Klaus Lemke, der Filmemacher und ewige Outlaw des deutschen Kinos, ist gestorben. Er drehte schnelle, billige, schmutzige, gelegentlich auch komische B-Movies oder „Non-Government-Filme“, wie er sie nannte, die er nur finanzieren konnte, weil er sich das Geld dafür vom Mund absparte. Journalisten hatten bei ihm Carte blanche: Man durfte über ihn schreiben, was und wie man wollte: „Hauptsache, es knallt!“ Wer sagt da schon Nein? Eine Momentaufnahme aus dem Sommer 2010.

München. Die „Leo“. 33°C.

Das Hemd klebt auf der Haut.

Der Asphalt kocht.

„Die Leopoldstraße kills me“ hieß mal einer von Lemkes Filmen.

Du unterschreibst das, Jetzt. Hier. Sofort.

Er? War schon im Gym.

Danach auf der Freitreppe, an der Akademie:

„Die Mädchen da, Digga … Bombe!“

Bombe auch er.

Sein Slang.

Der Look: die schwarze Sporttasche mit dem Adidas-Schriftzug drauf (Vintage). Das Hemd, schwarz mit farblich abgesetzter Knopfleiste (grau). Dazu schwarze Bermudas und weiße Socken in festen, schwarzen Schuhen.

Lemke, the one and only.

Nur echt mit der tief in die Stirn gezogenen Mütze: „Ich gucke gern, aber ich will nicht, dass die Leute sich belästigt fühlen.“

Lemke ist ein Augentierchen, wird nicht müde, zu schauen, saugt Honig den ganzen Tag, als ginge es darum, sich noch schnell einen Vorrat an Bildern zuzulegen.

Für schlechtere Zeiten.

Gerade aber, in diesem Sommer 2010, läuft es gut für ihn.

Er ist 69.

Sieht aus wie 48.

In ein paar Tagen soll er beim Filmfest den Münchner Filmpreis bekommen

Ist selber baff.

„Keine Ahnung, Digga, kann sein, dass einige von den Leuten, die jetzt über solche Sachen entscheiden, in den 70ern mit meinen Filmen aufgewachsen sind. Mit „Idole“, „Amore“ oder „Ein komischer Heiliger“. Vielleicht ist es so, dass sie sich jetzt daran erinnern. Und dass der Preis ein Dankeschön dafür ist.“

Lemke nippt am Kaffee – schwarz, „Hände weg von Milch und Zucker!“ – , es geht jetzt um die Frage, was eigentlich der Grund dafür ist, dass sie ihn seit den rauschhaften Tagen von damals beim Filmfest nicht mehr haben wollten. Dass er draußen bleiben musste. Dass sie ihn – geschnitten haben?

Aber Digga, sagt er.

„Meine Filme werden seit fünf Jahren in Berlin und seit sechs Jahren in München abgelehnt und ein Grund ist, dass sie so durchschlagend jung sind, dass alle anderen dagegen wahnsinnig alt aussehen. Sie sind spontaner, dreckiger, direkter und vor allem näher am Leben als der ganze seelenlose Industrieschrott, den man sonst in Deutschland produziert. Ein anderer Vorwurf, den ich immer wieder höre, ist, dass meine Filme zu sexy sind. Aber, hey: Film ist kein Deutsch-Leistungskurs! Film ist auch keine aussterbende Tierart. Film ist: An verbotenen Früchten naschen!“

„Kunst kommt von Küssen“ wird eines noch fernen Tages, im Juni 2022, auf dem Pappschild stehen, das der dann 81-jährige Lemke ein paar Tage vor seinem Tod der Crowd beim Münchner Filmfest vor die Nase hält.

Er hat nie aufgehört zu kämpfen.

Von „echten“ Filmen zu träumen.

Aber auch die Neunmalklugen und Korinthenkacker, die Gremienfuzzis, die in Deutschland über die Vergabe von Fördermitteln entscheiden, haben nicht aufgehört, Ideen und Stories zu killen. Drehbücher auf Mainstream und Mittelmaß zu trimmen. Wild knospende Triebe solange und so konsequent zurecht zu stutzen, dass sie garantiert nie zur Blüte kommen.

Mit durchschlagendem Erfolg.

2022 wird es bei der Vergabe des Deutschen Filmpreises gerade mal zwei, drei Filme geben, „Lieber Thomas“ von Andreas Kleinert, „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen und „Große Freiheit“ von Sebastian Meise, die überhaupt preiswürdig erscheinen und am Ende wird die Jury zwei von ihnen mit Preisen zuschütten. Auch Meise, der Österreicher, kriegt noch was ab. Er hat mit seinem schwulen Film mehr riskiert als die Anderen. Und bekommt deshalb weniger raus.

Sag ich doch, hätte Lemke gesagt: Die fahren das Ding gegen die Wand.

Im Sommer 2010 aber nimmt er die Sache noch mal selbst in die Hand.

Ist back in town, nachdem er die Jahre davor überwiegend in Hamburg gedreht hatte.

Zurück in Schwabing. Seinem natürlichen Biotop.

Und gleich wieder mittendrin.

Lemke im Sommer 2010 in Schwabing: „Die Energie dieser Wahnsinnigen“ / Foto: Hans-Rudolf Schulz

„In der Theatinerstraße kommt mir ab und zu ’ne Frau entgegen mit großer Sonnenbrille, definitiv Greta Garbo – und wenn ich dann gucke, ist es Iris Berben. Das ist mir schon öfter passiert, Und auch wenn ich mit manchen Mädchen im Streit auseinander gegangen bin, bin ich dankbar für die Filme, die sie mir geschenkt haben. Ohne Cleo Kretschmer zum Beispiel gäbe es die Münchner Filme nicht; Das war diese Verrückte vom Einödhof, die der Welt mal zeigen wollte, wie geil sie ist. Ich hab‘ das nur in Bilder und Geschichten umgesetzt. Die eigentliche Energie kam von ihr. Bei „Rocker“, dem Halbstarken-Film, den ich in Hamburg gedreht habe, war das ähnlich. Er lebt von der Energie dieser Wahnsinnigen, die immer 18 Jahre alt bleiben wollen.“

Lemke mag Journalisten, weiß, wie sie ticken, bietet gleich viel an.

Berben, Lemke auf dem Set von „Brandstifter“ 1968 : „Ich bring dich zum Film, Baby!“ / Foto: Deutsches Filminstitut

Berben. Cleo. Ein bisschen Schwabing-Folklore aus den seligen 60ies-/70ies-Zeiten, Könnte ja sein, dass du zu denen gehörst, die davon nicht genug kriegen können.

„Rocker“ dagegen ist eine andere Liga. Mehr so die Richtung, was Lemke mit Dennis Hopper verbindet und den American Independents, die neben der französischen Nouvelle Vague in den End-Sechzigern zu seinen Vorbildern gehörten – nur, dass er damals härter drauf war: Seine „Rocker“-Darsteller sind echt, die Atmosphäre am Set gespannt. die Crew wohnt mit Bikern, Drogendealern und der Baader-Meinhof-Gruppe für die Dauer des Drehs unter einem Dach.

Hat sich so ergeben.

Lemke und Baader kennen sich aus München.

Haben gemeinsame Vorlieben.

Autos. Mädchen. Kino.

Was du an Lemke nicht verstehst: Wie einer Filme wie „Rocker“ machen kann. Oder: „48 Stunden bis Acapulco“, dieses Loner-Drama voller Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Und wie er dann, in den Cleo-Filmen, so tut als wolle er mit Helmut Dietl („Münchner Geschichten“, „Kir Royal“) eine weißblaue Kleingruppe gründen.

Lemke-Debut „48 Stunden bis Acapulco“: erster Actionfilm des Jungen Deutschen Kinos

Aber das Thema ist nicht, was war.

Sondern, was ist.

München also. Wieder mal. Warum?

„Die Frage hör‘ ich dauernd, Digga! Warum ich wieder in München lebe? Eigentlich habe ich darauf keine Antwort. Aber aus Wut darüber, dass ich immer so arrogant gefragt werde, dass München immer so niedergemacht wird, habe ich gedacht, jetzt fick‘ ich die alle und dreh‘ einen Film, dass die verrückt werden und dann habe ich endlich einen Grund, den Leuten zu sagen, warum ich gern in München bin. Weil man nämlich nur hier so einen Film machen kann. Einen kleinen, ins Verliebtsein explodierenden Schwabing-Porno über einen größenwahnsinnigen Hamburger, 20 Jahre alt, der im Alleingang die Münchner Mädchen retten will.“

„Schmutziger Süden“, so der Titel, wird mit ein bisschen Abstand zum Filmfest im ZDF laufen.

Dem Kukident-Sender.

Aber: Anders als etwa der BR (oder das Münchner Filmfest) waren sie beim ZDF furchtlos genug, an Lemke fest zu halten, als der sich in den 80ern (des weißen Pulvers wegen) und in den 90ern mit Milieustudien vom Hamburger Kiez vorübergehend selbst vom Radar nahm.

Für ihn kein schlechter Deal.

„Ich hab‘ 40 Jahre versucht, meine Filme im Underground zu halten. Ich verkauf die Rechte nicht, pass auf, dass das ZDF die Filme nach Mitternacht sendet. Alle Filme von mir, die du kaufen kannst, sind illegal. Das ist eigentlich eine Superposition. Aber langsam explodiert dieses Ghetto. Langsam kommt meine Art, Filme zu drehen – mit nichts, ohne Buch, ohne professionelle Darsteller – richtig groß in Mode.“

Alles scheint plötzlich (wieder) möglich.

Auch wenn nichts mehr ist, wie es mal war.

Die männlichen Pappkameraden, die Lemke neuerdings in seinen Filmen in Stellung bringt, taugen oft nur noch als Spielfiguren für seine weiblichen Heldinnen, die nun immer mehr über sich hinauswachsen.

Lemke spürt, dass sich was tut.

Und dass er richtig liegt.

In „Finale“ von 2006, seinem Film zur Fußball-WM, den er nur gemacht hat, weil er dem braven Sönke Wortmann mit „Deutschland. Ein Sommermärchen“ nicht die Deutungshoheit über diesen Sommer überlassen wollte, machen Saralisa Volm als Callgirl und Anneke Schwabe als lebenshungrige Jungschauspielerin irgendwann halt miteinander rum, weil die Jungs nicht vom Fernseher weg zu kriegen sind – und sehen dabei nicht so aus, als würden sie das als Strafe empfinden.

Auch der selbst ernannte Retter der Münchner Mädels in „Schmutziger Süden“ macht nicht nur keine gute Figur. Sondern muss auf schmerzhafte Art lernen, dass sich die Machtverhältnisse in Genderdingen geändert haben.

Szene aus „Schmutziger Süden“ / Foto: privat

„Der männliche Teil der Bevölkerung“, sagt Lemke, „sind heute zu 90 Prozent in der Tiefe ihrer PCs verkantete Spaßväter. Frauen aber suchen letztlich immer einen Bösen, der sie aus dem Gefängnis ihrer weiblichen Selbstinszenierung heraus holt. Der sie zur Frau macht. Zum Dank dafür machen sie den Mann zum Monster, Das ist das Beste, was einem passieren kann.“

„You make me woman. I make you monster“ raunt es in „Overnight Slavery“, dem Titelsong von „Schmutziger Süden“.

Doch irgendwann endet jede Gefangenschaft.

Auch die, in die man sich gern begibt.

Auf der Bad Girl Avenue.

Seinem stairway to heaven.

Am 7. Juli 2022 ist Klaus Lemke in München gestorben.

Lemke-Postergirls Valentina, Judith, Anabell, Daidy 2018 / Foto: Schmelcher/ Roemke/ KLF-filmproduktion
Klaus Lemke (1940-2022) kam in Landsberg/ Warthe im heutigen Polen zur Welt. Nach der Flucht über die DDR wächst Lemke in Düsseldorf auf und arbeitet u.a. als Asphaltierer. Nach abgebrochenem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie kommt er 1963 für mehrere Regieassistenzen nach München zu Fritz Kortner und lernt die Filmemacher Rudolf Thome, Werner Enke und May Spils kennen. Sein erster eigener Langfilm "48 Stunden bis Acapulco" (1967) gewinnt einen Bambi. "Brandstifter" (1968) mit Iris Berben, ein Film zum Berliner Kaufhausanschlag von Gudrun Ensslin und Andreas Baader, den er fürs Fernsehen macht, wird zum Skandal. Lemke ist raus, kommt erst 1972 mit "Rocker" wieder. 1978 wird sein Film "Amore" mit Cleo Kretschmer mit dem Grimmepreis ausgezeichnet. Er genießt die Popularität, verweigert aber jedes Arrangement mit "Papas Staatskino", pfeift auf Fördergelder, macht lieber sein eigenes Ding mit Darstellern und Geschichten von der Straße. "Finale" (2006) und "Schmutziger Süden" (2010) finden wieder ein größeres Publikum. 2014 wird er beim Filmfest München mit einer kleinen Werkreihe geehrt. Er bedankt sich mit einem furiosen Alterswerk: "Unterwäschelügen" (2016), "Making Judith" (2017), "Bad Girl Avenue" (2018), "Neue Götter in der Maxvorstadt" (2019) und "Ein Callgirl für Geister" (2020) werden beim Filmfest München uraufgeführt. Dort lief zuletzt auch "Champagner für die Augen - Gift für den Rest", ein von Lemke selbst produziertes Biopic, das er kurz vor seinem Tod noch fertig stellen konnte