Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg würdigt den Maler Bernhard Heisig (1925-2011) – und begibt sich damit auf schwieriges Terrain. Denn Heisig rührt in Biografie und Werk an tief sitzende, Generationen übergreifende Traumata. Eckhart Gillen, Kunsthistoriker, Germanist und Soziologe aus Berlin und Co-Kurator der Regensburger Ausstellung, kannte ihn persönlich. Ein Gespräch

Herr Gillen, warum muss ich die Heisig-Schau im Kunstforum unbedingt sehen?

Eckhart Gillen: Weil Sie dann die Entdeckung machen können, dass dieser Künstler, der als DDR-Künstler, Staatskünstler oder wie auch immer bekannt ist, als Professor und Mitglied des Verbandes Bildender Künstler der DDR, eben doch ein Künstler war, der uns alle angeht in Deutschland.

Sie haben die Ausstellung mit kuratiert. Gern, wie ich annehme? 

Klar! Es ist ja auch nicht das erste Mal. Ich hatte bereits 2005/2006 eine Wanderausstellung mit Arbeiten Heisigs betreut. Die ging damals durch mehrere Städte: Von Leipzig, wo er gelebt hat, über Düsseldorf nach Berlin in den Martin-Gropius-Bau und in die Nationalgalerie, und auch nach Wroclaw, früher: Breslau, wo Heisig geboren ist, ins Schlesische Nationalmuseum.

Es heißt, Sie seien „einer der fairsten Vermittler zwischen der Kunst aus der ehemaligen DDR und dem Westen“. Das klingt, als wäre Fairness bei dem Thema nicht unbedingt die Regel?

Das stimmt wohl, ja. Es gab ein großes Interesse an der Kunst der DDR in den 1980er-Jahren, als die beiden Länder irgendwie zusammenkommen wollten. Sich arrangieren wollten. Da gab es Ausstellungen, die auch von staatlicher Seite finanziert worden sind. Dann kam die Wende, die Mauer fiel und das Interesse war schlagartig erst mal weg.

Wieso das? 

Es begann die Zeit der Verdächtigungen. Stasi-Geschichten kamen hoch. Und speziell im Fall Heisig war es seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS während der Nazizeit, die zum Politikum wurde. Konkret wurde das, als er ein Auftragswerk für den Reichstag malen sollte, der mit Kunst, auch aus der DDR, ausgestattet werden sollte. Da hieß es erst, der Heisig müsse da unbedingt mit rein. Stattdessen ging dann die Debatte los: Wie man einer jüdischen Delegation klar machen wolle, dass im Reichstag Werke eines SS-Mannes hängen, sagten die einen. Genau deshalb, weil das auf immer zur deutschen Geschichte gehöre, sei der Reichstag dafür genau der richtige Ort, argumentierten die anderen.

Wann haben Sie eigentlich angefangen, sich für die Kunst aus dem „anderen Deutschland“ zu interessieren?

Schon als Schüler! Das gesellschaftliche Klima im äußersten Südwesten von Baden, wo ich herkomme, war sehr konservativ. Aber es gab in Karlsruhe eben auch eine Gruppe von Studenten um Karl Hubbuch – ein Verist und sehr kritischer Künstler, der nach 1945 wieder Professor wurde, nachdem er im Dritten Reich entlassen worden war – die prägten da so eine Art Karlsruher Realismus. Das war für mich eine komplett neue Welt! Ich hab mich schon als Gymnasiast bei denen in den Ateliers herumgetrieben, hab aufgesogen, was sie von Künstlern in der DDR erzählten. Sie waren wohl öfter mal dort, wurden eingeladen, flogen nach Ost-Berlin, waren am Berliner Ensemble und schwärmten davon. Sie haben auch so einen Kalender gemacht, einen Brecht-Kalender, der jedes Jahr erschien. Das war der Anstoß für mich, mir das mal anzuschauen – die Teichoskopie auf die andere Seite der Mauer. Ich wollte wissen: Was ist da mit dem Sozialismus in einem antikapitalistischen Klima? Was macht das mit der Bildenden Kunst? Eines Tages, kurz nach dem Abitur, bin ich dann hingefahren. Und daraus hat sich alles entwickelt. 

Ich dachte, vielleicht hat es ja was mit Ihrer „68er“-Sozialisation zu tun?

Das hat natürlich eine Rolle gespielt! Ich hab ja 1966 Abitur gemacht, bin dann nach Heidelberg gegangen, um Kunstgeschichte zu studieren, und hab auch gleich Soziologie als Nebenfach dazu genommen. Wir haben damals viel über den Kommunismus geredet und über die Oktoberrevolution und ich war tatsächlich auch in Moskau! Bin mit einem Freund im Auto über Leningrad, wie es damals noch hieß, hingefahren, um die Revolutionskunst von Rodtschenko, Lissitzky, Malewitsch, Majakowski zu sehen. Vorher haben wir uns in der DDR auf Einladung des Verbandes Bildender Künstler noch die offizielle DDR-Kunst zeigen lassen, weil wir beide eigentlich unsere Dissertation darüber schreiben wollten. Aber das haben wir dann gelassen. Wir haben schnell verstanden, was es mit diesem Sozialismus in der DDR auf sich hatte – und in Moskau wars noch schlimmer. Dort haben wir illegal in der Kommunalka gewohnt mit dem Ergebnis, dass wir auf Schritt und Tritt beschattet wurden. Wir haben uns in der Sache nie Illusionen machen können, genau wie in der Studentenbewegung: Da galt eben der orthodoxe Marxismus – und wir wollten was Anderes, wussten aber nicht, wie das aussehen könnte.

Politisch mögen diese Ausflüge ein Schlag ins Wasser gewesen sein. Ihren Blick und Ihre Expertise in Sachen Ost-Kunst aber haben sie geschärft, wie man an den Ausstellungen sehen kann, die Sie seit Ende der 1970er-Jahre kuratiert haben und mit denen Sie der Kunst der DDR zum Entree im Westen verholfen haben. Vorher war da ja nicht viel …

Man wusste praktisch nichts! Um 1966 gab es zwei Sonderhefte bei den „tendenzen“, einer Zeitschrift von Richard Hiepe aus München, der hatte dort auch eine eigene Galerie, vergleichbar mit der Ladengalerie in Westberlin, und hat sich für die Kunst in der DDR interessiert, z. B. für Fritz Cremer oder Lea Grundig. Aber das war schon die Ausnahme. Er stand damit allein auf weiter Flur – und wenn er mal eine Ausstellung gemacht hat, wurde die von der FAZ garantiert in Grund und Boden geschrieben …

DDR-Kunst wurde im Westen als Staatskunst abgetan. Künstler, die sich „drüben“ einen Namen machten, galten als diskreditiert. So einfach war das. Oder nicht?

Man konnte sich da nur rantasten. Ich hab selbst erst Ende der 1970er-Jahre über einen Kunsthistoriker und Freund aus Ost-Berlin, den ich da kennengelernt hatte, Zugang zu Ateliers gekriegt, wo man andere Kunst gesehen hat – eine, die nicht offiziell war, von Künstlern, die nicht im Verband waren. Erst da wurde mir klar: Es gibt noch eine andere Geschichte als die, die ich kannte, und die es zu entdecken lohnt! Bis dahin war das mehr ein soziologisches Thema – Kunst und Leben, Künstler in die Betriebe („Bitterfelder Weg“), der Ansatz, dass die Kunst von Arbeitern gemacht werden soll. Was ich jetzt sah, war im Vergleich dazu exotisch und weitestgehend unbekannt. Man brauchte da wirklich diese „graue“ Literatur, Broschüren, die man nirgends bekam, in keinem Buchhandel, um auf dem Laufenden zu bleiben. Das war alles sehr mühsam und verworren.

Anders als die echten oder vermeintlichen Staatskünstler waren „Republikflüchtlinge“ aus der DDR wie Gerhard Richter in der BRD willkommen. Weil man mit ihnen im Wettbewerb der Systeme punkten konnte?

Naja, auch Richter hatte einen Weg vor sich, um sich im Westen als Künstler neu zu erfinden und anerkannt zu werden! Er kam im Frühjahr 1961 noch vor dem Mauerbau, ging nach Düsseldorf und hat da erstmal studiert. Das hat gedauert. Und er war wirklich unbekannt! Erst mit der Gruppe „Kapitalistischer Realismus“, mit Polke und anderen, die zwischen 1963 und 1966 so genannte Selbsthilfeausstellungen veranstalteten, hat sich das geändert. Aber es war trotzdem hart, weil es etwas völlig Anderes war: Wenn man als Künstler in der DDR lebte und Verbandsmitglied war, bekam man Aufträge und musste sich keine materiellen Sorgen mehr machen. Man musste nichts verkaufen. Es wurde gekauft. Man hatte eine Ateliermiete von vielleicht 50 oder 80 Mark – und dann im Westen neu anzufangen, war schwer. Aber Richter hat schnell gelernt. Er hat begriffen, worum es geht. Nämlich um Geld. Es geht um Geld verdienen und eine Idee entwickeln. Nicht mehr um Inhalte. Oder um den Anspruch auf Wahrheit.

Das heißt, wir reden hier von einer Art Schisma? In der Kunst? 

Ich denke schon, ja, weil sich durch den Kalten Krieg und die Nachkriegssituation auch unterschiedliche Kunstbegriffe entwickelt haben, die nicht deckungsgleich waren und auch so empfunden wurden. Eine Abwehrhaltung gab’s ja nicht nur im Westen gegen die Ostkunst, sondern auch im Osten gegen die Westkunst. Nach dem Fall der Mauer störte man sich im Osten an der neuen Beliebigkeit, die Künstler haben sich gefragt, für wen sie denn jetzt eigentlich malen: „Das bestimmt ja nur noch der Markt! Der Markt reguliert. Der Markt signalisiert, ob das, was ich mache, ankommt. Da ist kein Umfeld mehr, mit dem ich mich auseinander setzen muss.“ Das haben viele als entwürdigend empfunden und auch als Entwürdigung ihrer Kunst.

Dass sich Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) 1987 für die Ahnengalerie im Reichstag ausgerechnet vom Ost-Künstler Bernhard Heisig porträtieren ließ, muss da wie ein Statement gewirkt haben. Wie haben Sie die Debatte damals erlebt? 

Ich hab sehr gut verstanden, dass der Helmut Schmidt sich den Heisig ausgesucht hat! Einmal natürlich, weil er selbst ja diese Ostpolitik betrieben hat, weiter betrieben hat, was Willy Brandt begonnen hatte, nämlich auf den Osten und auf die DDR zuzugehen. Auf der anderen Seite waren das beides Veteranen: Schmidt als Wehrmachtsoffizier, Heisig wegen seiner unseligen Vergangenheit als Hitlerjunge in der Waffen-SS. Ihr Verhältnis zum Nazi-Regime, Distanz und Nähe, ihre Verführbarkeit – das waren Themen, die beide beschäftigt haben. Es gibt auch einen Briefwechsel, leider nicht veröffentlicht, der zeigt, dass die beiden sich einfach verstanden haben. Sie sind sich auf Augenhöhe begegnet und waren sich auch im Kunstverständnis einig – Schmidt war wie Heisig ein großer Freund der „Brücke“ und des Expressionismus. Es hat also auch in dieser Hinsicht gepasst. 

Sie haben 2002 über Heisig promoviert. Kannten Sie ihn noch persönlich?

Jaja! Zum ersten Mal aufgesucht habe ich ihn 1997, als ich die „Deutschlandbilder“-Ausstellung gemacht habe. Damals war ich sehr kritisch ihm gegenüber, weil er seine Bilder alle übermalt hat. Man hatte gar kein Original. Man wusste nicht: Wo ist denn eigentlich jetzt das Originalbild, das heute noch erhalten ist? Dann habe ich eins gefunden, bei einem Kollegen von ihm, Karl-Georg Hirsch – „Der Weihnachtstraum des unbelehrbaren Soldaten“ -, das war nicht übermalt, weil Hirsch ihn nicht mehr rangelassen hatte. Es ist authentisch, sozusagen. Dieses Bild habe ich dann auch ausgestellt und noch ein zweites. Mit weiteren Bildern aber war ich sehr zurückhaltend. Das hat man mir dann auch vorgeworfen, dass da soviel Baselitz und andere Künstler hingen und so wenig Heisig.

Die Übermalungen – haben die was mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit zu tun, von dem Sie vorhin gesprochen haben? Das Thema taucht dann ja auch in Ihrer Dissertation („Schwierigkeiten auf der Suche nach der Wahrheit“) noch mal auf.

Auch eines von Heisigs Bildern heißt so …

Ein Selbstporträt trägt den Titel: „Ich seh, dass wir nichts wissen können“. Was will er uns damit sagen?

Das ist ganz typisch für ihn, diese Aussage und das Thema, weil er immer gezweifelt hat an seiner Kunst. Er war sich auch nie sicher, was man überhaupt machen kann in der Kunst, wie man beispielsweise an Geschichte herankommen kann. Der erste Auftrag, den er als Künstler in der DDR bekam, war: „Ruhr-Armee Essen“. Der Hintergrund: Ein linker Aufstand ebenjener, so genannten Roten Ruhr-Armee, in der vorwiegend Arbeiter kämpften, gegen die damals noch junge Weimarer Republik 1920. Er ist also nach Essen gefahren – und hat festgestellt, was man ihm daheim erzählt hat, ist alles falsch. Diese Ruhr-Armee hat ein ganzes Polizeibataillon niederkartätscht, obwohl die sich bereits ergeben hatten. Furchtbare Geschichte! Ein Kriegsverbrechen. Daraufhin hat er den Auftrag zurückgegeben. So ist er an die Themen heran gegangen. Man hat von ihm verlangt, dass er den Sieg und den Fortschritt des Sozialismus abbildet. Und er hat gesagt: „Das kann ich nicht machen. Das ist nicht die Wahrheit!“ Nur: Wie stelle ich die dar, wie setze ich es um? Welche Möglichkeiten habe ich? Diese Unsicherheit beizubehalten, ist typisch für ihn.

Das klingt sympathisch. Die Fakten in der Causa Heisig sind allerdings erdrückend: Er hat sich 1942, mit 17, freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und mit der völlig fanatisierten 12. Panzerdivision Hitlerjugend die fürchterlichsten Schlachten gekämpft. Nach 1945 machte er im antifaschistischen Deutschland Karriere als Staatskünstler. Er leitete die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchdruck. Seinen SED-Parteiausweis gab er erst im Dezember 1989 zurück. Was soll man davon halten?

Ja, das ist eine von Anfang an widersprüchliche Geschichte! Und damit setzt er sich auch in seiner Malerei auseinander: „Wieso habe ich mich damals zur SS gemeldet? Wieso war ich so bescheuert? Wieso habe ich auch noch dafür gestreikt, dass sie mich wieder an die Front gelassen haben?“ Diese Hitlerjugend-Division war ja nach Einsätzen in der Normandie und in den Ardennen praktisch nicht mehr existent, da haben nur wenige überlebt. Heisig selbst lag schwer verwundet im Lazarett. Aber als die Frage kam: „Wer kommt aus Breslau?“ hat er die Hand gehoben und ist 900 Kilometer zu Fuß nach Breslau gegangen. Da saß er dann in dieser Pseudo-Festung und kämpfte – bis der Befehl kam, dass er die Stadt mit seiner Mutter verlassen sollte.

Und nach dem Krieg?

Hat er sich an der Hochschule in Leipzig beworben – und da hat man ihm gesagt: „Wenn du hier studieren willst, musst du in die Partei eintreten.“ Das hat er gemacht. Heisig war kein Marxist. Er hat sich, wie er selber sagte, „arrangiert“. Er wollte was tun. Und er wollte was werden. Wie Helmut Schmidt war sicher auch er ein Machtmensch: Er hat sich als „Macher“ gesehen, nicht als Dissident irgendwo am Rand. Das war sein Charakter. Und er brachte es dann ja auch trotz abgebrochenen Studiums innerhalb weniger Jahre vom Dozenten (1954) zum Professor und Rektor (1961) der Hochschule für Grafik und Buchdruck, wo er von jetzt auf gleich die Malerei einführte. Dazu muss man wissen, dass die Hochschule bis dahin eine reine Agitationsschule gewesen war. Da sollte Propaganda gemacht werden, also schwarzweiß, Grafik, keine Malerei. Malerei war in Dresden. Aber Heisig gelang es mit einem Trick, über die farbige Grafik, die Malerei zu etablieren. Drei Jahre später allerdings, 1964, hat er sich mit seinem Plädoyer für mehr Wahrhaftigkeit in der Historienmalerei und eine Malerei, die auch das menschliche Drama zeigt, die Krankheit und den Tod, beim Verbandskongress zu weit aus dem Fenster gelehnt. Er musste als Rektor zurücktreten. Und legte 1968 auch seine Professur nieder, als man ihn für ein Jahr nach Moskau schicken wollte, zur „Rotlichtbestrahlung“, wie man das damals nannte. Offiziell galt er nun wie seine Malerkollegen Tübke und Mattheuer als „politisch unzuverlässig“ – kehrte aber 1976 als Rektor an die Leipziger Hochschule zurück, nachdem er von Honecker rehabilitiert worden war. Von da an bis zur Wende gehörte Heisig zum Kultur-Establishment der DDR. Dass er im Dezember 1989 allen Ernstes behauptete, er habe „erst jetzt“ von Machtmissbrauch und Korruption in der DDR erfahren, sehe ich wie Sie sehr kritisch. Und ich nehme es ihm, ehrlich gesagt, auch nicht ab. Es war auch unnötig, weil das, was er für die Hochschule und für die Studenten gemacht hat, gut war – er hat dann ja auch seinen Nationalpreis zurückgegeben und das Preisgeld für Stipendien zur Verfügung gestellt.

In einem Aufsatz halten Sie Heisig zugute, er habe sich „wie nur wenige deutsche Künstler nach 1945 der Auseinandersetzung mit dem Krieg und dem Nationalsozialismus gestellt und dabei nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Täter und Opfer der Zeitläufte gleichermaßen war“. Ist das schon ein Verdienst? Oder ist das die Art selbstgerechter Frage, wie nur Nachgeborene sie stellen können?

Nein, das ist schon eine berechtigte Frage! Es ist nur so, dass über solche Verstrickungen in der DDR nicht geredet wurde. Das wurde nicht thematisiert, weil: Die Legitimation der DDR war der Antifaschismus – und Heisig war Nomenklatur! Dass so jemand in der Waffen-SS war, das konnte es nicht geben und deshalb hat Heisig auch nie darüber gesprochen. Aber: Er hat es gemalt! Zum Beispiel in dem Bild „Unterm Hakenkreuz“: Der HJ-Kindersoldat mit der blutunterlaufenen Narbe im Gesicht, das ist er! In seiner Malerei hat er das Thema immer wieder aufgebracht. Aber niemand wollte wissen, was es damit auf sich hat. Zum ersten Mal haben sich 1981 zwei französische Journalisten im „Figaro“ des Themas angenommen, anlässlich einer großen Ausstellung mit Malerei und Grafik aus der DDR. Da war’s dann in der Welt. 

Heisig-Bild „Unterm Hakenkreuz“: Breslauer Apokalypse mit Kindersoldat am MG © Johannes Heisig

Was spricht für Heisig? Dass er uns den Notausgang, den man in solchen Fällen gern mal nimmt – die Trennung von Autor und Werk – fast schon mit Gewalt versperrt?

Das lässt er nicht zu. Das stimmt. Seine Malerei erinnert an Bilder, wie man sie aus der Traumabewältigung kennt, und sie hatte für ihn auch diesen therapeutischen Aspekt. Er konnte zum Beispiel nachts nicht schlafen. Und die albtraumhaften Vorstellungen, die ihn verfolgten, sahen aus wie in „Der Zauberlehrling“ oder „Im Atelier“: Man sieht einen Soldaten mit Stahlhelm und ohne Gesicht mit aufgepflanztem Bajonett durchs Zimmer laufen, der in eine Manequino-Puppe sticht.

„Der Zauberlehrling“: „Bilder wie man sie aus der Traumabewältigung kennt“ © Johannes Heisig

Es sind Bilder wie aus dem Höllenschlund, die Heisig uns hinterlassen hat. Speziell sein „Breslau“-Zyklus, der jetzt in Regensburg zu sehen ist, ist schwer erträglich: Überall Gewalt und Tod. Und der Maler als Kindersoldat mittendrin – „zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will“, hätte Beuys gesagt. Aber Heisigs Wunde ging nie zu, oder?

Nee, die ist geblieben. Das kann man so sagen. Und das betrifft uns alle: Wir leben in einer traumatisierten Gesellschaft von den Söhnen und Töchtern über die Enkel bis zu den Urenkeln, wie man heute weiß. Die Traumatisierungen hören auch nicht auf, sie gehen weiter in der Ukraine, in Gaza, Israel, wo auch immer. Damit muss man leben. Aber es ist gut, wenn man dem Ausdruck geben kann in der Literatur, in der Musik oder eben in der Kunst. Davon lebt die Kunstgeschichte ja auch. Und bei Heisig ist das offensichtlich.

Dass er nie fertig wurde mit sich und dem Kampf gegen seinen inneren Dämon, spiegelt sich in der wilden, expressiven Art seiner Malerei. Sie ist so ziemlich das Gegenteil des in der DDR von Staats wegen eingeforderten sozialen Realismus …

Heisig war diese „Formalismusschießerei“, wie er es nannte, dass man also die gesamte Moderne in der DDR sozusagen weggeworfen hat, von Grund auf suspekt. Zum Glück hat er dann den Adolph Menzel entdeckt, der wie er aus Breslau stammte. Den hat er erst gar nicht gemocht. Aber dann hat er festgestellt, dass dieser Menzel (1815-1905) genau wie er um die Wahrheit gerungen hat – nie einen Sieg Friedrichs II. in seinen Bildern aufgegriffen hat, sondern lieber im Vagen blieb. Und Niederlagen am spannendsten fand. Menzel war ein Fanatiker der Wirklichkeit. Das hat Heisig gefallen. Und von diesem Standpunkt aus hat er dann gegen das Tabu des Expressionismus in der DDR revoltiert, hat sich an Beckmann, Kokoschka u.a. abgearbeitet. Es hat dann aber trotzdem bis 1986 gedauert, bis das Tabu gebrochen und der Expressionismus in der DDR offiziell anerkannt war.

Wenn ich uns so zuhöre, klingt das ein bisschen danach, als würden hier die alten Schlachten im wörtlichen und übertragenen Sinn noch einmal geschlagen. Macht das Sinn?

Auf jeden Fall! Und gerade jetzt, wo wir wieder kurz vor Kriegen stehen oder auch Kriege in unserer Nachbarschaft haben. Es macht Sinn, daran noch mal zu erinnern – und Heisig bietet sich da an, weil er dem Thema nicht ausgewichen ist. Sie haben ja schon Beuys erwähnt. Der macht genau das Gegenteil: Der ist wie ein Autist. Der legt ne Salbe auf. Geht der Sache nicht auf den Grund. Er sticht nicht in die deutsche Eiterbeule, sondern tröstet die Deutschen, versöhnt sie und versöhnt sich selbst mit seinem Schicksal. Oder wenn Sie an Gerhard Richter denken: Der hat seine Familienbilder gemacht, da ist der Schwiegervater Euthanasietäter gewesen – und die Tante Marianne ist in der Euthanasie-Aktion ermordet worden. Das ist aber nur ein Foto in einer Reihe von Hunderten anderer Bilder. Und es fiel ihm erst auf, als er es wieder gesehen hat. Ansonsten sagte er immer: Das spielt überhaupt keine Rolle. Das sind anonyme Fotos. Da will ich gar nicht ran. Anselm Kiefer hat mit seinen „Besetzungen“ Ende der 1960er-Jahre die Auseinandersetzung gesucht. Aber sagen Sie mir ein anderes Beispiel! Wer hat den Krieg, seine Ursachen und Folgen sonst noch groß thematisiert in Deutschland? Insofern ist die persönliche „Schlacht“, wie Heisig sie führte, für uns noch mal eine Möglichkeit, nicht nur über die Vergangenheit nachzudenken. Sondern auch über das, was im Moment passiert. Kunst verhindert nichts. Aber sie ist ein Erfahrungsraum, der geöffnet wird. In den man vielleicht doch eintauchen kann und nachdenklich wird. 

Müssen Sie eigentlich manchmal schmunzeln bei dem Gedanken, dass ausgerechnet der Künstler, der es als Erster geschafft hat, in der BRD so etwas wie einen Hype um die Kunst aus den „Neuen Ländern“ zu entfachen, nämlich Neo Rauch, ein Meisterschüler Heisigs war?

Das spricht nicht gegen ihn! Da hat er eine gute Ausbildung gehabt (lacht)! Aber Neo Rauch hat sich auch neu erfunden. Der hat irgendwann einen Schnitt gemacht und die Bilder von davor waren für ihn nicht mehr existent. Wie Richter hat auch er mit der Wende ein neues Werkverzeichnis begonnen. Er wusste, er muss sich abgrenzen. Trotzdem hat er sich auch weiter mit der DDR beschäftigt: dem Niedergang der Utopie, der Absurdität des Lebens in einem gesellschaftlichen Auslaufmodell und später in seinen „Träumen“ …

Danke fürs Gespräch!

Bernhard Heisig wäre am 31. März diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Das ist der Anlass für mehrere Ausstellungen wie aktuell im Museum der Bildenden Künste Leipzig, auf Schloss Sacrow bei Potsdam und ab 11. Oktober im Angermuseum Erfurt. In der Regensburger Retrospektive "Bernhard Heisig und Breslau" (bis 14. September) liegt der Fokus auf großformatigen Gemälden aus den 1960er bis 1980er-Jahren und auf dem druckgrafischen Hauptwerk Heisigs. Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie will mit der Schau auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnern. - Eckhart Gillen ist promovierter Kunsthistoriker und arbeitet als freier Kurator, vor allem für Ausstellungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Er ist Experte für osteuropäische Kunst und die Kunst der DDR. Wegweisende Projekte waren die Ausstellungen „Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945–1990“ (1996), „Deutschlandbilder – Kunst aus einem geteilten Land“ (1997/1998) sowie „Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–1989“ (2009). Gillen wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem einheitspreis - Bürgerpreis zur deutschen Einheit (2003) und dem Bundesverdienstkreuz (2022)