Was Aminata Touré als erste afrodeutsche Ministerin für die Politik, ist Sharon Dodua Otoo für den deutschen Literaturbetrieb – die Avantgarde eines Schwarzen Feminismus, dem es um Teilhabe und mehr Diversität in der Gesellschaft geht. Als Aktivistin glasklar im Ton, zeigt sich die Bachmann-Preisträgerin in ihren erzählerischen Stücken von ihrer verletzlichen Seite – mit einer Prosa, die sensibel auf deutsche Befindlichkeiten reagiert. Ein Interview

0941mag: Frau Otoo, Deutschland sieht sich gern als wertebasierte Gesellschaft. Was könnten das für Werte sein?

Sharon Dodua Otoo: Demokratie zum Beispiel. Dass Deutschland ein demokratisches Land ist. Dass es hier Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit gibt, solche Sachen. Und ich glaube, die meisten Menschen würden sagen, dass es fair ist: Sie gehen davon aus, dass in Deutschland alles mit rechten Dingen zugeht. Dass es entweder gar keine oder wenn, dann nur wenig Korruption gibt …

… was bekanntlich nicht stimmt. Aber wir schauen auch sonst ganz gern mal weg, etwa bei dem Thema Antisemitismus.

Das ist so, ja. 

Wir haben ein Rassismus-Problem, das sich zum Beispiel am komplett unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine und denen aus dem globalen Süden zeigt – oder wenn Schwarzen Kindern von Mitschüler*innen Radiergummis angeboten werden, damit sie sich das Gesicht sauber rubbeln können.

Ja, das sehen viele aber nicht! Ich hatte neulich nach einer Lesung ein Gespräch mit einer Frau, einer weißen Frau, und die war konsterniert: In Deutschland liefe doch so viel so gut! Warum die Menschen, die hierher kommen, dann trotzdem so unzufrieden seien, trotz der Großzügigkeit, die man ihnen entgegen bringt – wie 2015, als die Geflüchteten aus Syrien mit Kuscheltieren empfangen wurden? Ich habe ihr gesagt, dass ich nachvollziehen kann, wenn sie das frustriert. Allerdings sei ihr Blick eben die Sicht einer privilegierten Person, die keine Diskriminierung erlebt. Die Frau lebt ihren Alltag und fühlt sich gut dabei. Aber wenn wir das ernst meinen, dass wir Antisemitismus begegnen wollen, dass wir Rassismus begegnen wollen, dann müssen die Menschen, die davon persönlich nicht betroffen sind, erst mal bereit sein, sich damit auseinander zu setzen. Und das bedeutet Arbeit! Viel Arbeit. Schwere Arbeit. Denn es ist eher unschön, wenn ich merke: Oh, ich habe jahrelang oder ein Leben lang von einem System profitiert, das andere Menschen genau da diskriminiert, wo es mich bevorzugt. Also, zum Beispiel: Ich bin eine heterosexuelle Frau und wenn ich heiraten wollte oder ein Kind adoptieren, war das nie ein Problem. Anders bei gleichgeschlechtlichen Beziehungen: Dafür wären Schwule vor nicht allzu langer Zeit noch im Knast gelandet. Heiraten ging gar nicht. Und die Adoption eines Kindes ist bis heute für Lesben in gleichgeschlechtlichen Ehen juristisch mit Hürden verbunden. Das macht etwas mit Menschen! Aber wir sind es nicht gewöhnt, über Privilegien nachzudenken. Wir sind es gewöhnt, traurig und betroffen zu sein, wenn eine Person von so einer Radiergummi-Geschichte berichtet – und gehen ansonsten mit einem „Alles ist gut“-Gefühl durchs Leben.

Es ist aber nicht alles gut: Wir haben zum Beispiel auch ein Problem mit Gewalt, speziell mit Gewalt gegen Frauen. Jeden dritten Tag kommt es in Deutschland zu einem Femizid.

Ich weiß, denn ich folge auf Twitter Rechtsanwält*innen, meistens Frauen, die sich damit befassen. Hätten wir diese Quellen nicht, würden viele Nichtbetroffene vermutlich davon ausgehen, dass es so was in Deutschland nicht gibt und wenn doch, dass es sich um ein importiertes Problem handelt – dass es „diese muslimischen Männer“ sind, die solche Dinge tun, Ehrenmorde begehen usw. Die Unkenntnis in dem Bereich ist schockierend!

Was dagegen viele merken, ist, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, wie das die Gesellschaft in Deutschland spaltet und wie diese Gesellschaft sich dadurch entsolidarisiert.

Ich würde dem zustimmen, bei dem Wenigen, was ich davon begreife, dass die Reichen reicher werden und dass es denen, die weniger Geld haben, finanziell schlechter geht. Ich glaube auch, dass ich eine Entsolidarisierung beobachte. Ich frage mich aber: Wie kommt’s, dass wir jetzt darüber reden? Denn diese Herausforderungen sind nicht neu. Und meine These wäre: Weil Menschen, die sonst in der Regel nicht gehört werden oder keine Zugänge zu Medien haben, sich nun zunehmend eigene Räume schaffen, so dass wir viel mehr – aber immer noch nicht genug – aus diesen Perspektiven hören. Das erschüttert dann die Menschen, die es gewöhnt sind, business as usual zu machen, und erzeugt dieses Grundrauschen von „Früher-war-alles-besser“. Aber das finde ich eher positiv – positiv ist ein komischer Begriff in diesem Zusammenhang – denn eine Gesellschaft, in der Widersprüche deutlich und Konfliktlinien sichtbar werden, kann ihre Probleme auch besser adressieren. Solange wir das Gefühl haben, es ist alles harmonisch, wir sind alle gleich etc., kann was nicht stimmen. Das ist eher mein Gefühl …

Mit dieser Art Sensibilität macht man sich aber nicht nur Freunde – wenn man nur mal guckt, wie allergisch vor allem ältere, weiße cis-Männer auf woke Personen und Verhaltensweisen reagieren. Wie da ein Kulturkampf auf Biegen und Brechen, mit aller Macht herbei geredet werden soll. 

Ich finde’ das so ridiculous, sorry! Woke heißt ja eigentlich: Anstand. Oder wie Noah Sow, die Aktivistin und Autorin, es in ihrem Buch („Deutschland Schwarz Weiß“) beschreibt: Wenn man ein Klavier auf meinem Fuß abstellt, tut das erst mal weh und es ist relativ egal, ob das absichtlich passiert ist oder nicht. Ich werde losschreien. Fluchen. Vielleicht wird’s hässlich, ja. Aber genau darum geht’s: Es geht darum, dass ich Schmerzen habe. Die Person, die das Klavier abgestellt hat, kann versuchen, es wegzunehmen – das Problem ist dann zwar nicht aus der Welt, mein Fuß ist immer noch kaputt. Aber es wäre ein erster Schritt. Genauso laufen im Moment die Diskussionen um political correctness, cancel culture etc. Viele Menschen stellen dauernd irgendwelche Klaviere auf den Füßen anderer ab – und beschweren sich dann, dass die schreien. Das finde ich enttäuschend. Wenn ich Ihnen hier jetzt meinen Kakao über die Hose schütte, würde ich mich entschuldigen – und nicht fragen, warum Sie sich aufregen. So verhält man sich in solchen Situation. Nur, wenn’s um Diskriminierung geht, offenbar nicht.

Warum?

Ich denke, dass sich hinter der Aversion gegen Wokeness vor allem Angst verbirgt: die Angst, dass Menschen, die marginalisiert sind, tatsächlich recht haben könnten. Und sie haben ja auch Recht! Es ist scheiße, diskriminiert zu werden! Wie lange haben zum Beispiel Schwarze Menschen versucht, freundlich darauf hinzuweisen: „Eigentlich ist das nicht wirklich cool, eigentlich möchten wir nicht mit Tierarten verglichen werden, Afrika ist nicht ein Land …“ Jetzt ist es soweit, dass Schwarze Menschen eigene TV-Sendungen haben, eigene Bücher schreiben, Journalist*innen sind, mit eigenen Kolumnen, mit anderen Worten: Sie müssen nicht mehr demütig und leise sein, sie können selbstbestimmt sagen: „Das geht nicht mehr, es reicht!“ Und ich verstehe, ehrlich gesagt, das Problem nicht recht. Ich verstehe nicht, warum einige Menschen der Meinung sind, dass etwas gefährdet ist, wenn andere Menschen sagen: „Das ist unsere Wahrnehmung der Situation und wir möchten, dass sich da was ändert.“ In einer Demokratie gehört dazu, dass dann beide Seiten darüber reden. Das können auch härtere Diskussionen werden. Aber wo ist das Problem?

Wir haben jetzt viel über Werte geredet. Wieviel schwerer ist es, dafür auch einzustehen?

Eine gute Frage. Momentan denke ich zum Beispiel oft darüber nach, wie ich mich verhalten würde, wenn ich im Iran leben würde. Würde ich selbst immer wieder auf die Straße gehen und demonstrieren? Ich weiß es nicht. Es wäre nicht ehrlich, zu sagen, „klar würde ich demonstrieren“ zu sagen, weil wer bin ich, um das zu behaupten? Ich habe nie in einer solchen Krisensituation gelebt. Das ist ein Riesenprivileg. Und ich bin froh, in Deutschland zu leben! Es klingt oft so, als würde ich Deutschland schlecht machen wollen, wenn ich wie eben von Diskriminierung rede. Aber eigentlich lebe ich gern hier. Ich genieße hier Privilegien, habe zum Beispiel einen deutschen Pass, und fühle mich deshalb mitverantwortlich für das, was in Deutschland passiert. Aus dieser Haltung heraus äußere ich mich – und damit ich hoffentlich nie in die Situation komme, dass ich um mein Leben fürchten muss, wenn ich sage, was ich heute sage. Aktuell kann ich hier frei und ohne Angst meine Meinung sagen. Das wird vielleicht nicht immer so sein. Aber damit das nicht eintritt, muss ich jetzt reden und möglichst lange und möglichst viele andere Leute dazu holen. Das nehme ich sehr ernst. 

Das glaube ich und ich setz’ da auch auf Sie …

… das ist schön (lacht)!

Überrascht? 

Ja! Aber das hat mehr mit mir selbst zu tun. Damit, dass ich mich immer noch nicht wirklich auseinandergesetzt habe mit meiner Außenwirkung. Ich weiß, wer ich bin, was ich in meinem kleinen Kreis so mache. Aber die Tatsache, dass ich eine öffentliche Person bin, dass zum Beispiel „Adas Raum“, mein Roman, über 30.000mal verkauft worden ist, das sprengt für mich – immer noch – den Rahmen. Es ist aber eine Sache, der ich mich stellen muss, die ich mir bewusst machen muss. Denn damit habe ich auch eine gewisse Macht, mit der man verantwortungsvoll umgehen muss.

„Dass ich eine öffentliche Person bin, ist eine Sache, der ich mich stellen muss“ / © Stadt Regensburg, Christian Kaister

Im Roman dreht die Hauptfigur, Ada, Schleifen durch Raum und Zeit, durchs 15./19./20./21. Jahrhundert, von Westafrika nach London nach Deutschland. Vielleicht sollten wir an der Stelle sagen: Sie sind in Accra/Ghana geboren, in London aufgewachsen und leben seit 15 Jahren in Deutschland. Richtig?

Nicht ganz. Meine Eltern sind beide aus Accra, ich hab’ als Kleinkind eineinhalb Jahre dort gelebt, aber geboren bin ich in London, wo ich auch aufgewachsen bin und gelebt habe, bis ich 18 war. Es gab dann eine Zeit, in der ich zwischen Berlin und Brighton ein paar Mal hin- und hergezogen bin. Anfangs habe ich in Brighton gelebt. Seit 2006 lebe ich nun fest in Berlin und habe seit ein paar Jahren neben dem britischen auch einen deutschen Pass.

In „Adas Raum“ arbeiten Sie sich an diesen drei Welten auf eine Weise ab, dass alles, was ihrer weiblichen Protagonistin passiert, beinah physisch erlebbar wird. Wie machen Sie das?

Das Kraft dazu musste ich immer wieder neu aufbauen. Ich habe über fünf Jahre an dem Roman gearbeitet. Es gab große Pausen dazwischen. In der Regel habe ich ein Kapitel geschrieben und danach wieder eine Pause eingelegt, mich ausgeruht. Der Grund? Dieses Buch war mir wichtig. Mir kam es darauf an, dass die Geschichten der Frauen darin als Teil der deutschsprachigen Literatur zählen. Oft ist Literatur in Deutschland ja aus einer männlichen Perspektive geschrieben und das macht etwas mit den Lesenden: In ihrer Vorstellung werden Romanfiguren zu echten Personen, zu Held*innen oder Schablonen davon, wie wir sein sollten. Und das, was nicht stattfindet in der Literatur, existiert nicht oder es ist minderwertig, nicht erwähnenswert. In diesem Zusammenhang denke ich gerade viel über geflüchtete Personen nach, Menschen, zumeist Schwarze Männer aus afrikanischen Ländern, von denen so viele an den EU-Außengrenzen ertrinken. Wie wäre es, wenn diese Männer Romane schreiben würden? Was würde das mit unserem Bild von diesen Männern machen? Würde dieses Bild anders aussehen als die Bilder von erschöpften oder toten Männern, von Schwarzen, die von der Polizei aufgegriffen und verhaftet werden, wie wir sie in den Medien sehen? Ich denke, es könnte Leben retten! Und deswegen war es mir auch so wichtig, dass diese Frauen in „Adas Raum“ stattfinden. Weil sie es wert sind, dass ihre Geschichten erzählt werden.

Es ist schmerzhaft, dieses Buch zu lesen. Ging Ihnen das Schreiben auch so?

Definitiv, ja! Ich will natürlich niemandem Schmerzen bereiten, aber wenn Sie das so sagen, ist es gut, dann ist es etwas, was ich mir vorgenommen habe. Ich wollte nicht didaktisch werden mit der Literatur. Aber was ich schon wollte, war, Erfahrungen plastisch zu machen.

Das ist Ihnen schon ein paar Mal geglückt, zum Beispiel mit der Geschichte „Herr Gröttrup setzt sich hin“, mit der Sie 2016 in Klagenfurt den Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen haben. Dieses Stück ist so beklemmend! Mein Eindruck war: Hier bringt jemand auf 27 (!) Seiten den gesamten Walser der Wirtschaftswunderjahre in Deutschland auf den Punkt, die Zwangsneurosen einer extrem kontrollierten, auf Verdrängung programmierten Gesellschaft. Isn’t it?

„Herr Gröttrup“ sind zwei Personen. Der echte Gröttrup, Jahrgang 1916, ist in den 80er-Jahren gestorben. Er war als Raketeningenieur maßgeblich an der Entwicklung der Nazi-Vergeltungswaffe V2 beteiligt und hat die Zeit durchlebt, von der Sie gesprochen haben. Mein literarischer Gröttrup lebt bis in die 90er-Jahre und das war auch ein bisschen Absicht, denn ich wollte keine Abhandlung über die historische Figur schreiben. Ich habe das nur an ihn angelehnt und ein bisschen weitergesponnen. Ich habe nicht recherchiert, wie der wirklich war, nur versucht, mir vorzustellen, wie er gewesen sein könnte – mit diesem lückenlosen Lebenslauf, den Manieren, mit der unerschütterlichen Überzeugung, wenn man alles richtig macht, kommt auch das richtige Ergebnis dabei heraus. Ich wollte das ein bisschen erschüttern. Denn manchmal läuft das Leben nicht so wie geplant. Und dann? Was macht man dann?  

„Adas Raum“, der ihrem Roman den Namen gegeben hat, ist ein Bordell-Zimmer im Nazi-Konzentrationslager Dora, in dem weibliche Häftlinge den Männern für die Triebabfuhr zur Verfügung stehen müssen. Sie brechen damit das Tabu, wonach sich die Beschreibung von Gewalt im Holocaust wegen der Monströsität der Verbrechen verbietet.

Ja, Adorno: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich“…

Was haben Sie sich dabei gedacht?

It’s a very good question … was ich jetzt sage, ist eine Idee, die ich habe, seitdem ich immer wieder über „Adas Raum“ rede. Es ist vielleicht nicht unbedingt richtig und es ist nicht so, dass ich denke, alle sollten es so machen wie ich. Es ist mehr eine Auseinandersetzung mit der Position, aus der ich erzähle. Mein Blick auf deutsche Geschichte, Shoah, Holocaust ist einer aus britischer Perspektive. Ich habe das irgendwann in der Schule gelernt, aber unter der Überschrift: „Wir waren die Guten!“ Wir haben gewonnen!“ Whatever. Das ist emotional nicht so belastend als wie wenn Jugendliche in Deutschland mit diesem Teil deutscher Geschichte konfrontiert werden. Einerseits hatte ich deshalb eine große gewisse Distanz zu dem Thema. Andererseits wusste ich als Person, die Rassismus erfährt: Wenn es jemals wieder staatlich-angeordneten Faschismus in dem Land, in dem ich lebe, geben sollte – es könnte auch in England sein –  dann werde ich auch nicht sicher sein. Das hat mir einen gewissen Zugang zu dem Thema verschafft. Und ich habe meine Hausaufgaben gemacht, während ich an „Adas Raum“ geschrieben habe und auch am „Gröttrup“-Text.

Otoo liest „Gröttrup“: „Die Hausaufgaben gemacht“ / © Stadt Regensburg, Christian Kaister

Das heißt?

Ich habe mich viel damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, marginalisiert zu sein, was Privilegien sind. Ich bin der Frage nachgegangen: Was kann Kunst leisten? Was bedeutet es, etwas künstlerisch zu verarbeiten? Ich bin der Meinung – wie Brecht, glaube ich, mal gesagt hat – dass es dabei nicht darum geht, Sachen 1:1 abzubilden. Kunst ist nicht einfach ein Spiegelbild. Kunst transformiert, nimmt die Umstände und macht etwas damit. Kunst zeigt uns, wie Sachen sein können. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem, was passiert. Das nehme ich ernst. Als ich an „Gröttrup“ geschrieben habe, dachte ich erst, mein Roman würde viel mehr mit ihm zu tun haben. Ich bin dann zur Gedenkstätte Mittelbau- Dora gefahren, das KZ, in dem auch die V2 gebaut wurde. Und meine Frage ganz am Anfang war: Hat Gröttrup überhaupt gewusst, dass es dort versklavte Menschen gab, die in unterirdischen Stollen gearbeitet haben, um seine Rakete zu bauen? Das wollte ich rauskriegen. Und erst als ich da ankam, habe ich erfahren, dass es dort so was wie ein KZ-Bordell gab. Ich war erschüttert und dachte zunächst, das ist sicher ein Bordell für SS-Männer gewesen …

Es war aber eins für die Häftlinge.

Genau. Da war ich wieder erschüttert. Ich erfuhr, dass die Frauen im Bordell die meiste Zeit als „Asoziale“ eingestuft gewesen waren, mit der Folge, dass sie nach dem Krieg, als es darum ging, wer Entschädigung bekommt, ganz oft leer ausgegangen sind – sie waren ja „kriminell“ und damit, sozusagen, „zu Recht“ eingesperrt. Ich denke diese Frauen sind inzwischen alle tot. Zu ihren Lebzeiten war das Thema tabu. Sie haben selbst ungern über ihre Erfahrungen gesprochen und mit dem Label „asozial“ konnten sie auch keinerlei Entschuldigung bekommen. Eine größere Debatte hätte außerdem die Diskussion um Täter und Opfer noch einmal verkompliziert – insofern, als in Dora Gefangene von Gefangenen missbraucht wurden. Das verwischt alles. Und das wollte man nicht. Ich habe drei wissenschaftliche Texte zu dem Thema gefunden. Aber keine literarischen. „Adas Raum“ ist mein Versuch, diesen Frauen ein Denkmal zu setzen. 

Was auffällt im Roman, sind die Distanzierungstechniken und dissoziativen Muster, mit denen Ada versucht, die Übergriffe, denen sie ausgesetzt ist, auszublenden. Sie beamt sich weg, schaut von außen aufs Geschehen. Kann das als Überlebensstrategie funktionieren?

Ich glaube, viele machen das so. Viele Menschen, die krasse Gewalterfahrungen durchmachen, versuchen sich zu retten, indem sie dissoziieren. Und ich denke schon, dass es funktionieren kann, ja. 

Woher kommt eigentlich die Sprachlosigkeit der Männer in Ihren Büchern?

Das höre ich öfter. Ich glaube, ich habe mich einfach viel mehr mit meinen weiblichen Figuren beschäftigt. Es war mir ein Anliegen, mich auf sie einzulassen, auf die Lebenssituationen zu schauen, in denen sie stecken, in die sie geworfen werden. Männer? Waren halt auch da! Aber mein Hauptfokus lag auf den Frauen. Das ist die eine Sache. Die andere ist, dass die männlichen Figuren in meinem Roman und auch in den Erzählungen negativer rüberkommen als ich es eigentlich meinte. Ich werde an der Stelle aktivistischer gelesen, als es von mir gedacht war. Und die dritte Sache: Es gibt schon starke männliche Figuren in meinen Büchern wie den taubstummen Alfie in „Adas Raum“, der im revolutionären England von 1848 für die Unabhängigkeit Irlands vom Empire kämpft. Aber er fällt nicht so ins Gewicht. Das hat mich auch beschäftigt, warum das so ist …

Ihre Vita – als Wanderin zwischen den Welten, mit dem schnellen Erfolg als Autorin in Klagenfurt – liest sich wie ein modernes Märchen. War’s so? Und wenn nicht, wo sind die Brüche?

Für mich ist es ein Wunder! Bis Klagenfurt hatte ich zwar geschrieben. Ich hatte aber auch angestellt in Vollzeit gearbeitet und nebenbei meine aktivistischen Sachen gemacht. Ich war alleinerziehend mit drei Kindern, irgendwann mit vier – wobei mein Ältester  ausgezogen ist, als das jüngste Kind zur Welt kam. Anyway. Das war sehr schwer manchmal, vor allem finanziell. Und dann hatte ich plötzlich einen Buchvertrag und eine Agentur und es kamen Anfragen für Lesungen. Vor allem die Anerkennung, das große Interesse an meiner Arbeit, das hat etwas mit mir gemacht. Es war sehr schön, aber es gab auch Verluste. Ich bin, wie gesagt, zur öffentlichen Person geworden, und das hat Beziehungen verändert, manche sind auch daran kaputt gegangen, ja … aber insgesamt war es einfach sehr, sehr positiv. Ich nutze die Chance, die ich habe, um dazu beizutragen, dass weitere Personen auch Eingang finden in den Literaturbetrieb.

Sie sind eine gefragte, respektierte Schriftstellerin – und gehen als politische Aktivistin keinem Konflikt aus dem Weg. Beispiel: Ihr Beitrag zu der von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebenen, umstrittenen Essaysammlung „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Heimat steht darin für einen geschlossenen Kosmos, kein inklusives, sondern ein exklusives Deutschland, in dem eine homogene, mehrheitlich weiße Gesellschaft darüber entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht.  Was muss passieren, damit sich das ändert?

I don’t know! Nein. Was passieren muss, ist, denke ich, dass Menschen, die privilegiert sind in irgendeiner Hinsicht, mit sich ins Gericht gehen und sich fragen: Was bedeutet das? Ich habe einen EU-Pass, ich kann mich frei durch Europa bewegen, dafür müssen andere Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Was mache ich damit? Ich weiß das alles. Ich kann es ignorieren. Oder ich kann mich damit auseinandersetzen. Viele Menschen zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir in Deutschland diese „Heimat“ haben. Ich würde mir wünschen, dass das als fact erstmal zugelassen wird. Dass wir sagen: Ja, das stimmt. Denn dann wird es einfacher, darüber nachzudenken, wie man es ändern kann. Aber, klar, das ist nicht angenehm. Viele Leute haben Angst, den grausamen Tatsachen ins Auge zu schauen – und es kann einen ja auch überfordern: Man weiß, dass es immer noch diese Situation in der Ukraine gibt. Jetzt beobachten wir die Lage in Iran. Die Klimakrise. Corona geht nicht weg. Meine Antwort ist: Einfach irgendwo anfangen! Es ist ein Prozess. Es ist nichts, was irgendwann abgeschlossen sein wird. Das ist auch etwas, was privilegierte Menschen vielleicht erst lernen müssen: Dass es keinen Anspruch auf Klarheit gibt. Dass die Dinge nicht immer eindeutig sind, dass wir manchmal auch mit Widersprüchen leben müssen. 

Role Model Touré, Otoo: „Ich würde gern was zu Aminata Touré sagen …“ / ©Vogue

Frauen wie Aminata Touré, die erste afrodeutsche Ministerin in der Geschichte der Bundesrepublik, werden bei uns als Role Model einer modernen, aufgeklärten, diversen Gesellschaft im 21.Jahrhundert gefeiert. Das ist die andere Seite dieses Landes – eine Sehnsucht nach Aufbruch. Spüren Sie die auch?

Ich würde gern was zu Aminata Touré sagen! Ich schaue’ ja immer wieder auch nach England, wo es einen Rishi Sunak gibt, eine Priti Patel, einen Kwasi Kwarteng, Menschen, die Schwarz sind oder Of Colour, der erste dies, die erste das. Aber was bedeutet das schon? Margret Thatcher war Englands erste weibliche Premierministerin, toll, ja, aber sie hat eine Scheißpolitik für Frauen gemacht! Aminata Touré ist anders. Sie ist nicht einfach nur vom Erscheinungsbild her Schwarz. Sie bringt auch eine Schwarze, feministische Haltung in ihre Arbeit mit ein und das finde ich sehr, sehr besonders. Es macht mir Hoffnung. Ich glaube, auch meine Arbeit im Literaturbetrieb  hat mit dieser Haltung zu tun – die man auch einnehmen kann, wenn man nicht Schwarz ist. Ein Beispiel ist das Literaturfestival „Resonanzen“, das ich 2022 mit Olaf Kröck, dem Intendanten der Ruhrfestspiele, entwickelt und mit organisiert habe. Unser Ansatz war es, Traditionen, Einflüsse und Bezüge von Autor*:innen der afrikanischen Diaspora in der deutschsprachigen Literatur wahrnehmbar zu machen. Das war super wichtig, dass es das gab! Und ich meine zu merken, dass damit ein Prozess angestoßen worden ist. Dass das weiter geht und sich weiter dreht, ja. 

Aminata Touré sagt: „Wir können mehr sein“, so der Titel ihres 2021 erschienenen Buchs, das sie als Aufruf an junge, diverse Menschen versteht, „in die demokratischen Institutionen zu gehen, um unser Zusammenleben zu gestalten und eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen“.

Das ist ihr Ziel, ja, sie arbeitet in der Politik, sie möchte Menschen in die Politik rein holen. Ich arbeite im Literaturbetrieb und möchte Menschen in den Literaturbetrieb holen. Also, es wird nicht den einen Weg geben. Es wird Menschen geben, die von all dem gar nichts wissen und an den grassroots arbeiten wollen. Alle sind herausgefordert, ihren Ansatz zu finden und dem zu folgen!

Sharon Dodua Otoo, geboren 1972 in London, schreibt Prosa und Essays und ist Herausgeberin der englischsprachigen Buchreihe "witnessed" (edition assemblage) mit fiktionalen und nichtfiktionalen Arbeiten von Autor:innen der afrikanischen Diaspora, die in Deutschland leben (oder gelebt haben) und in englischsprachigen Ländern lebten (oder leben) und beschreiben, wie es ist, in Deutschland Schwarz zu sein. Otoos erste Novellen "die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle" und "Synchronicity" erschienen zuletzt 2017 im S.Fischer Verlag. Mit dem Text "Herr Gröttrup setzt sich hin" gewann sie 2016 den Ingeborg Bachmann-Preis. 2020 hielt sie die Klagenfurter Rede "Dürfen Schwarze Blumen malen?" Politisch aktiv ist Otoo bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V., Phoenix e.V. und ist verbunden mit dem Schwarzen queer-feministischen Verein ADEFRA. Ihr erster Roman "Adas Raum" erschien 2021 bei S.Fischer. Otoo lebt mit ihrer Familie in Berlin