Die deutsch-afghanische Islamwissenschaftlerin und linke Feministin Mariam T. Azimi glaubt nicht an das Ende der Geschichte in Afghanistan – und interveniert neuerdings auch mit den Mitteln der Kunst. Nach einem ersten, autofiktional getönten Roman zum Thema Flucht und Migration hat sie nun ein Stück geschrieben, das zeigt, wie den Afghaninnen die Deutungshoheit über ihre Geschichte und Identität immer wieder entwunden wurde. Dass Feministinnen hierzulande für ihre von den Taliban eingesperrten Schwestern nicht auf die Barrikaden gehen, sei für sie nicht nur enttäuschend, so Azimi: „Ich empfinde dieses Schweigen als gewalttätig.“ Ein Interview

0941mag: Frau Azimi, seit ich Ihren Roman „Tanz zwischen zwei Welten“ gelesen habe, weiß ich, wie der Frühling in Kabul riecht: „…nach klarer Höhenluft, nach verbranntem Holz und Maulbeerbäumen“! 

Mariam T. Azimi: Oh ja …

Das ist schön und man würde sich gern drin verlieren. Wenn alles andere nicht wäre: die Taliban und ihr menschenverachtendes Regime, die Vielen, die darunter leiden und um ihr Leben fürchten müssen, die Situation der Frauen, die nun auch keine weiterführenden Schulen und Universitäten mehr besuchen dürfen. Wie ist das für Sie, wenn Sie daran denken?

Ich befinde ich mich noch immer in einer Art Schockzustand. Ich bin sehr ernüchtert. Enttäuscht. Traurig. Retraumatisiert sogar, würde ich sagen. Anderthalb Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban bin ich langsam in der Lage zu formulieren, wie’s mir geht. Davor konnte ich nicht fassen, was da in Afghanistan passiert – und gleichzeitig fühlte es sich an wie ein Déjà-vu.

Wie meinen Sie das?

Es ist, als ob ich alles noch einmal erleben würde  – nur diesmal nicht als Kind einer geflüchteten Familie, deren Leben Anfang der 1980er-Jahre mit dem kommunistischen Putsch und dem Einmarsch der Sowjets wie aufhörte zu sein. Sondern als erwachsene Frau, die die erste Machtergreifung der Taliban 1996 und 9/11 gesehen hat und Jahre ihres Berufslebens in den Friedensprozess in Afghanistan gesteckt hat

Erzählen Sie!

Das ist eine längere Geschichte.

Kein Problem. 

Also, ich hab’ Islamwissenschaften studiert und im Juli 2001 meinen Abschluss gemacht. Ich hatte einen Platz im Studienkolleg für Internationale Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik, um zu promovieren über Afghanistan bzw. über afghanische Geflüchtete auf pakistanischem Boden. Dann kam 9/11 und mein Promotionsthema war obsolet. Mein Doktorvater sagte: „Wir können das jetzt nicht einreichen. Wir wissen nicht, wie sich das entwickelt und ob wir diese Feldforschung überhaupt so machen können.“ Das war’s dann, dachte ich. Aber was ich damals noch nicht wusste: Mir standen noch 13 Jahre Arbeit zu Afghanistan bevor, aus den verschiedensten Perspektiven – im Auswärtigen Amt, in der Heinrich-Böll-Stiftung, im Bundestag als Referentin von Renate Künast, der damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, aber auch wissenschaftlich. Seit 2015 bin ich zwar nicht mehr dienstlich damit befasst. Aber im selben Jahr begann ich meinen Roman, der ja von einer afghanischen Familie in der deutschen Diaspora erzählt. 

In die katastrophal verunglückte Rückholaktion afghanischer Ortskräfte in Diensten der Bundeswehr, von NGOs usw. im Sommer 2021 waren Sie nicht involviert. Haben Sie trotzdem eine Erklärung für dieses humanitäre Desaster?

Das ist eine komplexe Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt! Ein Untersuchungsausschuss dazu läuft. Immer noch. Außerdem bin ich von Amts wegen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Worüber ich reden kann, ist der Schmerz. Die Entfremdung. Alle, die mit Afghanistan befasst waren, wussten, es wird Auswirkungen haben, wenn wir unsere Verbündeten zurücklassen. Das fängt beim Soldaten an, der sich fragt: Wer kämpft denn eigentlich beim nächsten Auslandseinsatz an meiner Seite? Und es betrifft jeden, der sich in Ländern wie Afghanistan für die Demokratie einsetzt. Das fliegt uns jetzt schon um die Ohren! Demokratie, Feminismus, all diese Themen, implizieren ja eine gewisse moralische Überlegenheit. Sie stehen und fallen mit der Glaubwürdigkeit dessen, der dafür wirbt, und diese Glaubwürdigkeit haben wir geschwächt, wenn nicht sogar verspielt. Für lange Zeit. Wir werden uns noch lange dafür rechtfertigen müssen, was da passiert ist.

Haben Sie noch Kontakte nach Afghanistan?

Keine persönlichen mehr. Von den Kontakten, die ich hatte, haben es viele nach draußen geschafft. Und meine eigene Familie lebt schon seit Jahrzehnten im Ausland. Aber ich hab’ Bekannte, von denen ich nichts Gutes höre. Die Situation der Menschen in Afghanistan wird immer schlimmer – und die Aufmerksamkeit im Westen dafür nimmt immer mehr ab. Ich erwarte da auch nichts Gutes mehr. Ich hab’ schon seit dem so genannten Friedensvertrag zwischen Trump und den Taliban 2020 nichts Gutes mehr erwartet 

Was bedeutet das für die Menschen, die mit dem Status quo in Afghanistan zurechtkommen müssen?

Es ist ein purer Überlebenskampf in einer dramatischen Situation. Die Menschen sind genau so schockiert wie wir, nur dass wir den Horror von der zehnten Reihe aus, vorm Fernseher, erleben und die Leute dort hautnah. Nach 20 Jahren Einsatz und all dem Investment hat doch niemand in Afghanistan für möglich gehalten, dass das von heute auf morgen aus dem Fenster geschmissen wird – für eine Bande von Terroristen, die keine Regierungserfahrung haben und bis auf gelegentliche Selbstmordattentate eigentlich auch keinen Hebel in der Hand hatten, um die 36 oder 38 an ISAF (International Security Assistance Force, Anm.d.Red.) beteiligten Länder so einzuschüchtern, dass sie von jetzt auf gleich das Land verlassen. Das ist die eine Sicht der Dinge. Die andere ist diese koloniale Haltung, die kennen wir seit Jahrhunderten: Großmächte kommen und wenn es nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt haben, sind sie wieder weg. Sie hinterlassen einen Scherbenhaufen – und geben uns auch noch die Schuld dafür. Da kann man schwer was gegen sagen.

In Ihrem Roman erzählen Sie von Wana, einem kleinen Mädchen, das sich auf den ersten Schultag freut – und stattdessen mit ihren Eltern aus Kabul fliehen muss. Das erinnert ein bisschen an ihre eigene Geschichte, nicht?

Das stimmt, ja. 

Wie Wana sind auch Sie Anfang der 1980er-Jahre, mit sechs, mit Ihren Eltern aus Afghanistan nach Deutschland gekommen.

Meine Eltern wollten ihr Heimatland nicht verlassen, sie wollten nicht gehen – wie übrigens 90 Prozent aller Geflüchteten, die ich kenne. Aber als dann die Sowjets im Dezember 1979 einmarschiert sind, sollte mein Vater zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung gezwungen werden, und es war klar, dass er sich entscheiden musste. Er wählte die Flucht. Dachte wohl, es sind nur ein paar Monate oder, im Höchstfall, ein, zwei Jahre. Am Ende wurden 40 Jahre draus. 

Haben Ihre Eltern später noch einmal mit Ihnen über die Flucht gesprochen?

Also, wir waren natürlich erst mal sehr klein, meine Eltern hatten vier Kinder im Alter zwischen fünfeinhalb und zwölf. Aber wir haben das schon immer wieder mal besprochen, vor allem mit meiner Mutter, und auch mitbekommen, weil natürlich die Erwachsenen gerade in der ersten Zeit viel darüber geredet haben – es gab ja fast kein anderes Gesprächsthema. Trotzdem drangen die Dinge nur gefiltert zu uns durch, aus der Perspektive von Erwachsenen, die vor dem Kommunismus geflohen sind. Meine Eltern hatten keinen guten Blick auf den Kommunismus. Gleichzeitig waren sie in einer sehr privilegierten Position. Später konnte ich die Dinge dann für mich auch noch mal anders einordnen. 

War es notwendig, aufreibend, heilsam für Sie, Wanas Geschichte zu erzählen?

Ja, schon. Ich muss dazu sagen, ich hab’ immer gern geschrieben und Wanas Geschichte war nie gedacht als meine Geschichte. Die Distanz zwischen mir und meiner Protagonistin war mir sehr wichtig, anders hätte es nicht funktioniert, weil ich sonst nicht in der Lage gewesen wäre, mich so ehrlich in sie hinein zu versetzen und das so ehrlich aufzuschreiben. Wenn es meine Geschichte gewesen wäre, hätte ich mich schwerer getan. Andererseits habe ich mich beim Schreiben schon auch erinnert an meine Zeit als Kind, als geflüchtetes Kind, und das war heilsam, es war aufregend und es hat mit der letzten Seite nicht aufgehört. Ich hab’ immer gedacht, wenn das Buch fertig ist, muss ich nur noch warten, bis es veröffentlicht wird, dann ist alles gut, dann ist es vorbei. Es war aber nicht vorbei …

Das heißt?

„Tanz zwischen zwei Welten“ wurde im Mai 2021 veröffentlicht, ich hatte den Roman aber schon im Frühjahr davor fertig. Dann kam die Pandemie, mein Schwiegervater ist in der Zeit verstorben, und sein Tod hat all die Fragen aufgeworfen, die man sonst gern verdrängt: Wie verhalten wir uns in einer Pandemie, wo’s keinen Ritus gibt für unsere Trauer? Was ist überhaupt unser Ritus? Was bleibt eigentlich noch von unserer kulturellen Identität, was geben wir unseren Kindern weiter? Das zog immer weitere Kreise … auch in der Rezeption meines Romans. Es war schön, wenn mir einerseits Frauen und junge Leute geschrieben haben oder auch Leute aus meiner Generation: „Wie toll, mal jemanden aus meiner Lebensrealität in einem Roman zu sehen und darüber zu lesen!“ Aber diesen Roman zu begleiten in einer Phase, in der Afghanistan schon wieder in der Abwärtsspirale war und gleichzeitig das Gefühl zu haben, das, was ich im ersten Kapitel beschreibe, steht uns erneut bevor, war quälend. Das war kein schönes Gefühl. Das hatte ich mir anders ausgemalt. Ich dachte, wenn es so weit ist, mach’ ich Lesungen, geb’ Interviews. Aber dass sich im Juni, Juli die Situation so zuspitzt hat und eine Provinzstadt nach der anderen an die Taliban fiel, hat meinen Roman sehr in den Hintergrund treten lassen. Viele Interviews hab’ ich auch gar nicht wahrnehmen können, weil in der Zeit natürlich alle mit mir über die politische Situation reden wollten, was ich als Bedienstete des Auswärtigen Amtes nicht konnte. Ich hätte es aber auch emotional nicht fertig gebracht.

Was war eigentlich schwieriger, schmerzvoller für Sie aufzuschreiben: der Teil im Roman, wo es um den Verlust von Heimat geht, oder der über das Ankommen und (Über-)Leben in der deutschen Diaspora?

Wissen Sie, beides! Was Menschen ohne Fluchterfahrung ja glauben, ist, dass die Flucht der schwierigste Abschnitt ist. Wenn die dann vorbei ist und man an einem sicheren Ort angekommen ist, meinen sie, alles ist gut. Aber das ist es nicht. Jeder, der ein Trauma erlebt hat, weiß, dass die Dinge erst hoch kommen, wenn man zur Ruhe kommt. Mit der Ankunft an dem sicheren Ort ist die Flucht also nicht vorbei. Die gilt es dann erst zu verarbeiten und das kann Jahre dauern! Gleichzeitig muss man funktionieren in einer völlig fremden Umgebung: Mit einem sozialen Status, an den man sich erst mal gewöhnen muss. In einer Bittsteller-Haltung, die erfordert, dass man sich perfekt verhält, damit man nicht auffällt oder als undankbar wahrgenommen wird, damit sich das Vorurteil vom schmutzigen, lauten, dummen, unversierten Menschen aus der Dritten Welt nicht bestätigt. Das heißt: Es ist eine wahnsinnige Anspannung, die da auf Menschen lastet, zumal wenn sie Kinder haben. Alle diese Prozesse sind so unberechenbar, dass vielleicht sogar der Prozess des Ankommens schwieriger ist als der der Flucht. Es kann sein, dass man Jahre, Jahrzehnte mit dem Ankommen beschäftigt ist – und das auch noch an die nächste Generation weitergibt. Eine Fluchterfahrung und eine Traumatisierung kann Familien über Generationen beschäftigen.

Sie haben sich Zeit gelassen, bis Sie Ihren Roman angefangen haben. Weil Sie Wanas Geschichte nur mit einem gewissen Abstand erzählen konnten?

So würde ich es nicht formulieren. Das hatte andere Gründe. Ich hab’ immer viel geschrieben. Wissenschaftlich. Und auch im Dienst. Ich hab’ Tagebuch geführt. Aber ich hab’ nie was Belletristisches geschrieben. Als dann das Angebot von Ullstein für meinen Buchvertrag kam, hatte ich bis auf 50 Seiten des Romans nichts. Ich hatte noch nie was veröffentlicht und hätte mich auch nie im Leben getraut, irgendwas einzureichen bei irgendeinem Verlag. Ich bin mit „Tanz zwischen zwei Welten“ so ein bisschen ins kalte Wasser gesprungen, weil ich es als großes Glück und Chance empfunden habe, ein ganzes Jahr schreiben zu können und dafür bezahlt zu werden. Ich hätte so einen Roman vielleicht auch schon früher schreiben können. Und dieser Roman hätte auch in zehn Jahren noch Platz in meinem Leben gehabt. Aber ich ergreife die Chancen, wenn sie sich bieten, weil ich instinktiv gelernt habe: Es gibt nicht viele Chancen für Menschen mit einer Migrationsbiografie und das gilt nicht nur für uns. Als Kind von Arbeitereltern hätte ich wahrscheinlich genau das gleiche Gefühl gehabt: Ich bin hier nicht so vernetzt und so eine Chance wie jetzt mit diesem Buch bietet sich mir vielleicht nur einmal im Leben. Die Geschichte selbst, Wanas Geschichte, hatte ich schon immer im Kopf.

„Tanz zwischen zwei Welten“ ist gut angekommen – das Buch „erweitert den Horizont in Richtung Migrations- und Fluchterfahrung“, hieß es in einer Kritik. War es das, was Sie wollten?

Nee. Ich wollte mit meinem Schreiben nicht pädagogisch sein! Ich will keine Lösungen bieten. Ich will streiten. Natürlich freue ich mich, wenn der Roman den Erfahrungsschatz der Leser:innen auch erweitert. Aber ein bisschen macht es mich, ehrlich gesagt, auch traurig, wenn mir gesagt wird: „Mit deinem Buch habe ich das erste Mal verstanden, wie schwer so eine Flucht ist oder wie sehr Eltern auch leiden oder wie geflüchtete Menschen sich fühlen.“ Es macht mich traurig, weil ich mich frage: Hat es wirklich meines Buches bedurft, damit du darüber nachdenkst? Und dann denke ich wieder: Nein! Es darf mich nicht traurig machen, weil Menschen brauchen Identifikation und Geschichten – und es gibt nicht viele Geschichten von geflüchteten Menschen. Wir waren noch nicht in der Lage, unsere Geschichten zu erzählen. Aus unserer Sicht. Geflüchtete Menschen in Deutschland sind eine anonyme Masse und das nicht erst seit 2015, sondern immer schon. Den aus Ukraine Geflüchteten gibt man nun den Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Ich gönne ihnen das. Sehr. Aber Syrer:innen und Afghan:innen hatten und haben diese Chance nicht. Man spricht in Deutschland nicht mit Afghan:innen. Man spricht über sie. Auch Feministinnen teilen sich die Bühne nicht mit Afghaninnen, wenn sie über Feminismus und die Unterdrückung der Frauen in Afghanistan sprechen, sondern sie sprechen über sie. Über diese Frauen als Opfer. Mit meinem Roman schaffe die Möglichkeit der Identifikation mit einem dieser geflüchteten Menschen – und vielleicht ist das der Schlüssel. Eine anonyme Masse kann man entmenschlichen. Eine Figur wie Wana, mit ihrem individuellen Schicksal nicht. Vielleicht …

Ja?

…muss man auch auf diese emotionale Ebene gehen! Ich hab’ auch nicht mehr den Drive gerade, mich politisch zu engagieren. Aber was mir möglich ist, ist die Kunst. Was mir hilft und was mich heilt, ist das Schreiben. Und vielleicht ist das ja der Weg. Vielleicht gelingt es so, den Blick zu öffnen dafür, dass es hier um Menschen geht, um Individuen, und nicht um so ne anonyme Masse.

In München wurde gerade ein Bühnenstück von Ihnen uraufgeführt. Ihre erste Theatererfahrung?

Ja! Und ich muss dazu sagen, ich bin keine große Theatergängerin. Ich bin auch nicht so sozialisiert worden. Ich bin Kind eines bürgerlichen Haushalts, aber eines afghanischen bürgerlichen Haushalts. Und meine Eltern sind nicht mit uns ins deutsche Theater gegangen. Das ist ne Welt, die eigentlich nicht meine ist. 

Dennoch gibt es nun dieses Stück. Wie ist es dazu gekommen? 

Ich hab’ einen Anruf gekriegt. Das Theater, die Kulturbühne Spagat, hat mich kontaktiert. Die haben eine Reihe, die nennt sich „Out of Area – deutsch-afghanische Begegnungen“, und wollten wissen, ob ich Interesse hätte, als afghanische Autorin zusammen mit einer deutschen Autorin ein Stück zu schreiben. Das habe ich sofort abgelehnt, denn ich bin keine afghanische Autorin. Ich bin eine deutsch-afghanische Autorin, das könnte man sagen. Aber ich schreibe auf Deutsch. Ich habe noch nie was auf Dari oder Paschtu publiziert und hätte mich, wenn ich das Angebot angenommen hätte, wie eine Mogelpackung gefühlt – so, als würde ich jemandem Andern etwas wegnehmen.

Warum hat’s dann doch geklappt?

Das Theater hat umdisponiert. Das Angebot war nun, dass ich die alleine Autor:innenschaft übernehme, denn in meiner Biografie stecke die „deutsch-afghanische Begegnung“ ja schon mit drin. Man ließ mir völlig freie Hand – und das fand ich total aufregend. Herausfordernd. Ich hab’ aber auch gleich die Hosen herunter gelassen und gesagt, dass ich noch nie ein Stück geschrieben hätte und dass ich da sicher auch Unterstützung bräuchte. So. Und dann haben die sich darauf eingelassen. Und ich bin’s angegangen. Tatsächlich bin ich dem Theater wahnsinnig dankbar, denn dieses Stück war für mich wie ein Gefäß, in das ich meine ganze Enttäuschung, diesen Schock und das Jahr nach dem Fall von Kabul hinein geben konnte. Ich war noch nicht fertig mit dem Fall dieser letzten afghanischen Republik. Es fühlte sich an, als wenn ein Mensch gestorben wäre und das Trauerjahr ist noch nicht vorbei. Auch war da noch die Ernüchterung, die Enttäuschung über meine feministischen Kameradinnen, die Zivilgesellschaft und mein eigenes Umfeld, die alle schön geschwiegen haben. Das war alles noch präsent. Und dann kam der Krieg in der Ukraine. Mein Mann und ich haben früher oft Witzchen gemacht. Wenn die Kinder mit der Babysitterin nach Hause kamen, haben wir gesagt: Die Russen kommen!“ Er hat wie ich einen afghanischen Hintergrund – und für unsere Eltern waren die Russen immer die Bösen. Und jetzt wurde dieser Witz zur Realität! Das war surreal. Absurd. Es triggerte und triggerte mich. Aber ich hatte ja nun dieses Stück … und ich hab’ geschrieben wie wahnsinnig.

Schauspielerinnen Shadi Hedayati (links), Nina Niknafs in Mariam T. Azimis „Nahkampfzone“: Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gleichheit sind keine genuin westlichen Werte © Cordula Treml

„Nahkampfzone“ – eine deutsch-afganische Begegnung“ klingt auch nicht nach gemütlicher Kaffeerunde. Sondern mehr nach erhöhtem Gesprächsbedarf …

Oh ja! Wobei das Stück, wie es die Bühne gerade umsetzt, schon viel versöhnlicher ist als ich es ursprünglich geschrieben habe. Denn ich war wirklich sehr wütend. Sehr frustriert gerade von den Menschen, die man so als eigene Verbündete wahrnimmt. Demokrat:innen. Ich meine: Ich selbst sortiere mich politisch links ein. Und dass da feministische Organisationen, Frauenrechtsorganisationen mit Blick auf die Vorgänge in Afghanistan nicht auf die Barrikaden gegangen sind, das hat mich sehr enttäuscht. Dieses Schweigen empfand ich als gewalttätig. Ich bin ja nicht nur afghanisch. Ich bin auch deutsch. Und ich schämte mich. Für meine Gesellschaft. Für mein Engagement in diesem Bereich. Ich dachte: War ich so naiv? Habe ich das alles so falsch wahrgenommen? Habe ich mir so viele Illusionen gemacht? Es war schon auch ein Hadern mit mir selbst und meiner eigenen Einschätzung. Weil es war ja nicht nur so, dass hier Einiges schief gelaufen ist. Auch die Berichterstattung aus Afghanistan war unterirdisch. Was für Leute da plötzlich vor den Kameras standen und über Afghanistan redeten – wenn es noch eines Beweises für die koloniale Herangehensweise des Westens bedurft hätte, dann konnte man ihn hier erleben. Dazu diese Sensationsgier: Die Taliban kommen! Plötzlich hat man überall nur noch Bilder von den Taliban gesehen. Und ich hab’ mich die ganze Zeit gefragt: Wo sind eigentlich die afghanischen Demokrat:innen? Warum fragt die keiner? Warum lasst ihr die nichts sagen? Wieso interviewt ihr nicht eure eigenen Kolleg:innen? Afghanistan hatte die freieste, beste, professionellste Medienlandschaft der gesamten Region! Ihr hättet genug Gesprächspartner:innen! Warum muss da jetzt eine Person stehen, die dort irgendwie zufällig an Land gespült wurde?

Es geht in „Nahkampfzone“ um Narrative und Deutungshoheit?

Genau. Afghaninnen hatten nie die Deutungshoheit über ihre Geschichte und ihre Identität. Diese Deutungshoheit ist ihnen immer wieder entwunden worden – von Kolonialmächten, Liberalen, von Kommunisten, von Demokraten, von Kapitalisten, von Islamisten, von Terroristen. Also, das geht schon sehr tief. Und meine Frauenfiguren stellen das dar.

Es gibt drei Frauenfiguren in Ihrem Stück. Zeba …

… eine afghanische Journalistin, die gerade erst, nach dem Fall der Republik, geflohen ist. Sie steht für Flucht und Migration und bekommt die westliche Sicht auf diese Themen zu spüren, die geprägt ist davon, Flucht und Migration zu verhindern, Menschen so abzuschrecken, dass sie möglichst nicht mehr in die Länder der freien, westlichen Welt fliehen wollen. Am Beispiel Zeba will ich zeigen, was man gerade in Europa über Bord wirft an Werten, für die man lange gekämpft hat und die nun, für diese Geflüchteten, nicht mehr gelten.

Malalai?

Ist eine historische Figur: Malalai von Maiwand, eine afghanische Nationalheldin des 19. Jahrhunderts, die im zweiten anglo-afghanischen Krieg eine sehr wichtige Schlacht gegen die Briten angeführt und gewonnen hat – wobei mich gar nicht so sehr der Erfolg auf dem Schlachtfeld interessiert. Sondern ihr Kopftuch. Malalai kämpfte mit Kopftuch für die Freiheit, gegen den Kolonialismus, und entkräftet so das westliche Narrativ, auch von Feministinnen, wonach Frauen mit Kopftuch zwangsläufig unemanzipiert sind, unreflektiert, nicht stark.

Und die dritte Frauenfigur?

Rochschana, in der westlichen Geschichtsschreibung auch Roxane oder Roxana genannt, ist eine baktrische Königin aus dem heutigem Afghanistan, die 300 v. Chr. lebte und die Alexander dem Großen die Ehe antrug, als er durch Asien zog. Obwohl sie eine wahnsinnig interessante Frau ist und dieses baktrische Reich eine große Kultur war, die Alexander und Rochschana geschaffen haben, gibt es wenig über sie und auch über dieses Volk der Skythen, dessen Einflussbereich sich von Westafghanistan bis Serbien erstreckte. Die Skythen lebten damals schon eine Art Geschlechterdemokratie, sie achteten die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen – sehr interessant für die heutige Zeit. Auch aus feministischer Sicht. Und ich frage mich, wieso die feministische Forschung so tut, als ginge sie das nichts an.

Was denken Sie? 

Wahrscheinlich ist es einfach die Perzeption oder diese Wahrnehmung, wir können nichts von den „Anderen“ lernen, von den anderen Zivilisationen, weil unsere westliche die beste ist und einzigartig. Aber es ist naiv, so zu denken. Und es liegt eine große Gefahr darin. Denn Fortschritt, Zivilisation, das ist kein linearer Prozess, der immer nur in eine Richtung geht und alles wird immer besser und wir werden immer besser. Wenn wir in die Geschichte und auf andere Zivilisationen schauen, sehen wir, dass Fortschritt Rückschritt nicht verhindert. Dass Frieden den Krieg nicht verhindert. Dass große Zivilisationen entstanden und vergangen sind. Auch unsere ist nicht gefeit davor. Und auch unsere Demokratie ist nicht gefeit davor, wieder abgeschafft zu werden. Rochschanas Rolle ist, das zu zeigen: Demokratie, Feminismus, all das sind keine genuin westlichen Werte, das waren sie noch nie. Wir Afghaninnen nennen sie vielleicht nicht so. Aber letztlich geht es auch uns um Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Gleichheit.

Die Rechte von Frauen werden gerade sowohl in Afghanistan wie im Iran mit Füßen getreten. Und das Muster ist in beiden Ländern gleich: Eine herrschende männliche Klasse schreibt Frauen vor, was sie zu tun und zu lassen haben – und argumentiert dabei mit dem Islam. Zu Recht?

Nein. Das erste Wort im Koran ist: „Lies!“ Und zwar nicht: „Lies, du Mann!“ Sondern: „Lies, du Mensch!“ Das heißt: Lesen und Schreiben und Bildung ist Pflicht eines jeden Muslims. So. Having said this: Natürlich herrscht auch in Afghanistan das Patriarchat. Und das Patriarchat nutzt auch Religion und Biologie, um Macht auszuüben. Aber es ist nicht so – und das ist eben das Narrativ – dass alle afghanischen Männer böse sind und ihre Frauen unterdrücken möchten. Unterdrückung von Frauen, Gewalt gegen Frauen gibt es in Afghanistan, so, wie es das auch in der deutschen Gesellschaft gibt. Dabei funktioniert diese Art von Machtausübung immer dann am besten, wenn die Gesellschaft aus irgendwelchen Gründen erschüttert ist – durch Pandemie, Krieg, Hunger etc. – und die Taliban sind über eine Kriegsökonomie an die Macht gekommen. Das waren keine muslimischen Gelehrten, die mit ihren Predigten diese Macht erlangt hätten. Sie haben sie sich herbei gebombt! Und sie hatten das Glück, dass sie auf der anderen Seite einen ebenso misogynen Mann sitzen hatten, nämlich Donald Trump, der als Machtmensch auch wenig mit Frauenrechten, Menschenrechten und dem Schutz der Demokratie anfangen konnte. Evangelikale Christen und Taliban mögen sich gegenseitig als Ungläubige betrachten. Aber in dem Punkt sind sie sich einig. Das sind so Gelegenheiten … das passiert in Afghanistan, das passiert im Iran. Aber es gibt so eine antizyklische Bewegung auch in Ländern, wo ich es nicht für möglich gehalten hätte, in den USA mit dem Abtreibungsrecht, in Polen, in Ungarn. Und wenn man dem nachgibt, ist das nichts, was wir nicht vielleicht irgendwann auch bei uns vorfinden. Der Tech-Unternehmer und Milliardär Peter Thiel aus dem Silikon Valley zum Beispiel hat Trumps Wahlkampf mit finanziert – und er betrachtet das Wahlrecht für Frauen und für Schwarze als großen Fehler. Also, diese Art von Mann findet man auch in unseren Gesellschaften. Wir sind da mit der Andersmachung sehr beschäftigt. Es beruhigt uns, wenn wir mit dem Finger auf Andere zeigen können. Aber ich glaube, wir lenken uns damit nur ab von Dingen, die uns vielleicht Angst machen.

Kann man „Nahkampfzone“ auch in diesem Sinn als Intervention lesen?

Auf jeden Fall! Eine Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, war: Was wäre, wenn? Angenommen, deutsche Frauen oder weiße Frauen oder weiße Menschen gerieten in eine Situation, wie Afghanistan sie heute erlebt. Was würden Afghaninnen zu ihnen sagen? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück und Rochschana sagt: Ihr seid nah dran! Dazu muss man wissen: Mein Stück, wie ich es ursprünglich konzipiert hatte, spielt in der Zukunft, einer nahen Zukunft nach dem Dritten Weltkrieg, in einer Zwischenwelt zwischen Diesseits und Jenseits, wo so viele tote Menschen erwartet werden, dass die drei Afghaninnen Rochschana, Zeba und Malalai aushelfen müssen. Das findet sich so in der Münchner Inszenierung nicht wieder. Aber es war eine Dystopie für mich, die aufrütteln sollte. Denn es passiert gerade so viel in unseren Gesellschaften! Trump ist zwar nicht mehr Präsident, aber seine Wähler und Sympathisanten sind immer noch da und sie verhöhnen die Demokratie. Sie stürmen das Capitol und sie stürmen den Reichstag. Sie nehmen das Aufenthaltsrecht zurück und sagen, wir dürfen unseren Kindern nicht mehr erzählen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Alles das passiert in unseren eigenen Ländern.

Was sollen wir tun?

Wir müssen aufwachen! Denn es geht um unsere Demokratie, um Freiheit, um Werte, für die so viele Menschen und Völker gekämpft und oft auch ihr Leben gegeben haben – und wir stehen da und glauben, es ist in Stein gemeißelt, dass wir dieses System haben. Gleichzeitig beobachten wir, wie es immer öfter angegriffen wird, wie es immer weiter geschwächt wird, und das passiert nicht in der Zukunft. Das ist jetzt! Der Kampf findet jetzt statt! Und wir müssen glaubwürdig bleiben. Wir dürfen uns nie mehr verhalten wie zuletzt in Afghanistan, wo wir mit der Demokratie und den Frauenrechten hin marschiert sind und als eng wurde und drauf ankam, waren wir wieder weg. Zu glauben, wir können das machen in einem fernen, fremden Land in der heutigen Zeit, in dieser globalen Welt, und es hätte keine Auswirkungen auf uns, ist naiv.

„Freiheit und Demokratie auf dem Prüfstand“: Mariam T. Azimi auf dem gleich lautenden Panel der ZEIT-Stiftung in Hamburg, April 2022 © Ausserhofer/ ZEIT-Stiftung
Mariam T. Azimi wurde 1975 in Kabul geboren und ist im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen. Sie studierte Islamwissenschaften, Orientalische Philologien und Pädagogik. Ihr Roman "Tanz zwischen zwei Welten" (253 S., 19,99 Euro) ist 2021 bei List erschienen. Das Stück "Nahkampfzone" ist Teil 2 in der Reihe "Deutsch-Afghanische Begegnungen" der Münchner Kulturbühne Spagat. Mariam T. Azimi arbeitet im Auswärtigen Amt und lebt mit Mann und drei Kindern in Berlin