Imperiale, revanchistische Regime erzeugen Repressionen und Kriege aus sich selbst heraus, sagt der aus Kiew stammende, in Deutschland lebende Historiker Mykola Borovyk. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat ihn nicht überrascht. Eher schon, wie paralysiert der Westen darauf reagiert. Ein Gespräch über deutsche Ängste und Verantwortung, warum „Frieden schlimmer sein kann als Krieg“ – und inwieweit der Kampf der Ukraine eine Blaupause dafür ist, was offene Gesellschaften in Zukunft leisten müssen, um Demokratie und Freiheit zu bewahren

0941mag: Herr Borovyk, wie geht es Ihnen beim Gedanken an den Krieg in Ihrer Heimat?

Mykola Borovyk: Ich habe … Schuldgefühle. Ja. Ich glaube, dass alle Ukrainer, die jetzt in Sicherheit sind, tief in ihrem Herzen so empfinden, weil sie nicht zu Hause sind. Nicht in der Armee zum Beispiel. Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich von hier aus mehr Gutes tun kann für mein Land. Ich gebe dabei mein Bestes. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich nicht genug tue und dieses Gefühl ist ständig präsent. Ich empfinde auch Wut. Natürlich. Aber keineswegs Verzweiflung. Ich weiß, dass dieser Krieg sehr lange dauern kann. Aber die Ukraine wird durchhalten, davon bin ich überzeugt. 

Sie sind in der Nähe von Kiew geboren, haben in Kiew studiert. Wie hat Ihr Leben damals ausgesehen?

Es war ein normales studentisches Leben eigentlich, wie man es sich vorstellt, mit Unterricht, Feiern und so weiter. Aber Politik war immer ein Thema. Gleich die erste Revolution, die ich erlebt habe – der studentische Protest gegen die Sowjetunion, für eine unabhängige Ukraine 1990 – hat mich maßgeblich geprägt. Zu sehen, dass es die Chance gibt, kollektiv etwas zu machen, war eine neue, zentrale Erfahrung für viele Menschen, die dann 2004 bei der Orangen Revolution oder 2013/14 beim Euromaidan ja auch wieder auf die Straße gegangen sind.

Ich nehme an, Sie haben noch Familie, Freunde oder Bekannte in der Ukraine? Was hören Sie von dort?

Meine Eltern sind glücklicherweise in Sicherheit – seit die Russen aus Kiew und Umgebung zurückgedrängt worden sind, sind sie nicht mehr in der Kampfzone. Unter meinen Kollegen an der Universität und unter meinen Freunden gibt es viele, die in der Armee sind. Viele meiner ehemaligen Studenten kämpfen ebenfalls. Die Stimmung ist unterschiedlich. Die vorherrschende Emotion der letzten Monaten war Wut. Nach Butscha kam noch der Hass dazu, auf Menschen die imstande sind, solche Dinge zu tun. Aber allmählich wird der Krieg auch zur Routine. Viele beginnen sich an diesen Zustand zu gewöhnen, manche sind einfach emotional erschöpft. Aber fast niemand zweifelt daran, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Umfragen zufolge sind 90 Prozent zuversichtlich, dass wir gewinnen werden. Letztlich haben die Russen uns keine andere Wahl gelassen als zu siegen oder zu sterben.   

Es heißt, die Menschen in der Ukraine fühlen sich von den Deutschen im Stich gelassen. Können Sie das bestätigen?

Was Deutschland betrifft, auf jeden Fall, ja. Es gab in der Ukraine keine große Erwartung hinsichtlich der deutschen Position. Aber was in den vier Monaten seit Kriegsausbruch geschah, sorgte dort nur für Enttäuschung oder für Gelächter sogar. Ich weiß nicht, wie geläufig oder populär dieser Begriff in der Welt ist, aber in der Ukraine ist das Wort „scholzen“ bereits zum Synonym für turbulente Aktivitäten ohne Ergebnis und leere Versprechungen geworden.

Sehen Sie das auch so?

Natürlich nicht exakt! Deutschland hat viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Die Deutschen waren sehr verständnisvoll, haben viel Solidarität und Hilfsbereitschaft gezeigt – vielleicht nicht alle, aber die große Mehrheit. Die deutsche Regierung unterstützt die Krieg führende Ukraine direkt und indirekt über die EU. Sie unterstützt die Sanktionen gegen russische Unternehmen, was auch Geld kostet. Ein wichtiges Signal war auch, dass Deutschland sich dafür eingesetzt hat, dass die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommt. Für das alles ist die Ukraine auch dankbar. Aber die Deutschen helfen eben nur von hier aus, nicht vor Ort. Ihr Bestreben ist es, sich aus diesem Krieg heraus zu halten und deshalb bringen sie lieber die Mittel für die Unterstützung von Flüchtlingen auf als für die Unterstützung der Menschen in der Ukraine, geschweige denn fürs Militär. Man kann in Deutschland noch Geld für Medikamente sammeln. Aber von kugelsicheren Westen und Nachtsichtgeräten etwa kann man in der Ukraine nur träumen. Der Historiker Stefan Schulz verweist in diesem Zusammenhang – wie ich glaube, zu Recht – darauf, dass die Deutschen sich historisch gesehen mehr mit Opfern (wie Flüchtlingen) assoziieren können als mit Soldaten, die  für eine gerechte Sache kämpfen und das Gute verteidigen. Vielleicht ist es auch die Angst – Angst vor Krieg, Angst vor Russland -, die ein Engagement ohne Wenn und Aber verhindert. Vielleicht ist es alles zusammen. 

Wie erleben Sie die momentane Stimmung in Deutschland, vier Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Geschockt wie noch zu Beginn des Krieges? Oder mehr und mehr indifferent, weil man ja „nicht ständig über Krieg reden“ kann und mag?

Also, ich würde schon sagen, dass das immer noch schockiert, berührt, Angst macht auch. Aber der erste Schock ist vorbei, die Aufmerksamkeit für diesen Krieg lässt nach. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es der ukrainischen Armee gelungen ist, den Vormarsch der Russen aufzuhalten. Der Krieg wird jetzt wieder mehr als etwas Entferntes gesehen, das die Deutschen nicht direkt betrifft. Aber das war zu erwarten. Wir wissen, dass das öffentliche Interesse und das Interesse der Medien instabile Faktoren sind. Umso mehr kommt es nun auf die Position der politischen und intellektuellen Eliten in Deutschland an, in Europa und in der Welt – ob sie verstehen, was gerade geschieht und welche Folgen das haben kann. 

Dass es nach den Katastrophen der beiden Weltkriege noch einmal einen Krieg in Europa geben könnte, hat in Deutschland niemand mehr für möglich gehalten. Waren wir blauäugig? Naiv?

Ich glaube, ja, diese Einschätzung war naiv. Kindlich naiv sogar. Deutschland und der Westen, wie er heute politisch, kulturell und intellektuell tickt, ist das Produkt der Generation, die durch  die 1968er-Protestbewegung, die eine Jugendbewegung war, sehr stark beeinflusst wurde. Zumindest politisch ist der Westen nie richtig erwachsen geworden. Wobei: Das ist wahrscheinlich noch nicht mal die Schuld dieser Generation, denn es hätte gar nicht anders sein können. Diese Menschen bekamen die Möglichkeit und die Verantwortung zu entscheiden, wie die Gesellschaft und der Staat aussehen sollten, in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Und in dieser Zeit war die westliche Vorherrschaft so total, dass es schien, als könne eine Gefahr für die Welt, die Freiheit und die Menschenrechte nur von innen kommen, als Folge einer Degeneration der Gesellschaft, durch Rechtsextremismus, Nationalismus und so weiter. Der Kampf für Demokratie und Freiheit erschien vor diesem Hintergrund wie eine soziale Prävention. Und nur die USA als die einzig Erwachsenen in dieser Welt konnten die Verantwortung für den Weltfrieden tragen. Regierungen im Westen bekamen es vielleicht mal mit einer Friedensbewegung zu tun. Und auch, wenn die Menschen gegen die amerikanische Politik protestierten, wussten sie immer, dass niemand eine ernsthafte Bedrohung für sie darstellen konnte. Jetzt aber …

Ja?

… sind plötzlich mehrere Erwachsene im Haus, ziemlich gefährliche Erwachsene sogar, und die westliche Gesellschaft scheint wie gelähmt. Wie paralysiert. Ich glaube, die meisten verstehen gar nicht, mit wem sie es in diesem Krieg zu tun haben und was überhaupt vor sich geht. Das kann man schon daran sehen, dass auf allen Plakaten zur Unterstützung der Ukraine in Deutschland zum Frieden aufgerufen wird – als ob der Frieden mit Russland die Lösung sein könnte. Der Frieden kann schlimmer sein als der Krieg! Hätte Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen, hätte es auch Frieden gegeben. Aber wie hätte der wohl ausgesehen? Als die Sowjets 1932/33 zum ersten Mal einen Völkermord in der Ukraine verübten, gab es keinen Krieg. Aber bis zu vier Millionen Menschen wurden Opfer dieses Genozids, darunter auch Angehörige meiner Familie, zwei Brüder meines Vaters. Die Ukrainer erinnern sich noch an diese Welt, in der das Böse die Oberhand behielt. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund für die Entschlossenheit und die Tapferkeit, mit der sie jetzt kämpfen.

Ein Vortrag, den Sie zuletzt u.a. im Einstein Forum in Potsdam gehalten haben („Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ideologische Grundlagen und rhetorische Rechtfertigung“) legt nahe, dass wir es hätten besser wissen können. Was haben wir übersehen oder, vielleicht, nicht sehen wollen?

Es fängt bei der Ukraine an: Ein Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern, größer als Frankreich, über das niemand in Europa etwas anderes wusste als eine Reihe von primitiven Stereotypen, die mehr über den sagen, der an sie glaubt, als darüber, was diese Stereotypen beschreiben sollen: Allgegenwärtige Korruption, ein gespaltenes Land etc. Für die meisten Deutschen ist es schon eine Offenbarung, dass die Ukraine überhaupt eine eigene Sprache hat und eine eigene Kultur! Und so nimmt auch niemand richtig wahr, dass in der Ukraine gerade etwas völlig Neues entsteht, was den Aufbau einer Gesellschaft angeht, dass hier, zum Beispiel, der Beweis erbracht wird, dass Patriotismus und eine offene Gesellschaft zusammen existieren können. Dass es der Ukraine gelingt, Russland zu widerstehen, der zweitstärksten Armee der Welt, hat vor allem mit dieser inneren Verfasstheit zu tun. Die Ukrainer befinden sich seit acht Jahren im Krieg – und in diesem Zustand haben sie es geschafft, die Demokratie zu erhalten! Es mag pathetisch klingen, aber ich denke, was wir hier gerade sehen, ist, was eine demokratische Welt in Zukunft wird leisten müssen, wenn sie überleben will. Und da bin ich bei Russland: Dass der Westen nicht gesehen hat oder nicht wollte, wie sich dort unter der Herrschaft von Wladimir Putin ein diktatorisches Regime herausgebildet hat, ein Regime, das den Westen als Gegenpol begreift und Demokratie und Freiheit als Bedrohung für die eigene Existenz ansieht. Erstaunlicherweise sagen westliche Politiker bis heute, dass Russland „nicht genötigt“ werden darf, dass mit Russland noch gesprochen werden muss, aber das ist eine Selbsttäuschung, glaube ich. Mit diesem Russland wird es niemals möglich sein, business as usual zu betreiben. Die russische Führung selbst spricht bereits ganz offen darüber. Und je eher die demokratischen Länder zu dieser Einsicht gelangen, desto besser die Chancen des Westens, aus diesem Krieg als Sieger hervor zu gehen. Hier wird es kein Unentschieden geben. Keinesfalls.

Luftalarm während einer Totenfeier in Kiew: „Die Ukrainer befinden sich seit acht Jahren im Krieg“ / Foto: Imago, Zuma Wire

Wer ist Putin? Was sind seine Motive? Und was will er in der Ukraine?

Wladimir Putin ist ein Diktator, der die Geschichte zurückdrehen will, das ist wahrscheinlich die kürzest mögliche Beschreibung. Putins Russland lebt seit 20 Jahren in Vorbereitung auf die Revanche: Es ist die Antithese zur Perestroika und den als „schmachvoll erlebten 1990er-Jahren“. Sein wichtigster Slogan („Russland, das sich von seinen Knien erhebt“) klingt ein bisschen wie „Make America great again“. Aber: Putins Russland ist nicht auf Isolationismus eingestellt. Es hat nie versucht, eine andere Identität als die eines imperialen Nationalismus zu entwickeln. Wie sonst soll es auch gelingen, die Tschetschenen und Dutzende andere Völker in den russischen Nationalstaat zu integrieren? Innerhalb der derzeitigen Grenzen Russlands ist das schwer vorstellbar. Und genau dieser imperiale Expansionismus hält Putin an der Macht. Natürlich spielt auch seine Persönlichkeit eine Rolle. Er sucht seinen Platz in der Geschichte. Dass er sich mit Zar Peter dem Großen vergleicht, ist nur ein weiterer Hinweis, wie groß die Fußstapfen sein sollen, in die er treten möchte. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass das Problem nicht nur Putin ist. Imperiale, revanchistische Regime erzeugen Repressionen und Kriege aus sich selbst heraus und die Macht solcher Regime hängt vom Erfolg dieser Kriege ab. Walerija Nowodworskaja, eine Vertreterin der demokratischen Opposition in Russland, sie ist schon verstorben, hat einmal gesagt, dass das Problem Russlands darin besteht (Zitat) „dass uns niemand richtig die Hörner abgestoßen hat“. Das finde ich eine sehr zutreffende Beobachtung. Ich bin mir sicher, dass nur eine wirklich durchschlagende Niederlage zu irgendeinem Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte den Russen die Chance eröffnet hätte, eine freiere und offenere Gesellschaft aufzubauen. Und auch jetzt wäre es für die Russen besser, den Krieg zu verlieren. 

Wie gefestigt ist Putins Macht – wenn russische UN-Diplomaten wegen des Kriegs den Job quittieren? Wenn Künstler, Intellektuelle und die beliebtesten Popstars das Land verlassen? Wenn die IT-Elite geht? Was sagt es über das Standing eines Präsidenten, wenn er  Oppositionelle wie Alexej Nawalny gewissermaßen prophylaktisch aus einem Gefängnis in der Nähe von Moskau in eines weitab der Hauptstadt verlegen lässt? 

Ich denke, das das alles nicht entscheidend ist. Nicht die Popstars, nicht die Intellektuellen. Auch nicht, was mit Nawalny passiert. Jedenfalls nicht kurzfristig. Die Zukunft Putins und seines Regimes entscheidet sich in der Ukraine. Gewinnt Russland diesen Krieg, wird das Putins Macht festigen. Geht der Krieg verloren, hoffe ich, dass auch in Russland die Einsicht wächst, dass etwas Neues kommen soll und muss. 

Steht die russische Bevölkerung wirklich mehrheitlich hinter Putin, wie man immer hört?

Das ist schwer zu sagen, denn Umfragen in Russland sind bekanntlich mit Vorsicht genießen und die Ergebnisse eher fragwürdig. Aber nach dem, was ich aus Russland höre, auch über persönliche Kontakte, würde ich sagen: Ja. Die Russen sind vielleicht nicht unbedingt für Putin. Sie teilen aber seine Vision eines russischen Imperiums, von Russland als einem mächtigen Land, und sie wollen, dass es diesen Status behält. Eine andere Frage ist, wie lang so eine Stimmung hält. Aus der Geschichte wissen wir, dass imperiale Wut im Fall einer empfindlichen Niederlage auch wieder vergeht. 

Welche Rolle spielt die russisch-orthodoxe Kirche? Ist sie so etwas wie Putins verlängerter Arm? Eine Art williger Helfer, die ihre Gläubigen auf die „Spezialoperation“ in der Ukraine verpflichtet, indem sie sie zur religiösen Angelegenheit (v)erklärt?

Die russisch-orthodoxe Kirche ist in erster Linie eine businesspolitische Struktur. Schon zu Sowjetzeiten stand sie inoffiziell unter staatlicher Kontrolle. Mittlerweile ist sie Teil des Staatsapparats und das ganz offen. Ja, man kann sagen, sie ist Putins verlängerter Arm. Das größte Problem aber ist die moralische und ideologische Botschaft, die sie aussendet, dass sie den Russen ein Gefühl einer Exklusivität vermittelt. Sie kultiviert einen Messianismus, wonach den Russen eine besondere Rolle in der Weltgeschichte zusteht, ein Recht, andere zu belehren und über sie zu herrschen. 

Gab es zwischen der Annexion der Krim 2014, dem Minsker Abkommen 2015 und dem 24. Februar 2022 eigentlich je die Chance, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu entschärfen und die Eskalation, wie wir sie jetzt erleben, zu verhindern?

Das glaube ich nicht, denn es gibt in Wirklichkeit keinen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Es gibt nichts, was man teilen könnte. Für das heutige Russland ist die bloße Existenz der Ukraine als Staat und als Nation inakzeptabel. Das ist das Problem. Und das ist auch der Grund für diesen Krieg. Die Ukraine passt nicht ins Bild, das die Russen von sich haben. Die Russen sehen sich selbst als unbesiegbares Reich, einen tausendjährigen orthodoxen Staat – und dann stellt sich plötzlich heraus, dass die erste Hauptstadt dieses Staates, nämlich Kiew, irgendwo im Ausland liegt. Das ist die erste Kränkung, ein Skandal in den Augen der Russen, unmöglich, das den Kindern in der Schule zu erklären! Aber die noch größere Herausforderung für Putins Regime ist die erfolgreiche Ukraine. Litauer, Letten und Esten sind auch erfolgreich, aber sie sind den Russen in der UdSSR immer fremd geblieben. Die Ukrainer dagegen wurden von den Russen immer als die dummen Brüder angesehen. In dem Glauben sind sie jahrhundertelang erzogen worden und deshalb ist es jetzt für sie ein No-Go, mit anschauen zu müssen, wie ausgerechnet die Ukraine als Staat und Nation reüssiert. Dass die Ukrainer sich frei und gut in der Welt bewegen können. Und sie fragen sich: Warum nicht auch wir Russen? In einem der Häuser in Irpin, in der Nähe von Butscha, dem Ort des Massakers an der ukrainischen Zivilbevölkerung, hat ein russischer Soldat einen Schriftzug an der Wand hinterlassen: „Und wer hat euch erlaubt, so schön zu leben?“ Aus der Sicht der Russen und der russischen Eliten ist das der zweite Skandal. Ja, der Krieg hätte vermieden werden können, wenn Russland nicht die Mittel dafür zur Verfügung gestellt worden wären, auch durch den Westen. Oder wenn der Westen entschlossener und härter auf die Annexion der Krim reagiert und den Russen frühzeitig signalisiert hätte, dass er bereit ist, für seine Werte einzustehen. Durch Verhandlungen aber wäre der Krieg nicht zu verhindern gewesen. Und er ist auch jetzt durch Verhandlungen nicht zu beenden.

Deutschlands Linke führt den Krieg auch darauf zurück, dass die Sicherheitsinteressen der Russen vom Westen über Jahre missachtet worden seien. Sarah Wagenknecht als eine der Wortführer:innen nennt in diesem Zusammenhang „den „NATO-Wortbruch bei der Osterweiterung, den von den USA forcierten und unterstützten Regime-Change in Kiew und die Ablehnung des Minsker Abkommens durch die Ukraine“. Richtig? Falsch?

Ich finde alle diese Erklärungen entweder nicht sehr ehrlich oder nicht sehr klug. Wenn man sieht, wie viel Angst und Entsetzen die Aussicht auf einen direkten Konflikt mit Russland bei den NATO-Staaten auslöst, lässt das die Behauptungen, Russland könne sich durch die Allianz bedroht fühlen, geradezu lächerlich erscheinen. Außerdem hat Russland sehr gut mit der NATO zusammengearbeitet – viel besser als die Ukraine. Es ist bekannt, dass Deutschland und Frankreich auch nach der Besetzung der Krim, trotz bereits verhängter Sanktionen, Russland mit Rüstungsgütern im Wert von einer Viertel Milliarde Euro beliefert haben. Das klingt nicht wirklich nach einer Drohung. Die NATO könnte eine Bedrohung für Putin sein und für seinen Plan, die Ukraine auszulöschen. Aber noch ist davon nicht viel zu sehen. Umgekehrt finde ich es aber schon interessant, dass ausgerechnet Linke als Kämpfer gegen den Imperialismus so bereitwillig Russlands Anspruch auf seinen exklusiven Einfluss in der Ukraine akzeptieren. 

Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die sich jüngst nach längerer Zeit wieder zu Wort gemeldet hat, hat gesagt, sie habe sich nie Illusionen über Putin gemacht. Ihr sei klar gewesen: „Putins Feindschaft geht gegen das westliche demokratische Modell“. Nur: Wenn sie das wusste, hat sie es sich nicht anmerken lassen. Sie hat uns im Gegenteil bewusst darüber im Unklaren gelassen. Geht so seriöse Politik?

Entschuldigung, aber ich glaube nicht, was Frau Merkel da gesagt hat! Das ist nichts weiter als eine Ausrede. Interessanterweise hat Russlands Feindseligkeit  gegenüber dem westlichen demokratischen Modell sie ja nicht gehindert, Russland mit Waffen zu beliefern und Deutschland in eine kritische Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu bringen. Frau Merkel ist politisch eben auch ein Kind der Welt nach dem Kalten Krieg, wie ich es vorhin beschrieben habe. Und die Zusammenhänge mit so einer Kurzsichtigkeit und Naivität zu betrachten, ist für mich zynisch.

Umgekehrt sagt Frau Merkel, die Ukraine sei zu ihrer Zeit „demokratisch nicht gefestigt genug“ gewesen, um über eine NATO-Mitgliedschaft auch nur nachzudenken. Ist da was dran?

… das Gleiche hören wir jetzt wieder, wenn es um den EU-Beitritt geht! Bloß dass die Ausreden jetzt noch beschämender klingen. Wenn beispielsweise gesagt wird, wir können die Ukraine aktuell nicht in die EU aufnehmen, weil wir es noch nicht geschafft haben, Serbien aufzunehmen – das in Wirklichkeit die russische Aggression gegen die Ukraine unterstützt. Ja, es gibt ein Problem mit der Korruption in der Ukraine, aber dieses Problem wird eindeutig übertrieben, nicht zuletzt deswegen, weil ukrainische Politiker dieses Argument beim Kampf um die Macht immer wieder ins Feld führen. Vor Gericht allerdings haben sich diese Anschuldigungen selten bestätigt. Gegen Petro Poroschenko zum Beispiel, den Vorgänger Selenskyjs im Amt des Präsidenten, wird seit mittlerweile drei Jahren wegen Korruption ermittelt, gefunden hat man bisher nichts. Wenn die Ukraine tatsächlich so korrupt wäre, wie behauptet, wie könnte dieser Staat dann vier Monate lang einen Krieg mit Russland überstehen? Warum funktioniert er überhaupt und ist nicht längst zusammengebrochen? Ja, das Problem besteht, aber nicht in dem Maß, dass es ein Grund wäre, die Integration der Ukraine in europäische Strukturen zu blockieren. Fakt ist, dass viele europäische Länder gerade in der Beitrittsphase oder bereits als Mitglieder der EU die positivsten Veränderungen erfahren haben. Alles andere sind in meinen Augen Ausreden und mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Immerhin hat die EU der Ukraine jetzt den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt.

Das war auf jeden Fall ein wichtiges Signal! Es zeigt der Ukraine, dass sie nicht allein ist und dass das Ziel, sich von der russischen Einflusssphäre zu lösen und einen demokratischen Staat, aufzubauen, realistisch und machbar ist. Aber dieses Ja ist auch für Europa wichtig, denn eine negative Entscheidung wäre eine moralische Katastrophe für das europäische Projekt und für die gesamte demokratische Welt. In diesem Fall, glaube ich, könnte das gesamte Projekt als gescheitert und abgeschlossen betrachtet werden. 

Die Ukraine in der EU, das ist die Zukunft. Die Gegenwart ist der Krieg und da ist es in Deutschland Konsens, dass die Aggression Russlands gestoppt werden muss. Trotzdem leisten wir uns den Luxus einer Debatte darüber, was wir denn nun wollen sollen: Dass Russland den Krieg „nicht gewinnt“? Dass die Ukraine ihn „nicht verliert“? Und was das konkret heißt. Wie erklären Sie sich das? 

Die große Frage ist, warum die deutsche Regierung sich so verhält. Warum trotz aller Diskussionen so wenig passiert. Und ich denke, dafür gibt es viele Gründe. Einerseits sind deutsche Politiker seit Generationen zu der Überzeugung erzogen worden, dass es für Deutschland besser ist, sich nicht in die Weltpolitik einzumischen, weil Deutschland in den Augen anderer immer eine Bedrohung für den Frieden darstellen wird. Das ist ein sehr primitives Geschichtsverständnis, denn es würde bedeuten, dass sich die Geschichte wiederholt und zwar exakt wiederholt. Es hat zu Provinzialismus und Stereotypen geführt, zu Tabus, die nur schwer zu durchbrechen sind. Zweitens haben die Deutschen ganz offensichtlich Angst vor Russland: Angst, in einen Konflikt hineingezogen zu werden und genau darauf ist die Regierungspolitik ausgerichtet. Entscheidender aber noch ist, dass viele deutsche Politiker und insbesondere Kanzler Olaf Scholz Angst vor einem Sieg der Ukraine haben, Angst vor der Zukunft, vor etwas Neuem, vor einer neuen politischen Realität, die schwer vorhersehbar und einzuschätzen ist. Das war im übrigen schon so, als es um die Beförderung der Unabhängigkeit der Ukraine ging. Heute erinnern sich nur Wenige daran, aber 1991 waren alle – ich wiederhole: alle! – Führer der mächtigen Staaten des Westens gegen die Abspaltung der Ukraine von der UdSSR. Die Ukrainer haben einfach alle vor die vollendete Tatsache gestellt. Und diese Geschichte, glaube ich, wiederholt sich jetzt.

Der Kanzler nach seinem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj Mitte Juni in Kiew: „Olaf Scholz hat Angst vor einem Sieg der Ukraine“ / Foto: Imago, NurPhoto

Unlängst hat die Bundesregierung nach langem Zögern eine Liste mit den bis dato von Deutschland an die Ukraine gelieferten Waffen veröffentlicht. Ich nehme an, Sie sind nicht wirklich beeindruckt?

Bin ich nicht, nein, ich möchte sehen, was wirklich geliefert wird. Es wurde ja schon viel versprochen!

Die Zurückhaltung der Deutschen hat auch mit den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu tun, mit der großen, historischen Schuld den Russen gegenüber. Allerdings mordeten die Nazis auch in der Ukraine, Stichwort: Babyn Jar oder Charkiw. Woher kommt dieser blinde Fleck im kollektiven Gedächtnis der Deutschen?

Vielen Dank für diese Frage, das ist ein wichtiger Aspekt! Ein Grund für den „blinden Fleck“, wie Sie sagen, ist sicherlich die Unwissenheit. Die Deutschen haben sich lange Zeit kaum für das Geschehen hinter der westpolnischen Grenze interessiert, geschweige denn hinter der ostpolnischen. Das alles war einfach Russland. Auch eine jahrhundertealte Verachtung für sogenannte „unhistorische Völker“ spielt da eine Rolle – und äußert sich dann darin, dass Russland legitime Sicherheitsinteressen haben darf, nicht aber die Ukraine. Das ist ein offensichtliches Erbe des Kolonialismus, das noch heute lebendig ist. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen. Es ist nicht nur und nicht so sehr wichtig, wem gegenüber Deutschland eine historische Verantwortung hat. Sondern wie diese Verantwortung zu verstehen ist. Es geht dabei nicht um Reparation, es geht nicht um Wiedergutmachung. Die historische Verantwortung sollte die Entschlossenheit sein, solche Verbrechen in Zukunft zu verhindern und zwar ganz gleich, von wem sie ausgehen. Merkwürdigerweise hat sich dieses Verständnis von Verantwortung, ungeachtet aller Debatten und Gespräche, bis heute in Deutschland nicht durchgesetzt und man kann nur hoffen, dass sich das ändert.   

Das heißt, man kann sagen, Deutschland steht auch der Ukraine gegenüber in der Pflicht…

Völkermord muss verhindert werden! Das ist Pflicht. Rechtliche Pflicht. Moralische Pflicht. Und historische Pflicht für Deutschland. Und in der Ukraine kommt noch die historische Sondersituation dazu. 

Mykola Borovyk, Jahrgang 1972, Dr. phil., Historiker, begann seine wissenschaftliche Karriere an der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Erinnerungsforschung, der Biografieforschung und der Oral History. In verschiedenen Projekten befasste sich er sich u.a. mit dem Zweiten Weltkrieg als zentrale Überlebenserfahrung der Ukrainer (2011-2014). Im Nachgang zu den revolutionären Geschehnissen in der Ukraine forschte Borovyk 2013/2014 zu "Mechanismen der Massenmobilisierung". Seit 2015 lebt und arbeitet er in Deutschland, war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien und als Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der LMU München tätig. Seit 2020 ist er mit der Konzeption der Gedenkstätte Konzentrationslager Sachsenburg betraut. Das KZ in der Nähe von Chemnitz ist eines der ersten, das die Nazis in Deutschland errichteten. Von 1933 bis zur Schließung 1937 wurden dort etwa 10.000 Menschen interniert - vor allem politische Gegner des Regimes wie Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten