Machen Krisen auch mal Pause? Den wievielten Sommer hintereinander sitzen wir hier, vermessen die Welt in Gedanken- und kommen trotzdem auf keinen grünen Zweig? Wenn du auch zu den Nachdenklichen gehörst, bitte: Im Schatten ist noch Platz! Musik von Zergrübelten für Zergrübelte – stellenweise sogar mit Meer …

Nilüfer Yanya: „Paradise“

„But where do the good things go?/ How well are you keeping? How are you keeping?/ Where do the good things go?/ How well are you sleeping? Well are you sleeping?/ Wherever the good things go?/ How are you keeping? And where are you keeping …?“ Es ist nicht so ganz klar, wovon Nilüfer Yanya hier singt, ob’s da um mehr als eine prinzipielle Sehnsucht geht, nach Zeiten, die sich besser angefühlt haben. Ob mit dem „Paradise“, dem sie hier nachhängt, eine Person gemeint ist. Ob es um Liebe geht – oder um eine Form von Geborgenheit, von Sich zu Hause- und Angenommen-Fühlen, wie auch die eine oder andere Stadt sie einem geben kann. Die britische Sängerin, Songschreiberin und Gitarristin, 1996 im Westlondoner Stadtteil Chelsea geborenen, ist die Tochter einer Irin mit Wurzeln auf den Bahamas und eines türkischstämmigen Vaters, der über ein Kunststipendium nach London kam und blieb. „Paradise“, der Clip, zeigt Yanya 2019 in Istanbul – ein Sehnsuchtsort für sie, ganz offensichtlich, aber einer von der Sorte, der nicht mehr ist, was er mal war. 2019 waren der Gezi-Aufstand und die damit verbundenen, landesweiten Proteste gegen die Regierung Erdogan sechs, der Terror-Anschlag auf die Blaue Moschee drei Jahre her und mit der Gleichschaltung der Medien im Land und der Ausschaltung seiner politischen Gegner kam der Präsident beim Umbau der Türkei von einer laizistisch geprägten Demokratie in eine religiös grundierte Autokratie zügig voran. „In paradise, I’m terrified/ Of what we might, Of what we’ll find“, singt Nilüfer Yanya in ihrem Song. Und wie sie einem da, umspielt von einer milden Sommersonne, ihre Stadt zeigt, von Karaköy mit Zwischenstopp auf der Prinzeninsel nach Kadiköy hinübermacht, den Bosporus hinauf Richtung Marmarameer, vom europäischen Teil der Stadt in den asiatischen, und am Kai versonnen tanzt, spürt man, dass diese Musik, obwohl gitarrengetrieben, etwas Offenes, Friedfertiges hat. „Paradise“ ist ein Abschied in Wehmut – auf Zeit? Für immer? Wer weiß.

Nilüfer Yanya in Istanbul

Ilgen-Nur: „Purple Moon“

2020. Das Seuchenjahr, dem noch zwei weitere folgen sollten, hätte das Jahr der Ilgen-Nur werden können. Ihr erstes Album „Power Nap“, 2019 erschienen, hatte der „Slacker-Queen“ mit der eher untertourigen Selbsteinschätzung („I’m just trying to be cool/ but i feel like a fool“) viel Anerkennung in Kritikerkreisen, aber auch bei den Musikerkolleg:innen der deutschen Indierock-Szene eingebracht. Jetzt, Anfang 2020, hätte Ilgen-Nur Borali, wie sie mit vollem Namen heißt, Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Schwäbischen, Ex-Hamburgerin und mittlerweile in Berlin lebend, beim SXSW-Festival in den USA auftreten sollen. Doch der Gig fiel wie das gesamte Festival der Pandemie zum Opfer, Ilgen-Nur, die zwischenzeitlich schon als deutsche Courtney Barnett gehandelt worden war, verschwand vom Radar – und tauchte erst vor Kurzem, im Juli 2023, wieder auf. Ilgen-Nur sei „wieder da“, ließ die Künstlerin via Power Nap Records wissen. Mehr war auch nicht nötig. Denn im Clip zur gleichzeitig veröffentlichten, neuen Single „Purple Moon“ kann man sehen, was zuletzt geschah. Anstatt die Koffer zu packen und nach dem abgesagten Konzert in Austin mit dem nächsten Flieger so schnell wie möglich nach Deutschland zurückzukehren, blieb Ilgen-Nur in Amerika, verbrachte viel Zeit in L.A., schrieb Songs und umfuhr weiträumig, im gemieteten Mercedes-Sportcoupe aus den 1970ern, den pandemischen Alltag. „I only live to see another day/ Sit on my skin, glow away“, heißt es „Purple Moon“, Sarah Alikhan, die das grobkörnige Video gedreht hat, tönt den ewigen kalifornischen Sommer mithilfe von Lichtfiltern so ab, dass ein gewisses Unbehagen sichtbar und erlebbar wird. Die Strände sind hier nicht weiß, der Himmel ist nicht blau, die Sonne, wenn sie denn scheint, hat nicht wirklich Spaß dabei. Mag sein, Corona ist vorbei. Aber ein unbeschwerter Sommer fühlt sich anders an. Im Kino am Straßenrand, in einem der staubigen Nester, durch die Ilgen-Nur ihren Benz chauffiert, läuft im „Westen nichts Neues“. „So iconic“ findet Alikhan Ilgen-Nur in „Purple Moon“. Was man von ihrem Clip auch sagen kann.

Ilgen-Nur in Kalifornien

Slowdive: „Kisses“

Freunde haben Bilder geschickt: Neapel. Im Frühsommer. Blau der Himmel. Blau das Meer. Der Blick aus der für den Urlaub gemieteten Wohnung geht hinaus in den Golf … das da vorn könnte Capri sein, ist Capri? Schon komisch, wie im Lauf der Zeit abgespeicherte items plötzlich wieder aufploppen, wie sie gesehen und, mit aller Macht, erinnert werden wollen. Als fürchteten sie ihre Flüchtigkeit. „Kisses“, der Clip zum jüngst erschienenen Song von Slowdive, der Band aus dem britischen Reading, spielt auch in Neapel. Seine Protagonist:innen bewegen sich in derselben Stadt, aber in einer anderen Welt. Sie wirken wie Untote. Haben etwas Geisterhaftes an sich, wie sie da in „Kisses“ (auf dem Scooter) durch die Nacht gleiten: stumm und trotzdem beredt, mit großen Erwartungen oder eher nachdenklich, in den Gesichtern Spuren von Erlebtem, die Kraft, die es kostet, aufzustehen, immer weiterzumachen und trotzdem bei sich zu bleiben. Neapel bei Nacht: Das Setting ist kein Zufall. Tagsüber hält die Stadt bei Temperaturen von über 40 Grad in diesem Sommer sowieso keiner aus. Und so konzentriert sich alles Leben auf den Moment, in dem die Sonne endlich doch erschöpft dem Horizont entgegen sinkt. Man habe „keine dunkle Platte“ machen wollen, sagen Neil Halstead und Rachel Goswell von Slowdive über diesen ersten Song, das erste Lebenszeichen ihrer Band seit 2017, der in vielerlei Hinsicht besonders ist. Musikalisch, weil es sich bei „Kisses“ um ein funkelndes Popjuwel handelt, das mehr nach New Order, weniger nach Shoegaze klingt, mit flächigen Synthies statt der krachenden Gitarren, mit denen Slowdive sonst gern ihre Melodien schreddern. Und dann ist da noch Noel Paul, der den Clip gedreht hat. Er hat eine Arbeit abgeliefert, die so fernab aller Italianità ist, wie man es sich nur vorstellen. kann. Wo unser Blick auf Italien immer noch von Stereotypen geprägt und damit komplett irrational ist, hat Paul, wie’s aussieht den klareren Blick. Dass er nachts gedreht hat, ist auch der neuen Realität der Stadt geschuldet, deren hitzegeplagte Bewohner:innen ihre Häuser am liebsten nur noch nach Sonnenuntergang oder mit Hereinbrechen der Abenddämmerung verlassen. In einer der schönsten Sequenzen stürzen sich drei Jungs im Hafen, vor der Silhouette der Stadt, ins Meer – aber Erlösung verspricht auch das nur bedingt: „I know your dream of snowfields/ Floating high above the trees/ Living for the new thing/ Sometimes the new won’t do/ Kisses born desert sun“, raunt es in „Kisses“. Im September soll Slowdive’s neues Album erscheinen. Bis dahin atmet hoffentlich auch Napoli wieder auf.

Slowdive in Neapel

bar italia: „Nurse“

Nein, das ist nicht Italien. Das ist London. Das sind Jezmi Tarik Fehmi, Nina Cristane und Sam Fenton von der Londoner Band bar italia, die da scheinbar schon ein bisschen länger vor einer Espressobar (in Soho?) sitzen und das Leben an sich vorüberziehen lassen. Manchmal frieren die Bilder einen Moment lang ein. Dann holt die Kamera sie wieder zurück. Davon abgesehen passiert in den 3.49min dieses Videos nicht wirklich viel – was manchen natürlich schon wieder zu wenig ist, weswegen es auch nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis jemand bar italia unter Nerd-Verdacht stellt oder laut „Kunsthochschule“ ruft – Debatten, wie sie (nicht nur) im Königreich gern geführt werden, dIe Fehmi, Cristane und Fenton aber auf elegante Weise ins Leere laufen lassen. Sie erzählen einfach nichts von sich, stellen keine musikalischen Bezüge her (Post-Punk? The Cure?), reden nicht über ihre Arbeit, wirken dabei aber nicht so, als wäre das Teil eines Plans, etwa dem, sich interessant zu machen. „Come here, join me in my silence“ heißt es stattdessen im Signature Song „Nurse“ von bar Italia’s Mitte Mai erschienenem Album „Tracey Denim“. Und, tja, das muss man aushalten können. „Nurse“ hat ein bisschen was von „Warten auf Godot“. Aber wenn man mal die Perspektive wechselt, die Einladung annimmt und sich zu ihnen setzt, stellt sich mit der Distanz zum Geschehen auch ein Gefühl von Entfremdung ein, eine Ahnung davon, wie es ist, nur Zuschauer zu sein, „außen vor“, wie man so sagt. bar italia verhandeln in ihren Songs Fragen von Identität und der Stabilität von Beziehungen, findet der britische „Guardian“. Was man bei ihnen spürt, sei „die existenzielle Angst vor dem Herumstolpern in einer Welt, in der man nicht weiß, wohin man gehört“ – „the existential angst of stumbling through the world without a sense of belonging“. Es geht der 2020 gegründeten Band also um das große Thema Zugehörigkeit, von dem man manchmal, auch in Deutschland, den Eindruck haben könnte, dass es sich noch einmal – oder schon wieder – zu einem Streitthema mit Spaltungspotenzial entwickeln könnte. Vielleicht sollten wir einfach nur ein bisschen mehr bar italia hören.

bar italia in London