Vor einem Jahr waren sie noch ein unbeschriebenes Blatt. Heute, fünf Singles und eine EP später, grüßt die Hamburger Band Brockhoff um Sängerin, Songschreiberin und Gitarristin Lina Brockhoff als Fixstern vom Firmament des deutschen Indie-Rock. Ihre unprätentiöse Art, die scheinbare Beiläufigkeit, mit der sie ihre bittersüßen Harmonien in Krach auflösen, sind dabei nur eine – hinreißende – Facette dieser Band. Brockhoff sind auch Teil des Movements für mehr Diversität im Musikgeschäft.
Man hat schon Spektakuläreres gesehen. Mehr Konfetti. Glamour. POP.
Von daher: Mehr NORMAL als Brockhoff? Geht nicht. Gibt’s nicht.
Die Band sieht immer ein bisschen so aus, als habe man sie gerade geweckt. Und als hätten sich Lina Brockhoff, 22, und die anderen auf die Schnelle ein paar Klamotten gegriffen, die zufällig rumlagen: Ausgeleierte Hoodies, Sweatshirts ohne Eigenschaften, übergroße Jacken, die nicht unbedingt zum Rest passen, aber ihren Zweck erfüllen – nämlich den No-Look irgendwie zusammenzuhalten.
Natürlich würde man sie schon aus diesem Grund am liebsten in die Arme nehmen, die Thermoskanne mit dem heißen Ingwertee herumgehen lassen, auf den vor allem Lina so schwört, und der, wie’s aussieht, an diesem Morgen gute Dienste hätte leisten können.
Denn: Es ist Schietwetter, wie sie in Hamburg sagen. Und Brockhoff stehen leicht angepisst, mit Gitarren, Drumkit und Keys, im Matsch auf dem „Grandplatz“ des 1.FC Hellbrook im zugigen Steilshoop herum.
Den Linernotes zu „Sharks“, dem Clip zur Single aus Brockhoffs gleichnamiger erster EP, ist zu entnehmen, dass der Tag schon nicht gut angefangen hatte.
Gitarristin Sophie Chassée war auf dem Bolzplatz mit ihrem Wagen ziemlich genau da liegen geblieben, wo man eigentlich hatte drehen wollen. Der ADAC musste helfen und das Auto wieder flott machen, damit man anfangen konnte, das Wetter wurde nicht besser.
Andere hätten das Ganze da vielleicht schon abgeblasen. Brockhoff dagegen ertragen es stoisch, gelassen.
Was explodiert, ist die Musik.
Sind Feedbacks, Fuzz und E-Gitarren.
Ein sonores Grundrauschen durchzieht so gut wie alle Brockhoff-Songs – und „Sharks“ ist der, in dem das alles kulminiert.
„Momentaufnahme der Frustration“ hat Lina ihn mal genannt. Und man muss den Weg, den sie gekommen ist, ein Stück weit in der umgekehrten Richtung gehen, um zu verstehen, warum das hier für sie so wichtig ist – warum sie den Wind Wind und den Regen Regen sein lässt, lieber eine Erkältung riskiert als einzupacken, warum sie diese Erfahrung jetzt machen und den Clip exakt so zerzaust haben will, wie er später online geht: trotzig, räudig, die bittersüßen Harmonien aufgelöst in Krach.
„Sharks“ handelt von peer pressure. Man kennt das: Einige aus der Clique finden etwas cool, die anderen nicht, du musst dich entscheiden. Nur was, wenn es dabei um dich selber geht? Bis zu welchem Punkt ist das okay? Und ab wann ist es Mobbing?
Da war diese „blöde Party“, erinnert sich Lina, „mit so einer fake happiness und diesem vergleichendem Vibe“. Und dann wurde es auch noch persönlich: „The party moved into the kitchen/ I feel the worst is still to come/ they’re playing shark games/ while they blame me for the sad songs/ „If you’re down, you know the way out“.
Was in „Sharks“ nach aus dem Ruder gelaufenem Small Talk bei gleichzeitiger Enthemmung durch zu viel Alkohol etc. klingt, war für Lina – im wirklichen Leben – der Moment, der alles veränderte: Wieso sollte sie keine sad songs singen dürfen? Und was, zur Hölle, sollte das heißen?
Heute weiß sie: Es war der Moment, in dem sie zum ersten Mal Bekanntschaft machte mit jenen typisch männlichen Reflexen, die junge Frauen und Künstlerinnen nicht nur einschüchtern können (und sollen), sondern auch der Grund dafür sind, warum sich Frauen im männlich dominierten Musikgeschäft so viel schwerer tun.
Sie fühlte sich auf der Party damals plötzlich nicht mehr nur unwohl. Sie stellte sich selbst in Frage: Wenn es als Schwäche ausgelegt wird, Verletzlichkeit zu zeigen, welchen Sinn hat es dann überhaupt, Musik zu machen?
„I’m bored, I wanna go out“ singt sie in „Sharks“ und meint damit: raus, weg von dieser Party, weg aus der (Klein-)Stadt, in der sie damals lebt, Schluss mit der Musik …
Als „Sharks“ im April 2022 erscheint, lebt Lina längst nicht mehr in Hildesheim. Sondern in Hamburg.
Eigentlich wollte sie hier studieren. Jetzt hat sie eine Band. Oder besser ein Projekt.
„Brockhoff is unafraid of expressing vulnerability and the illusory search for the right path“ , heißt es auf brockhoffmusic.com, der offiziellen Homepage, und das also ist ihr Programm: Sie werden Schwäche zeigen, wenn ihnen danach ist. Und sie werden sich ausprobieren, auch wenn es nicht immer gleich zu etwas führt.
Brockhoff haben nichts dagegen, gemocht zu werden. Aber sie legen es nicht darauf an.
Erst recht haben sie keinen Bock, sich korrumpieren zu lassen.
Im Video zu ihrem Song „2nd Floor“ steht Lina in einem dieser alten, pracht- und machtvollen Hamburger Patrizierhäuser. Ihr Blick folgt den aus dunklem Tropenholz gearbeiteten Handläufen der Treppen bis weit nach oben unter die gläserne Kuppel. Man sieht ihr die widerstreitenden Gefühle an und auch, dass sie hier möglicherweise gleich eine Entscheidung treffen muss – bevor andere über sie entscheiden. Aber das lässt sie klugerweise nicht zu.
Wenn nicht alles täuscht, sind Brockhoff auf der Suche nach ihrer inneren Mitte innerhalb des knappen Jahres seit Erscheinen ihrer „Sharks“-EP ein gutes Stück vorangekommen.
Sie hatten dabei nicht immer Glück – einen Auftritt beim Haldern Pop Festival im Sommer 2022 etwa mussten sie krankheitsbedingt absagen. Dafür engagierte der schottische Indiepop-Star Paolo Nutini sie als Support für einige Konzerte seiner Europa-Tournee, wobei vor allem die Auftritte auf der Insel, in London, Liverpool, Middlesbrough und Glasgow Ende letzten Jahres, der Band sichtbar und spürbar gut getan haben – auch, was das eigene Selbstbewusstsein betrifft.
Von den fünf Songs auf der EP – „2nd Floor“, „Sharks“, „Missing Teeth“, „Ever since we met“ und „Bloody Hands“ – habe sie immer mal wieder einen anderen, kleinen Favoriten, sagt Lina. Neben „Sharks“ sei das – in den ruhigeren, nachdenklicheren Momenten – vor allem „Missing Teeth“, wo es um Verlusterfahrungen geht.
Das zu thematisieren, Songs wie „Missing Teeth“ oder auch „Ever since we met“ Raum zu geben, der von der Sprachlosigkeit zwischen einander nahestehenden Menschen erzählt, kann als gelungene Konfliktbewältigung angesehen werden; die überbordende Spiellaune in „Clearing up“, ihrer neuesten Single, als Beweis, dass sie mehr wollen und dass mit ihnen zu rechnen ist. Dabei sind Brockhoff keine Streber.
Sondern eher: Slacker.
In der Kunst des Unprätentiösen, Beiläufigen haben sie es in Rekordzeit zur Meisterschaft gebracht:
Man kann sich verlieben – allein schon in die Art, wie Lina während eines Sets die Gitarren tauscht, ein Handgriff, mehr nicht. Mit anderen Worten: Wenn es a) jemals als quasi-religiöse Handlung angesehen wurde, sich auf der Bühne eine Gitarre umzuhängen, die b) nur von Männern – adäquat breitbeinig – ausgeführt werden kann, geht Lina unbeeindruckt drüber weg.
Rockism ist keine Kategorie für sie. Musik und Haltung etwa von Snail Mail, Soccer Mommy und Phoebe Bridgers, den aktuell tonangebenden Stimmen des feministisch/queer konnotierten US-Indierock, dagegen schon.
Lina sagt, dass sie diesen Künstlerinnen viel verdankt: „Sie haben dafür gesorgt, dass weiblichen Musikerinnen und FLINTA-Personen mehr Gehör geschenkt wird, was sich dann auch auf jüngere Generationen überträgt.“
Wie Bridgers, die sich mit ihrem Nebenprojekt Boygenius um Julien Baker und Lucy Dacus als eine Art gitarrenbasierte „Gerechtigkeitsliga“ versteht, leben auch Brockhoff diese Art von Solidarität – kaum ein Interview, in dem Lina nicht dafür wirbt.
Die Dinge, sagt sie, seien im Fluß.
Es gebe eine neue Offenheit speziell unter Musiker:innen ihrer Generation. Acts wie Jeremias oder Shelter Boy zum Beispiel, die sich beide schon von ihr supporten ließen, holten sich immer wieder ganz bewusst auch weibliche Acts ins Boot: „Die haben das im Auge und unterstützen das.“
Lina ihrerseits nutzt die Gunst der Stunde, um Freundinnen wie Power Plush oder Blush Always zu featuren, die sie beim Reeperbahnfestival im letzten Jahr kennengelernt hat.
Wo andere Teil einer (Jugend-)bewegung sein wollten, sind Brockhoff mittendrin.
Good News!
Lina Brockhoff, Jahrgang 2000, hatte immer ein Faible für Musik. Schon mit acht nimmt sie Klavierunterricht. Als sie merkt, dass sie mit Popmusik mehr anfangen kann als mit Klassik, beginnt sie, selber Songs zu schreiben. Auch das Gitarre spielen bringt sie sich selber bei. 2018/19 geht sie mit dem Material ihrer allerersten EP ("Fading Lines") auf Tour. 2020 zieht sie nach Hamburg. Sie belegt den Popkurs an der Hochschule für Theater und Musik, probiert und vernetzt sich gleichzeitig aber auch mit Musiker:innen der Hamburger Szene wie dem Produzenten Christian Hartung, der maßgeblichen Anteil daran hat, dass sich ihr Sound in dieser Zeit "immer mehr verbrockhofft", wie sie sagt. Hartung hat auch "Sharks" produziert, Linas erste Arbeit im Band-Kontext. Die EP, erschienen im Juni 2022 bei Humming Records, wird zu einem der Indie-Highlights des Jahres, die Single schafft es aus dem Nichts auf den 6. Platz der "Spiegel"-Playlist mit den Top Songs 2022 aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bei Brockhoff werden Kritiker:innen schnell zu Fans, aber auch die werden schnell mehr. Bislang hauptsächlich als supporting act gebucht, wird die Band im April mit Gigs in Hamburg und Berlin ihre very first headline shows absolvieren. Und nachdem sie im Vorjahr beim Haldern Pop Festival passen mussten, hat man sie für dieses Jahr einfach nochmal eingeladen. The best? Is yet to come!