80 Jahre Kriegsende, ein Gedenktag jagt den anderen und plötzlich stehen sie wieder im Raum: die großen Fragen von Schuld, von Gut und Böse, Tätern und Opfern und ob und wie man als Gesellschaft nach einem singulären, monströsen Verbrechen wie dem Holocaust wieder zu einem Miteinander finden kann. Die israelisch-niederländische Schriftstellerin Yael van der Wouden hat darüber einen tabulosen und unbedingt lesenswerten Roman geschrieben. Er spielt im Holland der 1960er-Jahre. Und geht uns alle an
DAS BUCH Ein Roman. Ein Debüt. Und doch schaffte es Yael van der Wouden 2024 mit „The Safekeep“ – einem maximal aufregenden Psychodrama darüber, wie der Holocaust noch Generationen später die Seelen und Leben von Menschen kontaminiert – auf die Shortlist des britischen Booker Prize! Schon die Chuzpe, sich als Newcomerin für eine der bedeutendsten Auszeichnungen des Literaturbetriebs weltweit zu bewerben, ist bemerkenswert. Wenn man dann noch weiß, dass für den Preis nur englischsprachige Originaltexte eingereicht werden dürfen, fragt man sich, wie das gehen soll bei einer Autorin, die aus Israel stammt und in den Niederlanden lebt. Antwort: Van der Wouden hat ihr Buch einfach auf Englisch geschrieben und beim UK-Verlag Viking erstveröffentlicht. Dem Vernehmen nach hat es um ihren Roman, der (Stand heute) außer in Großbritannien, den USA und den Niederlanden noch in 13 anderen Ländern erschienen ist, einen regelrechten Bieterkrieg gegeben. Nur die deutschen Verlage kamen irgendwie nicht in die Puschen – das war das Glück eines anderen Newcomers, des neu gegründeten Berliner Gutkind Verlags. Er geht zurück auf Gutkind Hirschel, der 1801 vor antisemitischen Anfeindungen aus Deutschland nach Dänemark floh. Jetzt kehrt sein Name wieder nach Deutschland zurück, so die Berliner stolz. „In ihrem Haus“, wie „The Safekeep“ bei uns heißt, ist eine der Neuerscheinungen, mit denen Gutkind 2025 in den Bücherfrühling startete, und ein echter Coup. Wir gratulieren!
DIE AUTORIN Cool? Unorthodox? Unerschrocken? Obsessiv? Man weiß nicht recht, wo man anfangen soll, um Yael van der Wouden gerecht zu werden, „Welcome! My name is Yael van der Wouden. I’m a writer and a teacher. Great smalltalker, too, available as a +1 for your cousin’s wedding“, heißt es auf ihrer Homepage. Sie hat also auch Humor! Was ihre Lehrtätigkeit betrifft, unterrichtet die 1987 in Tel Aviv geborene Tochter einer Isreali und eines Niederländers Kreatives Schreiben und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten in Utrecht und Maastricht. Als Autorin machte sie 2017 mit dem im britischen Boulevard-Blatt „The Sun“ erschienenen Essay „On (not) reading Anne Frank“ erstmals auf sich aufmerksam – schon das ein Text, wie er bestimmt nicht jedem gefällt. Van der Wouden artikuliert darin ein Unbehagen am Mythos Anne Frank. Sie klagt darüber, dass sie sich von Anne verfolgt fühlt und berichtet von ihren Versuchen, den Schatten der wahrscheinlich berühmtesten Tagebuchschreiberin der Welt loszuwerden, die 15jährig von den Nazis im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde – und von der alle sagen, dass sie ihr so ähnlich sieht. „On (not) reading Anne Frank“, jederzeit abrufbar auf yaelvanderwouden.com, kann man auch als Schlüssel zum Roman lesen, weil van der Wouden hier schon zu erkennen gibt, dass sie nicht bereit ist, alles zu schlucken, was eine Gesellschaft sich um des lieben Friedens willen zusammenreimt.
Für die Niederländer, schreibt sie in ihrem Essay, sei die aus Frankfurt/ Main stammende deutsche Jüdin Anne Frank, die 1934 mit Eltern und Schwester in die Niederlande emigrierte, „hauptsächlich Holländerin und nur ein bisschen Jüdin, und die Deutschen waren böse und besetzten Amsterdam, und die Holländer waren gut und halfen Anne und ihrer Familie, aber die bösen Deutschen nahmen sie mit und töteten sie“. Tatsächlich, so van der Wouden, hatten die Niederlande im Zweiten Weltkrieg eine der höchsten Deportationsraten. Es gab Leute, die Juden bei sich zu Hause versteckten, aber viele wollten Geld dafür. Und weil die niederländische Bürokratie perfekt organisiert war, brauchten die Nazis nur anzuklopfen, um die Juden abzuholen.
Sie selbst, erzählt van der Wouden in einem ihrer (eher raren) Interviews, verbrachte einen Großteil ihrer Zwanziger „in einem Aufruhr von Frustration und Wut darüber, wie wenig jüdisches Erbe in den Niederlanden vorhanden ist“. Und die Debatte über jüdisches Leben im Holland von heute befremdet sie: „Wenn die Niederländer über Juden sprechen, sprechen sie über die Toten oder die, die nicht mehr da sind. Es geht nie um die Gegenwart, die Menschen, die hier leben, und darum, wie wir Teil der Gesellschaft sind. Es fühlt sich unsichtbar an – und gleichzeitig möchte ich nicht, dass meine Sichtbarkeit mit dem Tod in Verbindung gebracht wird.“
Frust und Wut, das erklärt den Punch ihres Romans. Gleichzeitig sendet sie mit dem Buch aber auch eine unmissverständliche Botschaft ins Hier und Jetzt.
DIE GESCHICHTE … spielt Anfang der 1960er-Jahre in den Niederlanden. Isabel lebt in einem Haus auf dem flachen Land, nahe der Kleinstadt Zwolle, das ein gewisser Onkel Karel im Winter 1944 für sie und ihre Brüder Louis und Hendrik „gefunden hat“. Die Brüder sind längst ausgezogen. Die Mutter, die die Kinder gegen Ende des Krieges aus Amsterdam hierher geschickt hatte, um sie vor den Bomben in Sicherheit zu bringen, ist tot. Die alleinstehende Isabel hat sich hier bis zuletzt um sie gekümmert und besorgt nun gegen Geld das Haus, das irgendwann Louis bekommen soll im Fall, dass er doch noch heiraten sollte. Family Things?
Van der Wouden genügen wenige Seiten, um hier Zweifel zu säen.
Was ist das für ein Haus? Kann man Häuser tatsächlich einfach so „finden“ – und gehören sie einem dann? Was hat es zu bedeuten, wenn man in ein Haus zieht und es ist schon alles da: Stühle, Schränke, Schreibtisch, ein aufgeschlagenes Buch, das aussieht, als hätte eben noch jemand darin gelesen? „Seltsam, dass sie der Gedanke noch nie gestreift hatte“, lässt van der Wouden ihre Protagonistin einmal laut denken: „Sie waren damals in ein fertiges, vollausgestattetes Haus gezogen…“ Wer würde seine Sachen zurücklassen, wenn er geht?
„Na ja, vielleicht weiß Louis es noch“, sagt Isabel zu Hendrik vor einem Abendessen mit Louis in einem Restaurant in Den Haag. Mhm, macht Hendrik: „ Er kommt in Begleitung, hat er dir das erzählt?“ Wie eine routinierte Schachspielerin bringt van der Wouden ihre Figuren in Position als wollte sie uns zeigen: Diese Geschichte hat etwas Unausweichliches. Eine Zwangsläufigkeit, der man nicht entkommt.
Schon das erste direkte Aufeinandertreffen der (Nichtjüdin) Isabel und mit Louis’ neuer Freundin (und Jüdin) Eva in der Toilette des Restaurants verläuft verstörend konfrontativ. Eva zu Isabel: „Louis hat mir so viel erzählt. Du wohnst also in eurem alten Haus, stimmt’s? Im selben Haus, in dem ihr drei …“ Isabel zu Eva: „Ich hatte dich heute Abend nicht eingeladen.“ Was ist da los?
Eine andere Szene ploppt auf, ein paar Seiten später im Buch: „Es war 1946 und der Krieg war vorbei, doch Isabels Mutter schloss hektisch alle Fenster und schickte die Kinder nach oben … vom Schlafzimmerfenster aus sahen sie zu, wir draußen eine aufgeregte Frau an ihre Türen und Fenster hämmerte und schrie und schrie…sie klang verzweifelt. Neben ihr stand eine junge Frau still da, mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf. Isabel fragte Louis im Flüsterton: „Was wollen die von uns?“ Und Louis starrte durch das dunkle Fenster und sagt knapp: „Unsere Sachen.“
Wir ahnen: Das Haus, um das es hier geht, ist ein Geisterhaus. Jemand hat möglicherweise ältere Rechte darauf als Isabel, die so tut als sei es ihres. Spätestens als Louis seiner Schwester dann noch eröffnet, dass Eva jetzt erst mal für die nächste Zeit bei ihr einziehen wird, verdichtet sich der Verdacht: Eva ist – Isabels Nemesis. Was danach kommt, wird gewaltig. Auch wenn es nicht das Alte Testament ist, nach dessen Maßstäben hier abgerechnet wird. Sondern ein gut 300 Seiten langes, provokantes, atemberaubend-sinnliches Drehbuch, das Yael van der Wouden sich dafür hat einfallen lassen.
WAS DIE ANDEREN SAGEN „Ein Roman, der erkundet, was uns als Kindern vorenthalten wird“ (aus der Begründung der Jury für die Shortlist beim Booker Prize) – „Ein messerscharfer, perfekt durchdachter Debütroman“ (The Sunday Times) – „Ein außergewöhnliches Buch, das man beinahe körperlich miterlebt“ (The Wall Street Journal)
WAS WIR SAGEN Uff! „In ihrem Haus“ ist ein Biest an Literatur. Wobei der deutsche Titel ausnahmsweise besser als das englische Original („The Safekeeping“) und die niederländische Ausgabe („De bewaring“) beschreibt, worauf man sich einstellen sollte, nämlich auf ein Psycho-Kammerspiel mit sparsamem Personal auf engstem Raum, das seinen Protagist:innen – wie auch uns Leser:innen – mehr und mehr den Atem nimmt.
Van der Wouden zwingt uns in eine Perspektive, die kein Weghören oder Wegschauen erlaubt und zelebriert das lustvoll, auf fast perfide Weise.
Die Geschichte, die sie erzählt, ist nicht neu. Sie ist auch schon ein paar Mal aufgeschrieben worden, z.B. von der Niederländerin Marga Minco, auf die sich van der Wouden ausdrücklich bezieht, wenn sie sagt, dass es ohne Mincos „The Address“ ihren eigenen Roman nicht gäbe. In „The Address“ ist der Trigger eine blaue Schüssel, die eine jüdische Familie vor der Deportation ihren Nachbarn zur Aufbewahrung anvertraut und die dort immer noch steht, „mit Vögeln darauf, die in die Freiheit fliegen“. Bei van der Wouden ein Service „mit Hasen, die sich im Kreis jagen“:
„So schön, wirklich bewegend“ nennt van der Wouden Mincos Buch. Sie selber hat was Anderes mit uns vor.
Ihr Roman pfeift auf das Grundgefühl einer moral majority, wonach Bücher zum Thema Holocaust im Ton eher zurückhaltend ausfallen sollten und ganz bestimmt und möglichst an keiner Stelle trivial sein dürfen. Angefasst, wie sie ist, dekliniert sie stattdessen ungeniert und unverschämt durch, was ihr an dramaturgischer Finesse – vom klassischen Drama bis zum Revenge- und Erotikthriller – einfällt, um die Mauern zu schleifen, die Menschen zwischen sich errichten.
„In ihrem Haus“ entwickelt sich so nach und nach zu einer Art Käfigkampf zwischen Buchdeckeln, dessen Antipodinnen Eva und Isabel sich anfassen, beißen, kratzen, schlagen, lutschen müssen, um all die ambivalenten Gefühle zwischen abgestoßen sein und sich angezogen fühlen zu probieren, bis sie einander endlich spüren. Man könnte, würde und traut sich doch kaum, als „saftig“ zu bezeichnen, was man da liest. Aber van der Wouden würde sich freuen. Sie will genau das. Weil es ihr wichtig ist.
Es geht ihr um Anerkennung, als queere Person, das auch, aber vor allem und in erster Linie als Jüdin. Immer noch. Und schon wieder. Sie glaubt nicht daran, dass Akzeptanz und Toleranz geeignete Mittel sind, um Unwissenheit und Vorurteile abzubauen: „Das funktioniert nur über Verlangen“, sagt sie. Man muss den Anderen wollen. Man muss wollen, dass er da ist. Und sie „wollte Isabel nehmen, sie öffnen und sehen, was passiert, wenn dieses kleine Leben, diese kleine Denkweise, mit Verlangen erfüllt wäre“.
Wenn es möglich wäre, würde van der Wouden die Jüdin Eva und die Nichtjüdin Isabel einander verschlingen lassen. Dann müsste man über die großen Fragen, die der Roman aufwirft – Fragen von Schuld, von Gut und Böse, von Täter-/Opfer-Anteilen in uns allen – irgendwann vielleicht nicht mehr reden. Eine „Gegenfantasie“ nennt Yael van der Wouden ihren Roman. Man wird ja wohl noch träumen dürfen …


Newcomerin van der Wouden, Romandebüt: „Ich bin queer, ich bin jüdisch und ich schreibe darüber“ © yaelvanderwouden.com, Jennifer van Doorn / Gutkind Verlag Berlin
Yael van der Wouden: „In ihrem Haus“, Gutkind Verlag Berlin, 02/ 2025, 320 Seiten, ca. 24 Euro