Die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Kerstin Thost plädiert für einen neuen, sexpositiven Feminismus. Sie prägt mit anderen Aktivist:innen den Diskurs im Sluttalk, dem „feministischen Podcast für Liebe, Sex und Widerstand“. Mit uns spricht sie über internalisierte Diskriminierung und feministische Außenpolitik, den perfekten Beach/Bitch Body – und warum sie Alice Schwarzer nicht in den Sluttalk einladen würde

0941mag: Kerstin, ein Thema, das dich momentan sehr beschäftigt, ist die internalisierte Diskriminierung. Warum?

Ich glaube, dass wir die Antworten auf unsere Fragen ganz oft im Außen und in den großen Weltproblemen suchen. Mich als Aktivistin zum Beispiel bewegt am meisten die Frage, wie ich etwas verändern kann und ich hab’ mich deshalb auch schon wirklich viel politisch auseinandergesetzt. Doch dann ist mir vor Kurzem in persönlichen Beziehungen klar geworden, dass ganz viel vom Großen auch im Kleinen steckt. Und dass man am besten bei sich selbst anfängt, wenn man etwas ändern will.

Worüber reden wir, wenn wir über internalisierte Diskriminierung reden?

Der Begriff hat sich für mich auch erst abstrakt angehört! Aber wenn man sich die Verhältnisse mal unter machtkritischen Gesichtspunkten anschaut, stößt man auf eine Vielzahl von Diskriminierungen. Es gibt Queerfeindlichkeit und Sexismus, von denen ich persönlich betroffen bin und gegen die ich mich auch einsetze. Es gibt Rassismus, Ableismus, also die Diskriminierung von behinderten Personen, und andere mehr. Internalisierte Diskriminierung wird daraus, wenn man merkt, dass einem diese Muster, die man im Außen hinterfragen und vielleicht sogar bekämpfen möchte, selbst so tief anerzogen worden sind, dass man sie auch auf sich anwendet: Man macht sich selber runter und steckt sich genau in die Schubladen, von denen man überzeugt ist, dass sie abgeschafft gehören.

Dein Fachgebiet ist der Feminismus. Macht es Sinn, ist es legitim, das Problem der internalisierten Diskriminierung „nur“ aus der feministischen Perspektive zu betrachten?

Auf keinen Fall! Das habe ich ja eben schon versucht, anzusprechen. Auch schwarze Feministinnen kämpfen mit internalisierter Diskriminierung, um nur mal ein Beispiel zu nennen. Mein Ansatz ist generell intersektional. Das heißt: Das Ziel muss sein, möglichst viele Formen von Diskriminierung gleichzeitig aufzulösen. Mein Thema, mit dem ich mich schwerpunktmäßig befasse, ist der Feminismus – weil es mich mit meiner Ausgangsposition besonders betrifft. Aber im Fall von Diskriminierung spielen beispielsweise auch Fragen wie Klimagerechtigkeit oder Klassismus mit herein. Das alles ist für mich eine große Bewegung für soziale Gerechtigkeit, die irgendwie zusammenarbeiten muss.

Als ich vor unserem Gespräch über internalisierte Diskriminierung nachgedacht habe, sind mir als erstes die traumatisierten Frauen eingefallen, die es auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine in den Westen geschafft haben – und hier direkt in die Arme von Menschenhändlern, Verbrechern und anderen Irren laufen, die ihnen ihre „Hilfe“ anbieten. Was meinst du, löst das in diesen Frauen aus, von denen die meisten ja schon vorher die unterschiedlichsten Gewalterfahrungen gemacht haben?

Also, ich möchte mir auf keinen Fall anmaßen zu wissen, wie es diesen Personen wirklich geht! Ich befinde mich da wirklich in einer sehr privilegierten Position. Ich kann mir aber aus eigenem Erleben vorstellen, wie es ist, wenn man schon mal … ich nenn das jetzt möglichst neutral „schlechte Erfahrungen“ mit Gewalt gemacht hat. Wenn sich das häuft, kann das in zwei Richtungen umschlagen. Entweder man denkt: Ich muss jetzt erst recht was machen, fühlt sich aber vielleicht machtlos, weil man in dem Moment einfach nicht die Ressourcen, die Zeit und die Kapazitäten, auch nicht die mentalen, hat, um aktivistisch etwas auszulösen. Oder man empfindet es als weitere Bestätigung im Außen, dass ich nicht so viel wert bin, dass mir Menschenrechte oder Gerechtigkeit nicht zustehen – psychologisch gesehen gibt es ja tatsächlich so etwas wie Gewöhnung an Gewalt. In solchen Fällen muss man oft erst Namen finden, um das Ganze überhaupt als Gewalt anzuerkennen. Solang man das nicht kann, solang man das System dahinter nicht sieht, kann es eben sein, dass ich denke: Ich bin ja eh ne Frau, ich bin ja eh selbst schuld, ich hab’ mich falsch verhalten. Genau so funktioniert internalisierte Diskriminierung.

Das Sich-Bewusstwerden auf der kognitiven Ebene ist der Weg, um aus dieser Dynamik wieder herauszukommen?

Ja, ich glaube, dass ganz viele Personen, die Gewalt erfahren, sich alleine fühlen. Sie denken, sowas passiert nur ihnen. Aber wenn sie dann sehen, es gibt Konzepte, die Leute schon ausgearbeitet haben, es gibt ein Wort, einen Namen für das, was ihnen zugestoßen ist, dann gibt ihnen das schon mal eine Stimme. Es versetzt sie in die Lage, das Unsagbare auszusprechen – und das hat etwas total Empowerndes, das kann ich aus meiner politischen Praxis bestätigen. Wenn man das Problem benennen kann, kann man auch die Kräfte mobilisieren, die notwendig sind, um etwas dagegen zu tun.

Und wenn es patriarchalische Strukturen sind, die Gewalt ermöglichen? Wie kommen wir dagegen an?

Du willst wissen, ob ich glaube, dass wir das Patriarchat ändern können? Also, ich brauche diese Hoffnung! Und wir haben ja auch schon Sachen erreicht: Wir haben das Frauenwahlrecht. Wir haben die Ehe für alle. Es ist noch lange nicht alles gut, aber wir befinden uns da, denke ich, in einem kollektiven Prozess. Allein schon, dass wir jetzt hier im Interview von „Patriarchat“ reden können und viele Leute wissen, was damit gemeint ist, ist eine Entwicklung der letzten 50 Jahre. Da hat sich rasant was getan. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, wie man diese Entwicklung durch persönliches Engagement noch schneller machen kann und wo man damit anfängt. Wir haben viel geschafft, ja, aber für weiße, privilegierte Frauen in Europa! Was vielen Feminismen hier fehlt, ist der Weitblick, die globale Perspektive.

Du selbst engagierst dich seit 2020 in der Münchner Initiative Slutwalk. Worum geht es euch konkret?

Eigentlich geht es genau um das, worüber wir gesprochen haben: Wir wollen Opfern eine Stimme geben. Wir wollen Personen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind, zeigen, dass sie nicht allein sind, dass man was dagegen tun kann und dass sie niemals selber schuld sind. Das ist so unser Hauptslogan: Das Opfer ist niemals schuld! Es geht nicht darum, wie du angezogen warst. Du kann auch in der sexuellen Interaktion, der du zugestimmt hast, jederzeit Nein sagen, ich will das nicht mehr, und dann sollte die andere Person das respektieren. Tut sie es nicht, ist es sexuelle Gewalt. Das ist unser Hauptthema.

„Laut auf der Straße sein“: Aktivistin Thost (l.) auf einer Demo 2021 in München /Foto: Imago, Lindenthaler

Slutwalk München hat seit 2019 auch einen eigenen Podcast: den Sluttalk. Was ist die Idee dahinter?

Die Idee ist, die abstrakten Konzepte, das feministische Vokabular, das schon auch einschüchternd wirken kann, wenn sich jemand das erste Mal damit befasst, auf eine persönliche Ebene herunter zu brechen. Das heißt: Wir sprechen über persönliche Erfahrungen und über politische Begriffe und Statistiken. Wir zeigen den Leuten, dass ihre Geschichte zählt. Und auch, dass es eigentlich nichts gibt, wofür man sich schämen muss.

Wie ist das Feedback – und wie geht ihr mit Hatern um?

Das Feedback auf den Sluttalk ist tatsächlich sehr positiv, da haben wir noch nie Hassnachrichten bekommen, auch nicht auf LORA, dem freien Münchner Bürgerradio, wo unser Sluttalk einmal im Monat läuft. Der Podcast hat vor allem aktivierende Wirkung, das merkt man besonders im Vorfeld von Demos. Mit Hate haben wir vor allem auf Instagram zu tun, der Social Media-Plattform, die wir hauptsächlich bespielen. Da gibt’s immer wieder Kommentare, die nicht als Diskussionseinladung verstanden werden können, sondern nur als Beleidigung oder eben Hate. Einmal haben wir deswegen auch schon einen Beitrag gelöscht, weil wir den Hashtag Feminismus verwendet haben und so in eine Gruppe geraten sind, wo wir innerhalb von einer halben Stunde 100 Hasskommentare hatten. Ich war selbst in diesem Video zu sehen und ich hatte keine Lust, mir das gefallen zu lassen. Deshalb hab ich mich entschieden, das Video zu löschen. Grundsätzlich diskutieren wir gerne. Man kann uns immer für Interviews und für Gespräche anfragen. Aber wir sind der Meinung, dass man produktive Gespräche nicht in Kommentarspalten führen kann, sondern von Person zu Person.

Du hast unter anderem eine Sluttalk-Folge zum Thema „Feministische Selfcare“ gemacht, in der es darum geht (Zitat) „wie man sich aktivistisch engagieren kann, ohne dass die eigene Psyche darunter leidet“. Das heißt, du hast selbst entsprechende Erfahrungen gemacht? Auch jenseits von Hate?

Es gibt ja den Begriff des aktivistischen Burn-outs und ich kann den komplett verstehen! Ich studiere. Aber ich engagiere mich auch in mehreren Projekten – ich schätze mal, mindestens 30 Stunden die Woche – und fühl mich da immer für sehr viel verantwortlich. Auch in den Gruppen. Wenn sonst niemand Kapazitäten hat, krieg’ ich das in meinem Stundenplan schon noch unter. Auf der anderen Seite glaube ich: Wenn wir uns eine solidarische Welt wünschen, wo jede Person so sein darf, wie sie ist, wo wir keine Diskriminierungen, keine toxischen Strukturen des Drucks und des Leistungsdrucks mehr haben, muss die Utopie schon in der Gruppe anfangen, bevor sie zur gesellschaftlichen Realität wird. Ich muss also klar reflektieren: Wo sind meine Grenzen, meine zeitlichen und auch die emotionalen Grenzen, weil mit manchen Themen möchte ich mich auch nicht auseinandersetzen oder mich interviewen lassen, weil die mir vielleicht zu nahe gehen. Deshalb reden wir im Slutwalk auch viel und gern über mentale Gesundheit. Dass wir uns da gegenseitig unterstützen, wenn das Leben eines anderen gerade akuter ist. Dass man sich dann nicht für diesen Aktivismus ausbremst, was wahnsinnig schwierig ist, weil das Patriarchat schläft ja sozusagen auch nie. Gewalt schläft nie. Trotzdem muss man es in solchen Situationen auch mal gut sein lassen, denn es ist ja auch nicht nachhaltig, so viel zu machen, dass man dann nur ein, zwei Monate durchhält. Momentan leben wir, glaube ich, in einer Welt, wo wir entweder denken, wir müssen uns aufopfern für alle anderen, oder eben in der Gegenbewegung der Selfcare, wo es heißt: Ich bin das Wichtigste. Für mich sind beide Bewegungen nicht nachhaltig und auch nicht realistisch. Ich denke, es ist wichtig, Selfcare mit der Community Care und dem Aktivismus zu verbinden, Zeit zu haben, auch mal über sich nachzudenken – was ist mir gerade wichtig, wie geht’s mir gerade – um dann auch wieder richtig laut auf der Straße sein zu können.

„Selfcare mit der Community Care und dem Aktivismus verbinden“ / Foto: privat

Sluttalk ist laut Eigenwerbung ein „feministischer Podcast für Liebe, Sex und Widerstand“. Wo und wie positionierst du dich da?

Ich identifiziere mich als genderfluid und bisexuell und spreche im Podcast auch über meine Erfahrungen, aber tatsächlich nur auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Weil ich mich auch als Wissenschaftlerin begreife, ist meine persönliche Identität wichtig, wenn ich über meine Themen spreche. Trotzdem ziehe ich da tatsächlich auch ganz klare Grenzen und sage auch, wenn ich bei einem Thema nicht mitsprechen möchte. Was ich aber bei meinen Folgen, für die auch hauptverantwortlich bin, immer versuche mitzudenken und den Zuhörer:innen mitzugeben, ist ein konkreter Vo? rschlag, ein Denkanstoß oder Reflexionsfragen, wie man persönlich am besten mit dem Gehörten umgeht, denn feministischer Content ist manchmal so ein bisschen … ich möchte nicht sagen: mit der Brechstange, aber doch sehr drastisch formuliert. Das ist einerseits notwendig, um darauf aufmerksam machen, dass wir Probleme haben. Aber man muss da einen Mittelweg finden, dass Personen trotzdem noch das Gefühl haben, ich kann auch was ändern. Und nicht nur: “Es gibt so viel, wo ich eh nichts ändern kann.”

Ich hab’ mir vor unserem Gespräch ein paar Sluttalk-Folgen angehört und mein Eindruck war: Alice Schwarzer, die Urmutter des deutschen Feminismus, hätte wahrscheinlich wenig Spaß an diesem podcast – wenn ich etwa an lustvolle Beiträge wie „Wir wollen Porno“ denke oder auch an eure Feldforschungen „jenseits der binären Geschlechterordnung“ …

Also, ich könnte jetzt sehr lange und intensiv über Alice Schwarzer reden. Aber ich find’s manchmal ein bisschen schade, dass Feminismus in Deutschland immer noch so krass mit ihrer Person verbunden ist. Wissenschaftlich ordnet man den Feminismus ja immer bestimmten Wellen zu. Aktuell befinden wir uns in der dritten bzw. vierten Welle – und Alice Schwarzer gehört zur zweiten. Wir haben sehr unterschiedliche Ansichten, insbesondere was die Verbindung von Geschlechtsidentität und Biologie angeht, unter anderem weil sie ja trans* Personen nicht anerkennt, ändern möchte, als Gefahr wahrnimmt, und wenn man da jetzt nochmal große Begriffe dafür sucht, dann empfinden wir uns als Queerfeminist:innen und würden Alice Schwarzer als Differenzfeministin bezeichnen. Differenzfeminismus geht von zwei Gendern aus, geht auch von einem Patriarchat aus, wünscht sich aber auch ein bisschen die Umkehrung der Geschlechterverhältnisse und dass jetzt auch weiße Mittelklassefrauen endlich was vom Kuchen des Patriarchats abbekommen. Wir als Queerfeminist:innen dagegen sehen Gender als sozial konstruiert an und nicht als biologisch festgeschrieben. Wir sagen ganz klar: Personen haben das Geschlecht, mit dem sie sich identifizieren, da können wir biologisch gar nichts drüber sagen. Und wir haben auch einen sehr … sexpositiven Feminismus. Das ist, glaube ich, der Begriff, der es am besten trifft. Wir sagen, jede Person kann das machen, was sie möchte, mit so vielen und so wenigen Personen, wie sie möchte, wenn – und das ist wichtig und Konsens bei uns – alle einverstanden sind und das auch wollen. Dann ist für uns alles fein, sozusagen. Und bei Pornos … sehe ich auch, dass sie in ihrer Mehrzahl immer noch das heterosexuelle Patriarchat repräsentieren und versuchen, es medial aufrechtzuerhalten. Aber da gibt’s ja auch inzwischen zum Glück faire und andere Angebote, wo Darsteller:innen fair bezahlt werden, wo das Drehbuch anders ist. Weswegen man nicht gleich wie Alice Schwarzer das ganze Medium als solches verteufeln muss.

Würdest du Alice Schwarzer einladen in eine deiner Sendungen?

Nein! Ich diskutiere gern mit Personen, wenn davon auszugehen ist, dass die Diskussion produktiv sein wird. Viele Bücher und Diskussionsforen von Schwarzer haben aber gezeigt, dass mit ihr kein produktives Annähern möglich ist.

Im Sluttalk geht’s ab und zu auch um Männer, zum Beispiel um den „feministischen Mann“. Gibt’s den? Und wenn ja: Was qualifiziert mich zum feministischen Mann?

Es muss feministische Männer geben, weil cis-Männer ja was von ihren Privilegien abgeben müssen, damit eine feministische Veränderung überhaupt möglich ist! Insofern find’ ich die Frage immer ein bisschen absurd. Aber ich verstehe, woher sie kommt: Wir wurden alle im Patriarchat erzogen und Männer profitieren immer noch von den Strukturen, die es gibt. Aber das heißt ja nicht, dass sie einverstanden sind damit und dass sie diese Strukturen für immer aufrechterhalten wollen. Also, es gibt den feministischen Mann! Aber Feminismus ist auch so ein bisschen zum Hashtag geworden. Jede Person kann sich so nennen wie sie möchte und viele Männer bezeichnen sich aktiv als Feministen, um Frauen abzuschleppen. Es geht hier aber nicht um einen leeren Begriff, sondern um die Werte, die dahinter stehen. Zum Beispiel um Selbstreflexion: Auch ich als Frau habe ja das Patriarchat internalisiert, mache andere Frauen schlecht, mache mich selbst im Kopf schlecht – einfach, weil ich so erzogen wurde. Ich würde sagen: Jede Person, die sich selbst reflektieren möchte und für Menschenrechte ist, kann feministisch sein.

Auch „Männliche Opfer von sexueller und häuslicher Gewalt“ waren schon Thema im Sluttalk. Denkst du da auch gerade an Johnny Depp?

Ich kann und möchte mir nicht anmaßen zu wissen, was in der Ehe von Amber Heard und Johnny Depp wirklich passiert ist. Ich bin auch nicht Teil des Gerichts. Ich finde es nur bemerkenswert, wie hier die ganze Welt auf ein Ex-Paar schaut und versucht, irgendwelche allgemein gültigen Sachen draus zu ziehen. Für mich ist diese Partner:innenschaft ein Einzelfall. Aber natürlich hat der Fall auch eine strukturelle Ebene – die hier zum Beispiel darin besteht, dass Opfer häuslicher Gewalt sich nach diesem Urteil dreimal überlegen werden, ob sie an die Öffentlichkeit gehen. Ich kann nicht beurteilen, was Amber Heard und Johnny Depp sich gegenseitig angetan haben. Ich bin nur dafür, dass alle Täter:innen bestraft werden, dass eine gesellschaftliche Sensibilisierung dafür da ist, dass Opfer nicht ein bestimmtes Gender, nicht generell bestimmte Aussehen haben, sondern dass es Gewaltstrukturen auf allen Ebenen der Gesellschaft, in allen Identitäten gibt – und da arbeite ich dran, die abzubauen.

Tatsächlich geht die Gewalt in Beziehungen hauptsächlich von Männern aus, die meisten Opfer sind Frauen. Du kennst die Zahlen wahrscheinlich, sie sind in Deutschland von 2019 auf 2021 wieder gestiegen, von 115.000 auf 161.000 Fälle vollendeter oder versuchter gefährlicher Körperverletzung. Ein Trend, der scheinbar nicht zu stoppen ist

Ich hoffe sehr, dass man ihn stoppen kann! Und ich denke, man sollte zum Beispiel an den Schulen, in der Bildungsarbeit, viel früher darüber reden. Fakt ist: Es gibt diese Zahlen, sie sind traurige Realität, aber was ich nicht tun werde, ist, deswegen die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil. Ich empfinde diese Zahlen als eine Art negative Motivation. Und dass wir da als Feminist:innen auch wirklich was bewirken können, merken wir am Aufschrei in den Kommentaren und in den Communities auf Social Media, die sich aktiv als Antifeministen labeln. Ich sehe darin den Beweis, dass wir zu einer Gefahr für diese intoleranten Haltungen geworden sind. Und dass wir so präsent sind, dass sie jetzt das Gefühl haben, sie müssen dagegen eine Antihaltung einnehmen und eine Antibewegung starten.

In Spanien hat das Parlament gerade die Strafbarkeit sexueller Aggression in Beziehungen deutlich ausgeweitet. Dort gelten in Zukunft nicht mehr nur direkte Übergriffe, sondern bereits auch Belästigungen als sexuelle Gewalt. Und Schweigen gilt nicht als Zustimmung, wenn es darum geht, ob eine Handlung strafrechtlich verfolgt werden kann – weswegen die Spanier das neue Gesetz auch das „Nur Ja ist Ja-Gesetz“ nennen. Brauchen wir so etwas auch? Und hätte so ein Gesetz bei uns überhaupt eine Chance?

Es ist super, dass es dieses Gesetz jetzt in Spanien gibt! Ich persönlich wär auch vollkommen dafür, es überall einzuführen, allerdings habe ich auch das Gefühl, dass mit solchen Gesetzesänderungen viel Symbolpolitik betrieben wird. Ich bin dafür, aber was ich nicht möchte, ist, dass wir dann wieder wie zuletzt in der Queerpolitik sagen: Wir haben ja jetzt dann die Ehe für alle, dann haben wir doch überhaupt keine Probleme mehr. Solche Bedenken hätte ich auch in diesem Fall, dass so ein Gesetz nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirken würde. Es gibt ja eine Petition für „Nur Ja ist Ja“ in Deutschland. Die hat nur viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Glaubst du, dass der Feminismus grundsätzlich das Potenzial hat, die Welt, wie sie ist, besser zu machen?

Ja, auf jeden Fall! Ich glaube, dass Queerfeminismus für jede einzelne Person – egal, wie privilegiert oder deprivilegiert sie ist – die Auflösung von Kategorien, von Machtstrukturen bewirken kann. Auch Männer dürften sich dann freier fühlen in ihrer Selbstentfaltung, müssten sich nicht mehr diesen toxischen Strukturen ergeben und, beispielsweise, der Alleinverdiener in der Familie sein, wo man ja statistisch sieht, dass dieser soziale Druck auch zu ner hohen Selbstmordrate bei Männern führt. Also, ich möchte jetzt nicht Feminismus Männern aktiv verkaufen oder schönreden müssen. Aber trotzdem glaube ich, dass jede Person davon profitieren wird, wenn wir unsere festgefahrenen Strategien und Strukturen aufweichen und revolutionieren.

„… auch Männer dürfen sich dann freier fühlen“: Kerstin Thost am Münchner Gärtnerplatz / Foto: privat

Apropos: Das Gebot einer feministischen Außenpolitik zum Beispiel hat es zuletzt sogar in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft. Was hältst du davon?

Ich find es wahnsinnig wichtig, auf jeder politischem Ebene Diskriminierungen mitzudenken. Ich habe aber Angst, dass wir uns dabei mit unserem Feminismus und unseren feministischen Werten verheben, dass wir uns über andere Kulturen hinwegsetzen und sagen: “Ja, hm, wir müssen erst mal schauen, dass auch in anderen Ländern Frauen mit am Tisch sitzen, wenn wir irgendwas verhandeln und wir in Deutschland haben da ja gar keine Probleme mehr.” Ich habe Angst, dass diese Verlagerung und dieser Fokus nicht nur Positives bewirken, sondern ihrerseits zu neuen Verstärkungen von Rassismus führen, während wir so tun als gäbe es hier kein Patriarchat mehr.

Was, meinst du, würde eine feministische Außenpolitik mit Blick auf den Ukraine-Krieg anders machen als die amtierende Ampel-Koalition?

Wenn die Frage darauf abzielt, ob feministische Außenpolitik konsequent antimilitaristisch ist …

… das würde mich interessieren, ja! Hanna Mühlenhoff vom Böll-Forum Neue Sicherheitspolitik zum Beispiel interpretiert feministische Außenpolitik so, dass es dabei um die Sicherheit von Menschen, nicht um die Sicherheit von Staaten geht. Das würde bedeuten: Keine Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine.

Ich sag’ mal, was mir auffällt in diesem Zusammenhang – nämlich, dass Menschen in Krisenzeiten dazu tendieren, auf gesellschaftliche Blueprints wie zum Beispiel Gendernormen zurückzufallen. Meine Forderung mit Blick auf die Ukraine wäre, sich konsequent dafür einzusetzen, dass die Personen kämpfen, die kämpfen wollen, und die, die nicht wollen, nicht. Dass es also beispielsweise nicht zur Diskriminierung von Transpersonen kommt. Die Entscheidung, ob die Lieferung schwerer Waffen feministisch sein kann, müssen dann tatsächlich die Entscheidungsträger:innen für sich treffen.

Lass uns zum Schluss noch über ein weniger düsteres, sommerliches Thema reden, den Beach-/Bitch-Body über den ihr neulich im Sluttalk gesprochen habt – und in welche Untiefen man da aus feministischer Sicht geraten kann. Was sind die Tücken?

Also, wir alle, die wir beim Podcast mitgeredet haben, haben bei uns festgestellt, dass patriarchale Schönheitsideale im Sommer noch mehr auf uns wirken: Weil man da tendenziell, von den Temperaturen her, zumindest die Chance hat, weniger anzuziehen. Weil es da dieses kulturelle Narrativ gibt, dass man besonders fit aussehen muss, durchtrainiert, aber nicht zu sehr, weil sonst ist man ja nicht mehr weiblich. Man darf sich im Sommer ausleben und anziehen, wie man möchte – was dann aber Personen als Einladung verstehen, wogegen wir uns als Slutwalk wehren. Eine andere Frage ist: Darf man sich als Feministin rasieren oder nicht? Wobei ich finde, dass es bei all diesen Themen kein Richtig und kein Falsch gibt, wie Körper auszusehen haben. Es gibt auch keinen feministischen Körper, der immer performt, der immer Sex hat, der immer schön ist und frei und unrasiert – ich glaube, da gibt’s auch viele neue Kategorien oder Stereotype, wo wir nicht drauf reinfallen sollten. Auch beim Thema Körper vertreten wir die Ansicht, dass wir uns mit uns selbst wohlfühlen müssen. Aber es ist auch klar. dass wir unseren Sommertag nicht auf dem Mars, ohne andere Menschen erleben. Dass es da Strukturen gibt, von denen wir beeinflusst werden.

Kerstin Thost, 23, ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Gender Studies. Sie studiert in München und macht gerade eine journalistische Ausbildung beim Münchner Lehrradiosender M94,5. Thost engagiert sich in verschiedenen aktivistischen Gruppen für intersektionale Gerechtigkeit - unter anderem beim Slutwalk, einer globalen feministischen Bewegung gegen das so genannte victim blaming, und digital bei "Yoga ist politisch". Sluttalk, der Podcast, läuft jeden vierten Donnerstag auf Radio LORA 92,4 - alle Folgen zum Nachhören auf slutwalk-muenchen.de sowie auf Youtube, Spotify und Co. Mehr von Kerstin gibt's unter empowern_statt_auspowern/ auf Instagram