als Harris 2021 in Guatemala potenzielle Migranten vor dem Versuch der Einreise in die USA warnt („Kommt nicht hierher“), ist es AOC, die die Vizepräsidentin und Parteifreundin frontal attackiert: „Erstens ist es 100 Prozent legal, an der US-Grenze um Asyl zu bitten“, schrieb sie damals auf Twitter: „Zweitens haben die USA über Jahrzehnte Regimewechsel und Instabilität in Lateinamerika vorangetrieben. Wir können nicht dabei helfen, jemandem das Haus anzuzünden – und die Person dann dafür verurteilen, dass sie flieht.“ Nach deutschem Verständnis von Politik wäre Harris Reala, AOC definitiv Fundi. Auseinandersetzungen zwischen diesen Strömungen haben hierzulande vor allem Bündnis 90/ Die Grünen, aber auch Die Linke immer wieder vor Zerreißproben gestellt. Für AOC aber – das ist der Unterschied – zählt das Projekt: Der Aufbruch. In eine bessere Zukunft. Für alle. Am Montagabend in Chicago hörte sich das bei ihr so an: „Thank you Joe Biden for your leadership!“ Und: „Thank you, Kamala Harris and Tim Walz for your vision!“ Optimismus, der ansteckt, und Empowerment für alle! Man muss es nur wollen …

Afterwork: AOC, Colbert und die Magie des Aufbruchs
Alexandria Ocasio-Cortez, 34, hat Wirtschaft und Internationale Beziehungen studiert, danach hatte sie (nach eigenen Worten) wegen der hohen Studiengebühren erstmal 25.000 Dollar Schulden. Während des Studiums arbeitet sie im Büro des demokratischen Senators von Massachusetts, Edward Kennedy. 2016 unterstützt sie den Wahlkampf des linken Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders. 2018 kandidiert sie zum ersten Mal selbst für den 14. New Yorker Kongresswahlbezirk zum Repräsentantenhaus, dem sie seit 2019 angehört. Mehrmals wiedergewählt, gilt die Latina mittlerweile als das "linke Gesicht Amerikas". AOC hält mit Forderungen wie der nach sozialem Eigentum und einem starken öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen die US-Demokraten auf Trab. Sie ist bestens vernetzt mit Gewerkschaften, Bürger- und Frauenrechtsorganisationen und besetzt schon mal mit Öko-Aktivist:innen die Büros von Partei-Ikonen wie Nancy Pelosi, wenn es mit dem New Green Deal nicht so vorangeht wie geplant. Bis heute unterstützt AOC soziale Projekte im New Yorker Stadtteil Bronx. Ihre Credibility bei den Menschen ist auch nach Jahren in der Politik ungebrochen. Allein ihre Netz-Community mit acht Millionen Followern auf Instagram und 13 Millionen auf X lässt die politische Konkurrenz blaß aussehen