Als tschechischer Autor hat man keine Wahl, sagt Vratislav Maňák. Wer wie er in einem Roman von Familie erzählt, kommt an der Politik nicht vorbei. Ein Gespräch über Geschichte und Gedächtnis, Macht und Ohnmacht des Einzelnen und den Wettbewerb zwischen autoritären Kräften und liberalen Demokratien speziell in Osteuropa

0941mag: Ihr Roman „Rubikova kostka“ ist 2016 in Tschechien erschienen und war 2017 für den Literaturpreis der EU nominiert. Trotzdem dauerte es noch einmal zwei Jahre bis zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe. Was war der Grund? 

Vratislav Maňák: Tschechische Bücher werden selten gleich nach  Erscheinen ins Deutsche übersetzt. In meinem Fall ging es sogar vergleichsweise schnell. Ich hatte Glück. Einfach Glück: Mein deutscher Verleger fand den Text interessant. Zusammen mit meiner Übersetzerin Lena Dorn konnte ich zügig mit der Arbeit an der deutschen Ausgabe beginnen. Dazu kam, dass die Tschechische Republik Hauptgastland der Leipziger Buchmesse 2019 war. Romane wie „Rubikova kostka“, in denen es vor allem um tschechische Geschichte und Kultur geht und die es sonst eher schwer haben, standen dort vier Tage lang im Fokus. Das war ein Superstart für mich. 

Kaum war das Buch da, kam Corona. Hatten Sie denn nach Leipzig noch Zeit und Gelegenheit, den Roman in Deutschland vorzustellen? 

Ach ja, Corona hat alles verkompliziert, die Präsentation des Buchs, Veranstaltungen und Lesungen. Aber ich hab’ versucht, mir eine optimistische Perspektive zu bewahren. Einerseits lebten wir alle im Lockdown und das war wirklich anstrengend. Andererseits entstand in dieser sozialen Ruhe ein einzigartiger Raum für Reflexion. Zum Überlegen. Es war ein guter Moment, um sich selbst zu hinterfragen. Und für konzentriertes Arbeiten. Ich konnte zwar meinen Roman nicht vorstellen, aber ich schaffte ein neues Buch, das im Januar erscheinen wird.

„Heute scheint es, als wäre nichts gewesen“, wie Ihr Roman bei uns heißt, ist eine Reise in die Vergangenheit. Der junge Ondrej, Lehrer an einem Gymnasium in Prag, kehrt über die Herbstferien heim nach Pilsen, um mit der Familie den 80. Geburtstag des Großvaters zu feiern. Doch die Idylle währt nur kurz. Erinnerungen kommen hoch, Risse werden sichtbar: Ondrej hat sich von seiner Freundin Marie getrennt und soll erklären, warum. Ein Versuch, alte Freunde zu kontaktieren, geht schief. Dann erfährt er auch noch, dass sein Vater fremdgegangen sein soll und angeblich gerade dabei ist, die Affäre wieder aufzunehmen. Stoff genug für einen Roman. Eigentlich. Sie wollten mehr?  

Ich brauchte mehr. Am Anfang stand die Idee eines Romans über Geschichte und Gedächtnis. Über die kleinen, privaten Geschichten, wie wir sie aus den Fotoalben unserer Familien kennen. Über Alltagsgeschichte. Dinge, wie sie jeder von uns in seinem persönlichen Gedächtnis abgespeichert hat. Daneben aber steht immer die große Geschichte – des öffentlichen Lebens, der politischen Entscheidungen -, die sich ins kollektive, historische Gedächtnis eingegraben hat und von der ich glaube, dass sie unser Verhalten entscheidend beeinflusst.

Ob wir wollen oder nicht?

Naja, bis 1989 ging die Geschichte in Eisenschuhen durch mitteleuropäische Wohnzimmer. Danach glaubten wir ein paar Jahre an das Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama es beschrieben hat. Aber spätestens mit dem 11. September 2001 sahen wir, dass das eine falsche und naive Vorstellung war. 2008 kam die Wirtschaftskrise, danach die Flüchtlingskrise, jetzt erleben wir die Coronakrise. Das alles ist Geschichte, oder? Aber es macht auch etwas mit uns. Ich hätte die persönliche Geschichte dieser Familie aus Pilsen in Westböhmen nicht schreiben können ohne gleichzeitig die Stadt- und Staatsgeschichte zu reflektieren. Aber ich fühlte mich auch herausgefordert oder sollte ich sagen: provoziert. 

Wodurch?

Durch eine Aussage des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera. Er schreibt in seinem Roman „Scherz“: „Alles wird vergessen und nichts wird wieder gutgemacht.“ Das ist so ein fatalistischer, kompromissloser Satz! Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Also habe ich mich gefragt: Was machen historische Ereignisse mit uns? Wie arbeiten wir mit Geschichte? Wie ändert sich unser Gedächtnis? Wollen wir über Geschichte reden oder lieber über sie lügen, um alles besser aussehen zu lassen? Wählen wir das Schweigen und das Vergessen? Diese Fragen habe ich mir gestellt. Und darum geht es auch im Roman. 

Wollten Sie von vornherein einen politischen Roman schreiben? Oder wurde Ihnen erst beim Schreiben klar, dass das Eine – die Familiengeschichte – nicht ohne das Andere – den politischen Impact – funktioniert?

Als tschechischer Schriftsteller hat man da keine Wahl. Es ist nicht möglich, eine Geschichte zu erzählen, die im Tschechien oder der Tschechoslowakei des 20. Jahrhunderts spielt, ohne über Politik zu sprechen. Was historisch ist, ist auch politisch – schon deshalb, weil jede herrschende Macht ihre Interpretation der Vergangenheit durchsetzt, erst recht mit Blick auf Ereignisse vor 1989. Damals war die Tschechoslowakei ein totalitärer Staat und wie in der ehemaligen DDR wurden die Bürger von der kommunistischen Partei überwacht – auch wenn junge Leute sich das heute nicht mehr vorstellen können. Im Roman konzentriere ich mich auf den antikommunistischen Aufstand der Škoda-Arbeiter aus den 1950er-Jahren …

Warum?

Erstens, weil es zur Familiengeschichte der Hauptfigur passt. Zweitens, und das ist wichtig, stelle ich den Leser damit vor die Frage: Wie siehst du die kommunistische Vergangenheit? Das ist historisch und politisch gemeint und richtet sich nicht nur an Leser in Tschechien, sondern aus dem gesamten ehemaligen Ostblock. Der Roman ist aber auch noch aus einem anderen Grund politisch. 

Nämlich?

Ich wollte den Arbeitern wieder eine Stimme geben! Sie waren das Lieblingsmotiv der offiziellen kommunistischen Literatur, wurden als tragende Säulen des Systems zu Helden stilisiert – und galten deswegen nach dem Regimewechsel als diskreditiert. In der tschechischen Literatur kommen sie nach 1989 praktisch nicht mehr vor und das finde ich paradox. Denn die tschechische Wirtschaft steht und fällt bis heute mit der Autoindustrie und mit den Leuten, die dort arbeiten. 

Wie waren die Reaktionen in Tschechien auf Ihr Buch?

Die tschechische Kunstjury nominierte den Roman für den EU-Literaturpreis und das Buch bekam auch den Bohumil-Polan-Preis. Die Kritiken waren gut. Der Anklang bei den Lesern weniger stark.  

Wie ist das Feedback in Deutschland?

Die Leute sind vor allem überrascht, dass es in Pilsen eine antikommunistische Revolte gegeben hat. Aber das haben auch viele Tschechen nicht gewusst.  

Ich hab’ mich auch ertappt gefühlt! Mir ist beim Lesen klar geworden, wie wenig ich als in der BRD sozialisierter Deutscher – und überzeugter Europäer – über Osteuropa und über Tschechien weiß. Was war da in Pilsen am 1. Juni 1953 genau los?

Als die Kommunistische Partei 1948 in der Tschechoslowakei an die Macht kam, war das Erste, was sie in Angriff nahm, der Umbau von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft mit Fokus auf Rüstung und Schwerindustrie. Die Probleme, die sich daraus für den Staatshaushalt ergaben, versuchte man mit einer Währungsreform zu lösen, aber der Umtauschkurs von der alten in die neue Währung war so ungünstig, dass die Menschen sich ausgeplündert fühlten. Vor allem die bis dahin sozial bevorzugten Arbeiter ärgerten sich. Um zu verstehen, was es heißt, die Pilsener Arbeiter gegen sich aufzubringen, muss man wissen, dass es in der Stadt seit k.u.k.-Zeiten eine starke Tradition des Maschinenbaus gab. Die Unterstützung für linksorientierte Parteien war hier immer stark, nur wählte man eben sozialdemokratisch und nicht kommunistisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt auch nicht von der Roten Armee, sondern von der US-Army befreit und die Beziehung zum Westen war hier persönlicher und authentischer als im Rest der Republik. Pilsen sei „die amerikanischste Stadt Europas“, sagte man damals, und nach der Währungsreform erwuchs daraus der Protest gegen die Regierung. Erst protestierten die Arbeiter noch aus wirtschaftlichen Gründen. Aber früh schon mischten sich auch antikommunistische und pro-demokratische Töne in den Protest. Eine Arbeiter-Rebellion wie diese erschien den kommunistischen Machthabern lange undenkbar – und wurde schnell unterdrückt. Aber die Bereitschaft zum Widerstand ist seit jeher Bestandteil des politischen Selbstverständnisses der Pilsener.

„Wir sind nicht die geborenen Revolutionäre, Veränderungen machen uns schnell müde“: Autor Maňák über den Widerspruchsgeist und das politische Temperament seiner tschechischen Landsleute / Foto: Jiří Michalec

Wenn es im Buch heißt, dass Großvater Jindrich seinem Enkel Ondrej den Pilsner Juni als Thema für dessen Diplomarbeit in Geschichtswissenschaften „regelrecht aufgezwungen“ habe, könnte man glauben, dass die Ereignisse von 1953 und die daran geknüpften Narrative die jungen Tschechen nicht mehr interessieren.

Das ist so. Ja. Es ist kein interessantes Thema mehr, kein Thema des Erinnerns. Trotzdem finde ich die Episode wichtig und ich habe sie ganz bewusst in den literarischen Raum zurückgeholt. Sie spielt im kleinen Rahmen, das heißt, man kann die Dynamik politischer Prozesse hier wie unterm Brennglas nachvollziehen. Für mich persönlich war es außerdem eine Gelegenheit, mich mit der Geschichte der Gegend auseinanderzusetzen, aus der ich komme – ich wuchs in der Kleinstadt Stříbro auf, ein paar Kilometer westlich von Pilsen.

An einer Stelle nimmt sich Großvater Jindrich die Freiheit darauf hinzuweisen, „dass diese Revolte schon vierzehn Tage vor dem Aufstand in Berlin ausbrach, den die Herren Historiker traditionell als ersten großen Protest überhaupt im gesamten Lager des Friedens bezeichnen“. War der Protest der Skoda-Arbeiter in Pilsen ein Katalysator für den 17. Juni 1953 in der DDR?

Nein, das kann man nicht sagen. Die Rebellion war nur ein lokales Ereignis ohne weitreichendere Konsequenzen. Die tschechoslowakische Armee griff ein. Und die Pressezensur sorgte dafür, dass darüber nicht groß berichtet wurde. 

Am Ende waren es 15.000 Menschen, die mit den Skoda-Arbeitern auf die Straße gegangen sind. Welche Bedeutung haben die Ereignisse von damals im Kontext mit anderen Bürgerbewegungen in der Tschechoslowakei und für Tschechien heute?

Keine. Das hat keinerlei Spuren hinterlassen. Und so traurig das ist, hier hat Kundera wohl Recht: Alles wird vergessen. 

In Ihrem Roman spiegeln sich 70 Jahre tschechoslowakischer und tschechischer Geschichte, die Ereignisse des Prager Frühlings von 1968 aber spielen darin so gut wie keine Rolle. Alexander Dubček, der als Generalsekretär der KPČ schon für Glasnost stand, als es den Begriff noch gar nicht gab, wird gar nicht erwähnt. Die Menschen, die sich den russischen Panzern entgegenstellten, nur am Rand. Warum?

Weil der Prager Frühling, der liberale Kurs in Politik und Gesellschaft, wie Dubček ihn verkörperte, Pilsen nicht erreichte. Die „Normalisierung“, das heißt die kommunistische Machtbefestigung, geschah in Westböhmen schon nach dem Juni 1953. Die Verfolgung Andersdenkender und die Überprüfung der Menschen auf ihre Loyalität dem System gegenüber fanden hier schon 15 Jahre früher statt – in einer einzigen Stadt. Davon wollte ich erzählen. Überhaupt …

Ja?

… ist das Jahr ’68 in Tschechien ein inflationistisches Thema. Eine konventionelle (Opfer-)Geschichte mit klarer Rollenverteilung: Hier die armen Tschechoslowaken, da die teuflische Sowjetunion. Ja, es war eine historische Tragödie. Die „Vernichtung der Zuversicht“, wie unsere Publizistik es meistens  beschreibt. Aber all das wissen die Tschechen. Das ist nichts Neues. Über den August 1968 zu schreiben, hieße nur unseren Komplex zu veredeln, wie klein wir waren, wie schwach, wie gut, wie brav. Fast wie ein Aschenbrödel. Nur, dass statt des Prinzen die Panzerwagen kamen. Entschuldigen Sie bitte die Ironie, aber solche Volksmythen – von den Tschechen als unbefleckte Tauben – sind sehr gefährlich. Sie bedienen nur völkische Stereotypen und dass das nichts bringt, sondern nur Konflikte schürt, kann man bis heute in ganz Mitteleuropa sehen.  

Auch die samtene Revolution von 1989 „mit all diesen Havels“ kommt im Roman nicht gut weg. „Sie hatte nur ein Ziel – das Kapital aus der Republik in den Westen abzuführen“, sagt ein von Ondrej befragter Zeitzeuge. Sehen das viele Tschechen so?  

Die Aussage ist sicher nicht repräsentativ und sie ist auch überspitzt. Aber ein markanter und sehr lauter Teil der Gesellschaft, der mit der Entwicklung nach 1989 nicht zufrieden ist, kann sich damit sicher identifizieren. Das ist so eine Tendenz gerade bei uns: Manche Leute, nennen wir sie die Verlierer der Globalisierung, sind frustriert von einer Welt, die unübersichtlich und fluid geworden ist, und sie geben dafür unserem ehemaligen Präsidenten Václav Havel und überhaupt der Systemwende die Schuld. Dahinter verbirgt sich aber nur die ewig gleiche Strategie, die damit argumentiert, dass früher alles besser war, der Himmel blauer, das Gras grüner. Also reine Sentimentalität. 

Selbst Karel Kryl, der von den Kommunisten zur Ausreise gezwungene Liedermacher, der am bestehenden System kein gutes Haar gelassen hatte, zog nach der 1989er-Revolution in einem seiner Songs enttäuscht Bilanz: „Nun gedeiht die Demokratie/ daran ist nur eines schlecht./ Die vorher schon hier klauten, die/ beklauen uns heut erst recht … Woher diese Enttäuschung?

Die Frage könnte ein Politologe oder Soziologe wahrscheinlich besser beantworten. Fakt ist: In den 1990er-Jahren, den Gründerjahren der Tschechischen Republik von heute, konzentrierte sich das öffentliche Interesse auf den Kapitalismus, auf die Wirtschaft und die Unternehmen. Was fehlte, war das Know-how, und das hatten entweder Experten von außen oder ehemalige Prominente – also die „die vorher schon hier klauten“, wie Karel Kryl es beschreibt. Diese Leute konnten im neuen Regime ungehindert und uneingeschränkt tätig werden, weil es eine Aufarbeitung der Vergangenheit vor ordentlichen Gerichten in Tschechien nie gab. Das kritisiert Kryl in seinem Lied.

Wie ist es um das Verhältnis der Tschechen zur politischen Klasse des Landes heute bestellt?

Da hat sich im Lauf der Zeit nicht viel geändert. Die Tschechen sind skeptisch, glauben an keine Macht, finden jede Macht fremd und potenziell gefährlich. Schon, dass es das moderne Tschechien überhaupt gibt, geht auf einen Akt des nationalen Widerstands gegen Habsburg, Wien und die Deutschen im 19. Jahrhundert zurück. Das Misstrauen und die Bereitschaft zum Aufbegehren ist sozusagen Teil unserer Volksidentität. Und sie prägen auch immer noch unsere Politik, einschließlich unserer euroskeptischen Position in der EU. Da sind wir ganz das Volk des ungläubigen Thomas, wenn Sie so wollen. 

Ihr Roman hat einen ganz eigenen Sound: Da ist viel Poesie. Und eines der Hauptmotive, das sich durch das Buch zieht, ist die tiefe Sympathie für Menschen, die mal absichtlich, mal unabsichtlich und oft auch gegen ihren Willen in die Ereignisse des Pilsner Juni involviert werden – und darunter dann ein Leben lang physisch und psychisch zu leiden haben.

Schön, dass Sie das so sehen. Der Irrtum und der Schmerz passen zum 20. Jahrhundert. Und was Sie hier beschreiben und erkannt haben, ist der Teil der tschechischen Seele, der für mich so zerbrechlich und mutig ist. Ich bin immer sehr kritisch, wenn ich über die Tschechen spreche und nachdenke. Aber das Eine will ich jedesmal tun: mitfühlen. 

„Unsere ewige Tragödie besteht darin, dass wir nie merken, an welchem Punkt wir von Zuschauern zu Handelnden geworden sind“, sagt der Großvater einmal zum Enkel. Wie meint er das? Und was will er uns damit sagen? 

Auch die Passivität kann eine Tat sein. Auch das Schweigen kann eine Aussage sein. Und: Bevor wir handeln, sollten wir immer auch an die Folgen denken. Das ist Opas Haupt-Imperativ. Wir sind ja nicht allein. Es geht nie nur um uns. 

Das heißt aber auch, dass wir unser politisches Schicksal selbst in der Hand haben? Dass es gerade nicht Schicksal ist, sondern Ergebnis dessen, was wir bereit sind zu geben an Mut und Engagement, für Recht, Freiheit, Menschenwürde? 

Schicksal klingt für mich fatalistisch. Totalitär. Es ist ein Wort, das mit höheren Mächten rechnet, als wir selbst sind. Schicksal ist ein Alibi, hinter dem wir uns mit unserer Passivität verstecken können: „Wir können nichts mehr tun, das Schicksal wollte es so“, sagen wir dann. Da gehe ich nicht mit. Das akzeptiere ich nicht. Ich glaube an das Individuum, das aktiv und mit einem freien Willen ausgestattet ist, das Entscheidungen trifft, das Maßnahmen ergreift und das die Umstände ändern kann. Wenn wir es nicht tun, dann, weil wir Angst haben, faul sind, keine Kraft haben – aber nicht, weil es „Schicksal“ ist. Jedes Ereignis, sofern es nicht durch die Elemente der Natur verursacht wird, beginnt mit der Entscheidung des Einzelnen. Es ist klar, dass dies eine große Verantwortung ist und Mut erfordert – vor allem, wenn ich gegen die Mehrheit der Gesellschaft handeln soll. Aber man kann es tun. Sophie Scholl hat es getan, die Männer, die Heydrich getötet haben, haben es getan. Das war kein Schicksal. Das waren Heldenakte des freien Willens.

Aktuell erleben wir, dass Demokratie und Rechtsstaat keineswegs Selbstläufer sind. Wie hat es Ihrer Meinung nach dazu kommen können, dass sich Autokraten wie Victor Orbán in Ungarn oder Jaroslaw Kaczyński in Polen den Staat zur Beute machen können?

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Demokratie moderner Prägung in Mitteleuropa keine große Tradition hat. 20 Jahre Demokratie und Kapitalismus seit 1989 waren noch nicht vorbei, als die Menschen während der Wirtschaftskrise 2008 begannen, den globalen Kapitalismus zu fürchten und an der Demokratie zu zweifeln. 20 Jahre waren leider eine zu kurze Zeit, als dass Polen und Ungarn eine starke Beziehung zu dem System hätten entwickeln können. In der Tschechoslowakei, besser gesagt in der Tschechischen Republik und der Slowakei, hatte die Demokratie zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg immerhin schon einmal funktioniert. Ungarn und Polen haben diese Geschichte nicht. Im Gegenteil: Die Herrschaft einer starken Autorität ist Bestandteil der historischen DNA beider Länder. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchien regierte Marschall Pilsudski in Warschau und Regent Horthy in Budapest. Das waren keine liberalen Demokraten. Die Haltung und der Erfolg von Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński mögen beunruhigend sein. Überraschend kommen sie nicht. Es ist nur die Fortsetzung dessen, wie in Polen und Ungarn auch früher schon Macht ausgeübt wurde.

Die Übernahme des Staates durch eine Partei wie Orbans Fidesz oder Kaczyńskis PiS ist ein Weg in die illiberale Demokratie. Ein anderer, so die Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Ireneus Pawel Karolewski, ist die Machtübernahme durch Unternehmen. So habe zum Beispiel (Ex-)Premier Andrej Babiš aus Tschechien eine „pseudoliberale Oligarchie“ gemacht. Richtig?

Das kann man so sagen. Der Erfolg von Andrej Babiš beruhte auf der Tatsache, dass die Tschechen den Politikern nicht trauen, genauso wenig wie der Macht, aber sie mögen unpolitische, bürokratische Kabinette. Babiš stellte seine Regierung daher als eine Regierung von Experten vor. Businessman, der er ist, versprach er, „den Staat wie eine Firma zu führen“ – technokratisch, effizient, zentral und an Profit orientiert. Dieses Versprechen mag rechts erscheinen, aber in Wirklichkeit ist es quasi-kommunistisch. Der Slogan vom Staat als Firma betont die Wirtschaft – als Basis, ohne Überbau. Da sind wir bei Marx. Und von „technischer Planung“ oder „Ingenieursplanung“ war auch schon in der Zeit des kommunistischen Wirtschaftens ständig die Rede. Diese Begriffe wirkten wie Trigger – und Babiš gewann so mit Leichtigkeit die Unterstützung der Älteren und der Ostalgiker, die in der Tschechischen Republik eine große Wählergruppe bilden.

Babiš soll sich in seiner Zeit als Premier persönlich bereichert haben. Es geht dabei um Abermillionen, die Rede ist von Subventionsbetrug, zuletzt wurde sogar seine Immunität aufgehoben. Trotzdem bekam er bei der Wahl im Oktober die meisten Stimmen. Wie ist das zu erklären?

Babiš’ Hauptkonkurrent bei den Wahlen war eine Rechtskoalition und rechtsgerichtete politische Parteien haben bei den Tschechen nicht den besten Ruf – vor allem wegen der Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen, die sie während der Krise 2008 durchführten und die in Teilen unsozial waren. Im Gegensatz dazu hat die Regierung Babiš eine sehr großzügige Sozialpolitik betrieben. Die Wähler, die keine Wiederholung der Sparpolitik wollten, unterstützten deshalb den Premier und seine Partei ANO. Dazu wurde Babiš im Wahlkampf als paternalistischer Politiker dargestellt und spielte auch die aniteuropäische und Flüchtlingskarte – genau wie Orbán. Die Tschechen ticken größtenteils isolationistisch, ihr privates Glückchen und Wohlbefinden geht ihnen über alles und sie leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen. Deshalb funktionierten auch die Versprechen, dass Babiš sie beschützen würde.

Obwohl er die meisten Stimmen holte, wollte nach der Wahl niemand mit Andrej Babiš regieren. Stattdessen soll nun ein Mitte-Rechts-Bündnis aus fünf Parteien Tschechien aus der „Gesundheits-, Wirtschafts- und Wertekrise“ („Der Spiegel“) führen. Kann, wird das gelingen?

Man sollte da keine überzogenen Erwartungen haben. Fünf Parteien bilden die Regierungsmehrheit im Parlament, während die Opposition hauptsächlich aus einer einzigen Partei besteht – der ANO von Andrej Babiš. Und dann gibt es noch eine fremdenfeindliche, autoritäre Partei. Dies ist kein stabiler Start. Die neue Regierungskoalition mag zwar mit einer Stimme sprechen. Aber es gibt Themen, bei denen sie sich nie wird einigen können: Die Homo-Ehe, der Euro, die Wirtschaftsregulierung, das Verhältnis zur Europäischen Union. Während vier der fünf Regierungsparteien dem europäischen Projekt positiv gegenüberstehen, ist die fünfte Partei eher europaskeptisch und stellt den Premierminister. Das wird mindestens anstrengend. 

In den 1990er-Jahren herrschte politisch in Europa eine Stimmung von Aufbruch und Euphorie, gerade die Staaten aus dem Osten drängten in die EU. Jetzt sind es vor allem Polen und Ungarn, die die Idee eines europäischen Bundesstaats und der Wertegemeinschaft durch einen neuen Nationalismus und die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien sabotieren. Wie soll Europa darauf reagieren?

Die Situation ist äußerst komplex, denn die Regierung ist nicht dasselbe wie das Volk – und etwaige Sanktionen gegen Ungarn und Polen können auch Bürger treffen, die die Regierungen in Budapest und Warschau nicht unterstützen. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Ich stelle mir einen Club vor, der ein neues Mitglied aufnimmt. Der Neuankömmling war an einer Mitgliedschaft interessiert, sie kam ihm gelegen, und er versprach, sich an alle Regeln und Grundsätze zu halten. Doch nach einer Weile beginnt er, die Regeln zu brechen, die Toleranz der anderen Mitglieder zu missbrauchen und ihnen sogar zu drohen, dass der Club geschwächt wird, wenn sie ihn ausschließen. Doch der Verein ist bereits geschwächt – wegen ihm. Und jetzt? Wenn die Wähler in Ungarn und Polen wiederholt eine Partei und ihre Politik unterstützen, die die Grundsätze der Europäischen Union ablehnt, wollen sie offensichtlich nicht in der Europäischen Union sein. Und wenn das so ist, müssten beide Länder die EU verlassen und sich einen neuen Club suchen. Die Herausforderung für die Bürger eines jeden Landes besteht darin, sich darüber klar zu werden, was sie wollen, und sich dann gemeinsam darauf zu verständigen. 

Apropos: Was ist eigentlich aus dem Geist der Bürgerbewegungen in Osteuropa geworden?

Westeuropa sieht Osteuropa immer noch durch die Brille von 1989. Aber das war eine Ausnahmesituation. Wir sind nicht die geborenen oder begeisterten Revolutionäre. Im Gegenteil: Veränderungen machen uns schnell müde – und dann sind wir überrascht, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Der Enthusiasmus weicht der Skepsis. Und wir fangen an, zu murren.

Können Proteste wie die für eine unabhängige Justiz und freie Medien, gegen ein restriktives Abtreibungsrecht oder die menschenverachtende  „Stop LGBTQ“-Gesetzgebung den Regierenden in Polen und Ungarn gefährlich werden?

Ich erwarte nicht, dass sich etwas ändert, wenn nur große Städte danach streben – und wenn nur dort demonstriert wird. Wir wissen, dass Städte globalisiert, kosmopolitisch und fortschrittlich sind, aber damit der Wandel nachhaltig und dauerhaft ist, muss auch die Peripherie ihn unterstützen. Und auf dem Land ist man bekanntlich viel konservativer. Was mir Sorgen bereitet, ist das Verhältnis zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Das gilt für den gesamten Westen, nicht nur für Mitteleuropa. Die Lebensweisen gehen auseinander, der Konsens schwindet, die Unterschiede werden größer – und der Konflikt wird durch eine unverantwortliche populistische Politik verschärft. In einer Situation, in der zum Beispiel in Ostpolen mittelalterliche „LGBTQ-freie Zonen“ entstehen, ist es richtig zu protestieren. Aber ich weiß nicht, wirklich nicht, wer die Demonstranten hören soll, wenn wir einander fremd sind und die Unterschiede immer größer werden.

Die Slowakei und Tschechien arbeiten unter dem Dach der „V4“, der so genannten Visegrád-Staaten, mit Polen und Ungarn zusammen. Was ist davon zu halten? Geht es auch der Slowakei und Tschechien um mehr nationale Souveränität?

Nationale Souveränität ist kein Schimpfwort. Sie ist eine notwendige Variable, die einen Staat zu einem Staat macht, und wir sollten diesem Konzept nicht skeptisch gegenüberstehen, nur weil Populisten einen Fetisch daraus gemacht haben, um Wähler zu ködern. Auch die Idee der regionalen Zusammenarbeit ist nicht falsch – und die V4 hat in den 1990er Jahren die mitteleuropäischen Staaten vereint, die der Europäischen Union und der NATO beitreten wollten. Am Anfang stand also der Gedanke der konstruktiven Zusammenarbeit und das ist auch der Grund für die tschechische Teilnahme an der V4. Es geht Tschechien nicht um mehr nationale Souveränität, sondern um die Zusammenarbeit kleinerer Länder – und die Stärkung der Verhandlungsposition in der EU. Es stimmt, dass die V4-Mitgliedschaft dem tschechischen und slowakischen Image derzeit schadet, weil die V4 zu einer egoistischen Gruppe geworden ist, die zu oft „Nein“ und nur gelegentlich „Ja“ sagt. Die Partnerschaft mit der Slowakei ist jedoch natürlich und „familiär“, darüber müssen wir nicht diskutieren. Und es gibt nur wenige andere Optionen für eine Partnerschaft in der mitteleuropäischen Region als Polen und Ungarn – obwohl ich selbst zum Beispiel nicht verstehe, warum es nicht mehr Zusammenarbeit mit Österreich gibt.

Steuert die EU nach dem Brexit auf weitere Zerreißproben zu? 

Das glaube ich nicht, denn die Menschen in Polen und Ungarn sind mit der EU-Mitgliedschaft zufrieden. Und wenn es nicht zu einem schweren Konflikt zwischen den nationalen Regierungen und Brüssel kommt, wird auch nichts passieren. Und wenn doch? Eine eventuelle Neuaufstellung der EU muss keine Gefahr oder Bedrohung sein. Die Europäische Gemeinschaft hat sich seit den 1940er Jahren entwickelt, und es wäre illusorisch zu glauben, dass sie jemals einen Endzustand erreichen wird, dass sie „fertig“ ist. Geschichte schreitet fort. Die Situation mit Polen und Ungarn ist ein Stresstest, ja, aber die Demokratie wird jeden Tag auf die Probe gestellt. Wir müssen uns jeden Tag aufs Neue darauf verständigen, dass wir als Bürger interessiert sind an ihr. Wir werden sehen, wie die Polen und Ungarn bei den nächsten Parlamentswahlen abstimmen – und wofür sie sich interessieren. 

Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in der EU? Soll Deutschland mehr Verantwortung übernehmen, mehr Bereitschaft zur Führung zeigen, wie das manche Partnerländer immer wieder fordern? Erleben Sie die Deutschen als entschlossen? Oder als mutlos und zögerlich? 

Meine Kenntnisse reichen nicht aus, um die EU-Politik Deutschlands zu beurteilen. Aber es stimmt, dass die tschechischen Medien Angela Merkel als die faktische Leiterin der EU wahrgenommen haben. Viele Tschechen sahen das genauso. Unsere Sichtweise wird jedoch durch die Tatsache beeinflusst, dass Deutschland nicht nur unser größter Nachbar, sondern auch unser größter Handelspartner ist. Weil die Bundesrepublik für uns lebenswichtig ist, kann es sein, dass wir ihre Bedeutung überbewerten. Das ist eigentlich egozentrisch, denn damit überschätzen wir auch – in Bezug auf die gegenseitigen Bindungen – uns selbst.

Was können wir als Zivilgesellschaft tun, um zu verhindern, dass Europa den Bach hinunter geht?

Ich fürchte, meine Antwort auf diese Frage ist weder neu noch revolutionär. Wir müssen an das europäische Projekt glauben und uns daran erinnern, dass es geschaffen wurde, um uns vor Krieg zu schützen. Wir müssen neugierig sein und die Europäische Union als ein vielfältiges Ganzes sehen. Die Union steht für die Idee eines Kontinents, der in Frieden zusammenarbeiten will. Unsere Aufgabe ist es daher, zusammenzuarbeiten und zu fragen: Wer bist du? Wie sieht dein Leben aus? Was können wir gemeinsam tun, damit es uns gut geht? Das sind ganz normale Fragen. Jeder kann sie stellen. Und genau das haben wir in diesem Gespräch getan.

Vratislav Maňák, Jahrgang 1988, studierte Journalismus und Medienwissenschaften an der Karls-Universität in Prag und arbeitet heute beim Tschechischen Fernsehen als Redakteur des Nachrichtenportals ČT 24. Bereits für seinen ersten Band mit Erzählungen erhielt er 2012 den Jiří Orten-Preis. Dieser Tage erscheint in Tschechien eine Sammlung von Kurzgeschichten Maňáks, in denen er sich mit Themen wie der Flüchtlingskrise, dem Populismus, dem religiösen Fundamentalismus und der Ablehnung des Anderssein auseinandersetzt. Ob und wann der Band in Deutschland erscheint, steht noch nicht fest