Es soll ja Leute geben, die vergessen haben oder nicht wissen oder verdrängen, wie Faschismus funktioniert, was er mit Menschen macht. Für die – und für uns alle, die wir ein Leben in Freiheit für selbstverständlich halten – hat Georg Kreisler vor gut einem halben Jahrhundert sein erstes und einziges Musical geschrieben. Schauspielerin Melanie Rainer über „Heute Abend: Lola Blau“, die Herausforderungen und Untiefen des Stücks – und warum die Wiederaufnahme im Regensburger Turmtheater genau im richtigen Moment kommt
Frau Rainer, nach 10x „Lola Blau“ in der vergangenen Spielzeit war zunächst nicht klar, ob es eine Wiederaufnahme geben würde. Jetzt sind Sie zurück! Wie glücklich sind Sie?
Melanie Rainer: Ich bin wirklich sehr froh, dass ich „Lola Blau“ im Turmtheater spielen durfte – und jetzt wieder darf!
Warum ist Ihnen das Projekt so wichtig?
Ein Grund ist, dass ich’s immer schon machen wollte! Schon als ich 2004 in Berlin Musical studiert habe, hat man mir die Rolle der Lola Blau nahegelegt. „Das musst du unbedingt mal spielen“, sagten die Dozenten: „Aber jetzt bist du noch zu jung dafür!“ Im Lauf der Jahre habe ich das immer wieder gehört. Ich hab nicht aufgehört, die „Lola“ vorzuschlagen, aber die Reaktion war immer dieselbe: Ich sei zu jung. Erst jetzt bin ich scheinbar alt genug (lacht)! Markus Bartl, der neue Intendant am Turmtheater, hat jedenfalls gleich JA gesagt, als ich ihm Kreislers Musical vorgeschlagen habe …
Für alle, die’s nicht wissen: Wer ist Lola Blau?
Lola Blau ist eine Künstlerin, die in der Nazizeit in Wien lebt. Sie will eigentlich nur ihre Kunst machen, unterhalten und singen, aber man lässt sie nicht. Sie wird stattdessen immer wieder vertrieben, muss fliehen von einem Ort zum nächsten. Erst in den USA kommt sie vorübergehend zur Ruhe, darf sie ihre Kunst leben, muss ihr Geld aber in zweitklassigen Cabarets verdienen, Sexarbeit inklusive, und verliert sich im Alkohol. Lola ist eine Getriebene. Immer unterwegs. Immer auf der Suche nach dem Glück.
Lolas Geschichte, ihre Odyssee und ihr persönliches Drama, fängt 1938 damit an, dass sie vom Landestheater Linz eine Absage bekommt. Heute würde man sagen: Sie wird gecancelt. Weil sie Jüdin ist?
Klar! NUR weil sie Jüdin ist! Ihre Kunst wird geliebt, ihr Glaube gehasst, vertrieben, ausgelöscht. So geschah es mit vielen Künstler*innen.
Wir erleben gerade in Deutschland (schon wieder) eine Phase, in der jüdische Autor:innen zum Teil nur unter Polizeischutz aus ihren Büchern lesen können. An deutschen Hochschulen kam es vor, dass jüdische Wissenschaftler:innen in Vorträgen oder Lehrveranstaltungen nicht zu Ende reden konnten. Oder kann man das mit dem, was Lola passiert, nicht vergleichen?
Doch, das kann man! Und ist es nicht entsetzlich, dass es heute noch so ist?
Repräsentanten jüdischen Lebens wie Joseph Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, oder der Publizist und Ex-Politiker Michel Friedman lassen immer wieder mal erkennen, dass sie sich in Deutschland nicht (mehr) sicher fühlen. Wie sollen wir darauf reagieren?
Mit mehr Toleranz! Mehr Liebe! Wir sollten uns viel mehr Gedanken machen, das Hirn einschalten – und weniger Parolen hinterherrennen, die eine Welt versprechen, die es so nicht gibt. Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Wir müssen Zeichen setzen gegen Antisemitismus! Eine herzliche Offenheit zeigen für jeden Menschen. Natürlich darf man reden, kritisieren, schimpfen, wenn einem was am Andern nicht passt. Aber doch um Himmels willen nicht pauschal und nur weil jemand einer bestimmten Religion angehört!
„Lola Blau“ wirkt erschreckend aktuell angesichts des grassierenden Antisemitismus und des Erstarkens rechter Bewegungen wie zuletzt bei der Europawahl. Haben diese Entwicklungen die Arbeit am Stück zu irgendeinem Zeitpunkt beeinflusst?
Wir haben im März 2023 das Go für die Produktion bekommen. Im August bekam ich den Text und hab sofort mit dem Einstudieren der Lieder begonnen – es sind ja 20 (!) insgesamt, mit nicht ganz einfachen Texten. Wir haben dann nach dem 7. Oktober mit dem Proben angefangen und natürlich hat der Überfall der Hamas auf Israel, dieses schlimmste Verbrechen an Juden seit dem Holocaust, unsere Arbeit beeinflusst. Mein erster Gedanke war: Das ist der Moment! Wir kommen mit diesem Stück, das vom Schicksal einer jüdischen Sängerin in der Nazizeit handelt, genau zur rechten Zeit! Als dann nach und nach auch kritische Stimmen gegen Israels Regierung laut wurden, waren wir uns nicht mehr sicher, wie das Publikum auf „Lola Blau“ reagieren würde. Würde es Anfeindungen geben und gegen wen würden sie sich richten: Gegen die Bühnenfigur der Lola? Gegen mich als Darstellerin, die diese Jüdin spielt? Der 7. Oktober hat mich jedenfalls noch mal darin bestärkt. wie wichtig es ist, über Antisemitismus zu sprechen und authentische Geschichten zu erzählen!
Gab es Gegenwind? Was kam vom Publikum?
Der Gegenwind, mit dem ich gerechnet hatte und immer noch rechne, ist ausgeblieben. Bis jetzt ist nichts passiert. Es gab Stimmen von Leuten, die sagten, dass sie nicht ins Theater gehen, um noch schlechter drauf zu kommen als sie es wegen der Berichterstattung in Nachrichten und Medien sowieso schon sind. Die, die kamen, waren dann aber erstaunt, dass das Stück gar nicht so duster und hart und deprimierend ist. Dass man da nicht mit schlechtem Gewissen, schlechter Laune wieder raus geht. Sie waren überrascht, was da an Emotionen so alles mitschwingt – auch an Spaß, Freude, Liebe – und wie bewegend das für sie war.
Als ich versucht hab, klar zu kriegen, was das Stück mit mir macht, dachte ich: „Lola Blau“ ist moving and shaking! Ich war amüsiert, bezaubert, bestürzt, verzweifelt, wütend. Alles auf einmal! Eine sehr intensive Erfahrung! Können Sie das nachvollziehen?
Wenn Sie das so empfunden haben, habe ich alles richtig gemacht! Die Emotionen fließen über zum Publikum. Das ist mein Ziel als Schauspielerin, darum dreht sich meine ganze Arbeit.
Mir ist aufgefallen, dass Leute nach der Vorstellung auf Sie zugekommen sind und ihre Nähe gesucht haben. Passiert das öfter?
Es gab noch nie eine Produktion, wo ich nach der Vorstellung mit so vielen Menschen rede, die ihre Gefühle mit mir teilen wollen! Eine Frau hat am Aufzug geweint vor Rührung. Eine andere wollte mich umarmen. Schön war auch dieser Moment: Ich verlasse das Theater, sperr grad mein Fahrrad auf, da sehe ich gegenüber einen Mann, an die Wand gelehnt. Ich sage: „Waren Sie nicht gerade im Theater?“ Er sagt: „Ja, war ich. Aber ich konnte unter dem Eindruck des Stücks und der Geschichte nicht gleich gehen. Und jetzt, wo Sie vor mir stehen, hätte ich ehrlich gesagt am liebsten einen Blumenstrauß, den ich Ihnen geben könnte! Dabei bin ich eigentlich nicht so der Old School-Typ, das ist nicht meine Art …“ Das fand ich schön.
„Lola Blau“ hatte 1971 in Wien Premiere. Und ist angeblich eines der am häufigsten aufgeführten Musicals im deutschsprachigen Raum. Stimmt das?
Jedes Theater spielt früher oder später „Lola Blau“, JA!
Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Das Musical heißt ja „ HEUTE ABEND. Lola Blau“. Und ich vermute mal, Kreisler hat diesen Titel gewählt, weil er wusste, dass Lolas Geschichte eine für jeden Tag ist, die man immer erzählen kann, heute, morgen oder gestern. Das liegt zum einen natürlich am politischen Hintergrund, an den Themen Antisemitismus und Zweiter Weltkrieg. Aber eben nicht nur. Denn jeder Mensch kann sich mit den Empfindungen und Stimmungslagen Lolas – Einsamkeit, Sehnsucht, Verliebtheit, Freude, Angst – identifizieren. Irgendwann, an irgendeinem Punkt unseres Lebens, werden wir alle mit diesen Gefühlen konfrontiert.
Welche Rolle spielt die Musik? Ist es das Genre, die populäre Form des Musicals, das den Zugang erleichtert? Sind es die schmissigen, fast schlagerhaften Chansons?
Ich hab zufällig, bevor wir in Regensburg mit der Arbeit an „Lola Blau“ begonnen haben, in Leipzig das Musical „Cabaret“ mit choreografiert und das war eine fantastische Vorbereitung auf die Rolle hier! Beides sind Musicals, beide haben zeitgeschichtlich ein ähnliches Setting – „Cabaret“ spielt im Berlin der Weimarer Jahre, „Lola Blau“ kurz vor dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland in Wien – und beide funktionieren ganz entscheidend auch über die Musik. Von „Cabaret“ hat man zumindest den Titelsong im Ohr, bei „Lola Blau“ dauert es ein bisschen.
Kreisler hat sein Stück für eine Person und Klavierbegleitung konzipiert, Uli Forster und Sie sind da ganz wunderbar im Flow.
Wir haben monatelang an Texten und Melodien gearbeitet! Viel geredet, viel geübt: Wie ist das gemeint, wann wird die Musik dynamischer? Für mich ist es ein ganz wundervolles Zusammenspiel mit einem fantastischen Pianisten. Jedes Mal!
Wie ist es, diese über 50 Jahre alten Kreisler-Songs zu singen?
Kreisler Sprache ist ziemlich einzigartig, aber halt auch schwierig. Ich musste mich viele Stunden hinein versetzen, um zu verstehen, was er meint und wie es vielleicht auch gemeint sein könnte …
Beispiel?
„Was man alles allen sagen könnte, wenn man sagen könnte. Was man sagen könnte! Würden alle allen alles sagen? Würden alle sagen, dass sie alles sagen?“
Welche Lieder gehen Ihnen besonders nah?
„SYMPATHIE“ zum Beispiel: „Man lächelt manchmal einen an, man lächelt einen an, und weiß man könnte weinen, doch da man grad nicht weinen kann, so lächelt man ihn an und ist mit sich im reinen!
Welche sind besonders böse – und auch so gedacht?
„FRAU SCHMIDT“ ist böse, weil es eben diese Menschen parodiert, die „ja nichts gemacht haben und von nichts wussten und auch nichts dafür können – denn sie sind ja nur die Frau Schmidt“. Deren Einsicht und Bedauern fallen auch nach dem Krieg und nach dem Ende des Naziregimes eher bescheiden aus. Zitat: „Hätt ich damals mir manches verkniffen und auf anderer Kosten nicht so hoch gegriffen! Doch ich hatte so Appetit, und so bin ich nur die Frau Schmidt!“
Wahnsinnssong! Als ich den gehört hab, dachte ich: Vielleicht ist „Lola Blau“ ja auch ein bewusster, gezielter Anschlag auf die Routinen deutscher Erinnerungskultur? Mal nicht pädagogisch, sondern so richtig von Herzen fies?
Es ist Kunst – und in der Kunst ist das erlaubt!
Komponist und Texter Kreisler war nie Everybody’s Darling. Er wurde im Gegenteil sowohl daheim in Österreich wie auch in Deutschland als Nestbeschmutzer beschimpft.
Ich denke, das hat er mit einkalkuliert. Er wusste: Wenn man Menschen kritisiert, parodiert und damit angreift, wird man immer mit Kritik rechnen müssen!
In der Figur der Lola Blau spiegelt sich auch Kreislers eigene Geschichte: Er musste 1938, als Gymnasiast mit gerade mal 16 Jahren, vor den Nazis fliehen, kehrte erst 1955 aus den USA nach Europa zurück und war danach in Wien und auch in München allenfalls geduldet, eine Festanstellung im Kulturbetrieb fand er nie.
Da gibt es viele Parallelen, ja: Kreisler war selbst Künstler, immer auf der Suche nach (s)einem „Zuhause“. Vertrieben, ausgewandert, zurückgekehrt. Er kannte all die Gefühle gut, die Lola durchlebt. „Heute Abend: Lola Blau“ ist keine Geschichte aus zweiter Hand!
Wir haben jetzt viel über Emotionen gesprochen. Kann, will, sollte man sich da als Schauspielerin eher kontrollieren? Oder sollte man sich im Gegenteil die Freiheit nehmen, Emotionen, die man hat, auch raus zu lassen?
Schauspielerei ist Kunst, trotzdem fühle ich mich meiner Rolle verpflichtet. Das heißt: Ich werde die Lola immer ähnlich spielen! Auch wenn ich mich vorher mit meinen Kindern streite oder meine Mama krank ist, kann ich das nicht mit auf die Bühne nehmen. Der Vorhang geht auf ( Moment … das Turmtheater hat keinen Vorhang:-)), Lola Blau betritt die Bühne. Der Vorhang fällt und ich lerne am nächsten Tag mit meinem Sohn Latein. So ist das Leben als Künstlerin.
„Lola Blau“ kommt wieder, haben wir gesagt. Wann?
Am 7. und 8 September. Karten gibt es bei Ok.ticket.de. Bitte kommt, ich freu mich! Ohne Publikum keine Kunst! Ich möchte sagen können: „Im Theater ist was los“ und nicht „Die Leute gehen vorbei, verdrossen und müde“! Also, auf!
Melanie Rainer hat Schauspiel, Gesang und Tanz an der Universität der Künste in Berlin studiert. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem Musical ("Falco meets Amadeus", "Solo Sunny", "Cabaret"), sie macht aber auch Kabarett oder Improtheater. Das inklusive Musical "What a Feeling" und das Hörspiel "Human, right?" zum Thema Menschenrechte, das sie mit Schüler:innen einer Regensburger Mittelschule erarbeitet hat, hat sie selbst produziert. Die Amerikanerin lebt mit ihrer Familie in Regensburg - Georg Kreisler arbeitete nach der Flucht aus Wien in die USA erst als Komponist in Hollywood, dann als Barsänger in New York. Als frisch gebackener US-Staatsbürger ging er 1943 zur Army, wo er als Übersetzer tätig war und u.a. bei Vernehmungen von Nazigrößen dolmetschte. Zurück in Österreich zog es ihn wieder auf die Bühne, mit seinen galligen, schwarzhumorigen Liedern ("Wie schön wäre Wien ohne Wiener", "Tauben vergiften im Park") voller Anspielungen auf die (damals) jüngste Vergangenheit machte er sich aber nur bedingt Freunde: "Kreisler ist nicht lustig", hat die Wiener Schriftstellerin Eva Menasse einmal über ihn gesagt: "In seinen Liedern geht es darum, dass es eigentlich ganz furchtbar ist auf der Welt." Da kriegen manche, aus ganz unterschiedlichen Gründen, schnell zu viel ...